Django und das Mörderschiff

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Django und das Mörderschiff
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Heinrich-Stefan Noelke

Django und das Mörderschiff

Diese Sammlung stellt alle meine Kurzgeschichten zusammen, die im Laufe der Jahre in verschiedenen Krimi-Anthologien veröffentlicht wurden.

Heinrich-Stefan Noelke wurde 1955 im westfälischen Versmold geboren. Er ist gelernter Metzger, studierter Betriebswirt, hat in Frankreich, England und Spanien gearbeitet und später in Deutschland die Geschäfte eines Wurst- und Fleischverarbeiters geleitet.

Seit 2008 lebt er mit seiner Familie in Osnabrück und widmet sich dem Schreiben.

Mehr Information zum Autor unter www.hsnoelke.de.

Dieses Buch ist fiktiv. Handlungen und Personen sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen wären rein zufällig. Vieles kommt dem Autor sehr bekannt vor, aber wie in jeder guten Geschichte ist nichts davon tatsächlich geschehen.

Django

und das

Mörderschiff

Kurze Geschichten

mit kriminellem Hintergrund

Heinrich-Stefan Noelke

Impressum

Texte: © Copyright by Heinrich-Stefan Noelke

Umschlag: © Copyright by Heinrich-Stefan Noelke

Verlag: Heinrich-Stefan Noelke

Ziegeleistraße 5

33775 Versmold

hsn@hsnoelke.de

Druck: epubli - ein Service der neopubli GmbH,

Berlin

Sünne Peider oder ein tiefes Schweigen

Als die Kellnerin fragte, was er trinken möchte, zog Thomas unschlüssig die Schulter hoch, denn er wollte hier nur sitzen. Sie lächelte und nickte. An manchen Tagen war er mundfaul und froh über jedes Wort, das er nicht sprechen musste. Er half sich dann mit Gesten, Blicken und Gebrumme, und er kam erstaunlich weit damit, wirklich. Sie entschied sich für einen Espresso und lächelte erneut, als sie ihn brachte. Ein warmes Lächeln, das ihr sehr verputztes Gesicht zum Leben erweckte.

Thomas hatte sich gleich an den ersten Tisch gesetzt und betrachtete jetzt die funkelnden Lichter des Jahrmarktes durch die Scheibe der Eisdiele. Nur noch wenige Menschen kamen in dicken Mänteln vorbei und zeigten Interesse für die Verkaufsstände. Bald war es Zeit, dass die Karussells schlossen, damit auch die Kneipen ihren Umsatz machten. Schon als kleiner Junge hatte Thomas hier gesessen und dem Treiben zugesehen, abgesetzt von wechselnden Kindermädchen, die manchmal im Wohnwagen eines Fahrgeschäftes verschwanden, der Freirunden wegen.

Thomas war hier auf die Welt gekommen: in Versmold am Rande des Teutoburger Waldes. Jedes Jahr Ende Februar wird in der Stadt die Jahrmarktsaison für die ganze Region eröffnet und die Eisdiele schließt sich an. ‘Sünne Peider’ heißt der Markt, ‘Sankt Peter’.

Die Kellnerin blickte erneut fragend zu Thomas und der schaute unentschlossen zurück. Sie nickte resolut und brachte freundlich einen weiteren Espresso.

Auf dem Flachdach gegenüber tauchten ein paar betrunkene Halbwüchsige auf. Ihr Atem dampfte in der eiskalten Luft. Sie begannen, die Leute auf der Straße anzupöbeln und Flaschen hinunterzuwerfen, die auf dem Asphalt zerschellten wie reife Birnen.

„Wenn ihr nicht sofort da runterkommt, ihr Arschlöcher, dann gibt es bei uns Hausverbot, und zwar für lange! Ich kenne euch!“ Die Kellnerin stand im Eingang und – eben noch bissig wie eine Schlange, lachte sie sofort wieder. Die Jugendlichen trollten sich. „Die verletzen sich am Ende selbst, betrunken wie sie sind“, sagte die Kellnerin zu Thomas.

Mühsam verzog auch er seinen Mund. Er glaubte sich kaum zwanzig Jahre älter als sie. Ihr Parfum hing in der Luft, es war zu süß. Alle seine Sinne waren hellwach, aber er bekam den Mund nicht auf und schämte sich dafür.

„Mach Platz, Alter!“ Die Jugendlichen waren vom Dach gestiegen und setzten sich feixend neben ihn. In solchen Momenten spürt man ein Ziehen an den Genitalien, das nur langsam nachlässt. Thomas stand auf und zahlte. Einer der Halbwüchsigen spuckte an ihm vorbei durch die Tür hindurch bis auf die Terrasse. Thomas hatte dessen Bild am Morgen in der Zeitung gesehen. Er trug eine hellgelbe Pudelmütze, dafür kannte man ihn. Der Junge und seine Freunde hatten sich den Tag zuvor mit anderen zu einer Prügelei auf dem Jahrmarkt getroffen.

„Ich heiße Barbara“, rief ihm die Kellnerin nach.

Draußen durchdrang ein Gestank nach Zuckerwatte die kalte Luft. An seinem üblichen Platz gegenüber der Sparkasse stand das Riesenrad. Es bot einen Blick über die Dächer der Stadt, mehr nicht. Mit dem bisschen Licht wirkte es inmitten des umgebenden Blendwerks wie ein schwarzes Loch. Die Musik lieh es sich von den umstehenden Karussells.

Andreas saß müde in seinem Glashaus hinter der Kasse und machte die Abrechnung. Er war der Sohn eines Arztes in der Stadt und in jungen Jahren der Liebe wegen bei den Ausstellern geblieben. Thomas besuchte ihn täglich, wenn Jahrmarkt im Ort war. Sein Freund lebte in dieser Welt aus Alkohol, Vergnügen und keifendem Wettbewerb. Vor Jahren schon hatte er das Riesenrad gekauft.

Andreas lächelte ihm zu, als Thomas die Stufen zu der kleinen Plattform erklomm, auf der sonst die Fahrgäste warteten. Thomas setzte sich auf das Geländer. Aus der Dunkelheit heraus schaute er sich die Lichter an. Das Lied, das nebenan gespielt wurde, kannte er, aber der Titel fiel ihm nicht ein.

Vielleicht würde es morgen schneien. Es sah ganz danach aus. Sein Blick blieb dort hängen, wo sich sein Bauch unter dem Mantel gegen den Gürtel presste.

„Hei!“ Andreas brachte ihm eine Flasche Bier und setzte sich neben ihn. „Kommt keiner mehr. Hast du von der Schlägerei gelesen? Die haben wir schnell verjagt, was? Hat richtig blutige Köpfe gegeben.“ Schweigend tranken sie.

„Warst du dabei?“

Andreas antwortete nicht.

„Wie hältst du das nur aus, das Leben?“, sagte Thomas.

„Ich brauche nichts auszuhalten. Das lebt sich ganz von alleine.“

„Manchmal habe ich Angst. Ich will mich ja wehren, aber dann wird alles schlimmer.“

„Du musst zuschlagen. Manchmal ist zuschlagen das Beste.“

„Ich kann nicht zuschlagen“, sagte Thomas.

Andreas nahm schlürfend einen Schluck. „Das geht auch“, sagte er. „Dann musst du es aushalten.“

Sie tranken das Bier zu Ende. Thomas schaute zu, wie Andreas die Lichter löschte, und sie verabschiedeten sich bis zum nächsten Jahr. In der Nacht noch würden die meisten Karussells abgebaut werden, damit man die Straßen säubern konnte.

Wieder im Licht stand Thomas vor einem Tapeziertisch, über den hinweg eine Frau mittleren Alters Töpferwaren verkauft hatte, die sie jetzt zusammenpackte. Ihr Atem kam in Wolken und die Mütze über dem üppigen Haar hatte Ohrenklappen. Um besser arbeiten zu können, trug sie Handschuhe, die die Finger freiließen. Viele der Krüge, Schalen und Figuren standen auf dem Boden und der mutmaßliche Ehemann der Frau ging, schnaubend und mühsam seine schweren Stiefel von den Gefäßen fernhaltend, zwischen ihnen hindurch. Er erblickte Thomas und hielt einen Moment inne, um dann im Dunkeln zu verschwinden.

„Helfen Sie mir!“

Thomas sah sich um und kam widerstrebend näher. Man meinte ihn.

„Helfen Sie mir! Er wird gleich zurückkommen und ich habe Angst, dass er in seiner Wut unsere Ware zertritt.“

Stumm nahm Thomas einige der Schalen und reichte sie der Frau, die sie sofort einpackte. Langsam verschwand das meiste in Kartons. Die Frau arbeitete zügig und konzentriert. Sie schien entschlossen, die Atempause zu nutzen, während Thomas ihr kaum schnell genug die Ware reichen konnte. Zu viel stand noch unverpackt, als der Ehemann zurückkam. Thomas richtete sich auf und stand mehr zufällig zwischen ihm und seiner Frau. Er hatte begriffen, dass sie weniger Angst vor dem Mann hatte als um ihre Ware. Weniger offensichtlich war, wie der Ehemann auf fremde Männer reagieren würde, die seine Frau beschützten.

Sie hatte ihren Mann ebenfalls bemerkt. Einen Moment lang schien die Stille die Jahrmarktsmusik verscheuchen zu können.

„Lass die Ware in Ruhe!“

Der Mann war kaum größer als Thomas, aber jünger. Die schulterlangen blonden Haare und die Bartstoppeln gaben ihm das Aussehen eines gealterten Hippies, und die Lammfellweste passte dazu. Der Mann stand ganz dicht vor Thomas, der nicht umhinkonnte, den säuerlichen Geruch nach Schweiß einzuatmen.

„Lass den Mann in Ruhe!“

Der Ehemann wartete, schaute ihm ruhig in die Augen und rührte sich nicht. Auf Thomas‘ Gesicht machte sich der friedliche Ausdruck breit, den man bei Leuten findet, die die Gewalt über ihren Schließmuskel zu bewahren suchen. Jeder unglückliche Windstoß, so schien es, konnte den Mann dazu veranlassen, sich auf ihn zu stürzen.

Bis die Frau sich still entfernte. Da war es plötzlich, als ob der Mann lächelte. Das Gesicht vor Thomas’ Nase nahm den gebührenden Abstand ein und entspannte sich.

„Sie ist weg!“, sagte der Mann. „Lauf zu! Ich räum das hier auf.“ Er gab Thomas einen Schlag auf die Schulter, drückte seine Hand und führte ihn vorsichtig durch die Gefäße.

Kopfschüttelnd, die Hände tief in den Manteltaschen und den Kragen hochgestellt, wollte Thomas nach Hause stapfen. Es war spät genug. Er schwieg immer noch, aber jetzt schien es passend und nicht mehr fremd, eine annehmbare Geisteshaltung. Im Rinnstein fand er einen Schraubenzieher, den jemand verloren hatte, und steckte ihn in seine Manteltasche, damit sich niemand daran verletzen konnte.

Aushalten, hatte Andreas gesagt.

Drei von den Jugendlichen, die er in der Eisdiele getroffen hatte, kamen ihm entgegen. Einer spuckte Thomas ins Gesicht, ein anderer rempelte ihn hart mit der Schulter an.

 

Thomas blieb einen Moment stehen, sah sich um, rieb sich den Arm und wischte sich die Spucke weg. Die Jugendlichen sahen ihn böse an, machten aber keine Anstalten, ihn anzugreifen. Sie waren zufrieden mit sich. Thomas erkannte den Jungen aus der Zeitung, den mit der gelben Mütze.

Da ging er einfach weiter, als wolle er sich in seinen Gedanken nicht stören lassen. Die Kellnerin kam ihm in den Sinn. Kurz entschlossen änderte er seine Pläne und ging zurück zur Eisdiele, um sie mit neuem Mut anzusprechen.

Sie hatte den Boden gefegt und war fertig zum Gehen.

„Soll ich dich nach Hause bringen? Es ist kalt und die Kerle von vorhin laufen in der Stadt herum.“

„Sollen musst du nicht“, sagte sie fröhlich, „aber dürfen darfst du.“ Sie zog einen warmen Mantel an und hakte sich bei ihm unter. „Warum sprichst du nicht?“

„Ich spreche doch.“

„Ja, aber nur so zugeklebt. Man versteht dich kaum.“

„Wenn ich rede, dann verstehen die Leute mich noch weniger“, sagte Thomas.

Sie lachte und rief: „Ach was! Komm, ich wohne am Stadtrand. Fast im Bruch.“ Das ist ein Naturschutzgebiet, um das heftig gestritten wird, weil es die Stadt nach Südosten hin fast isoliert. Vögel wohnen dort.

Leute kamen die Straße hinuntergerannt. Wieder die Jugendlichen, Kinder noch, verfolgt von ein paar Erwachsenen, die nicht schnell genug waren. Aus der anderen Richtung zerschnitt ein Martinshorn die Nacht, grelles Blaulicht zerrte dunkle Ecken für Sekunden in den Bereich der unabsichtlichen Wahrnehmung. Ein Rettungswagen fuhr vorbei, dann die Polizei, Sekunden nur, nachdem sie alarmiert worden waren. Man hatte sich gut vorbereitet. Was soll man auch sonst tun?

„Das Riesenrad!“, rief Barbara. „Dem Andreas ist etwas passiert!“

Sie kannte Andreas. Sicher aß er ab und zu ein Eis bei ihr.

„Er hat sich gestern in die Prügelei eingemischt.“

Sie zwängten sich durch die Leute, die vor dem Riesenrad standen. Der warme Geruch des menschlichen Lebens mischte sich mit der kalten Luft. Von unten zog es ihnen feucht die Beine hoch.

„Ein Messerstich“, hörte Thomas rufen. Er sah nichts. „Man hat ihn mit dem Messer erstochen.“

„Aber nein“, rief jemand anderes. „Er lebt noch. Sonst würde man ihn nicht in den Krankenwagen laden.“

Dann sah er ihn. Andreas war auf eine Trage geschnallt. Ein Sanitäter hielt die Infusionsflasche am langen Arm in die Luft. Sehr professionell das alles. Blaulichter schnitten die Szene wieder und wieder aus der Dunkelheit heraus. Die Frau von der Lokalpresse war zur Stelle und machte ihre Bilder. Auch sie war bereit gewesen. Ihr Foto würde am nächsten Morgen die ganze Veranstaltung überschatten, das war ihr Beruf. Auch Passanten hatten die Handys gezückt, obwohl es kaum genug Licht gab.

Andreas schlug kurz die Augen auf, als man ihn an Thomas vorbei trug, und griff nach dessen Hand.

„Es ist überall das gleiche“, sagte er.

„Aber warum?“, fragte Thomas.

„Das wissen wir nicht“, sagte einer der Sanitäter. Andreas nickte zustimmend.

All das soll man aushalten. Thomas drängte Barbara aus dem Licht heraus. Er wollte nicht zu den Gaffern gehören.

„Das waren die Jungs“, sagte Barbara.

Thomas nickte. Kinder, die nicht wissen, was sie tun.

Der Stand mit den Töpferwaren lag nur ein paar Meter weiter. Die Frau saß auf dem kalten Boden neben ihrem Mann. Die Mütze mit den Ohrenklappen hatte sie abgesetzt, die Haare waren nun ganz wirr. Dem Mann hatte man den Kopf verbunden. Eine klaffende Wunde, die Lammfellweste war blutverschmiert. All die schönen Gefäße waren zerschlagen. Ein Baseballschläger aus fein gemasertem Holz lag zwischen den Scherben. Auch in den Kartons hatten sie so gewütet, dass größtmöglicher Schaden angerichtet worden war.

„Der Andreas“, sagte die Frau, als sie Thomas erblickte, „der hat uns helfen wollen.“

Thomas bückte sich, um ein paar Scherben aufzuheben, aber die Frau scheuchte ihn unwirsch weiter. Eine Bewegung ihrer Hand schickte ihn fort.

„Komm!“ Barbara zog ihn mit sich.

Die Straßen, durch die sie jetzt gingen, waren leer bis auf einige Schausteller, die ihre Stände zusammenpackten. Die Stadt lebt von den vielen Wurstfabriken, die hier zu Hause sind. Im Zentrum findet sich ein hübscher Brunnen, der ein paar Schweine zeigt und einen Fleischer mit seinen Würsten. Dort lungerten noch ein paar Betrunkene herum. Thomas reichte ihr seine Hand und Barbara nahm an. Die Fenster in allen Häusern waren schwarz, als ob sie sich abwendeten. Nirgendwo ein Licht. Die Schritte hallten von den Häusern wider. Die beiden folgten der Berliner Straße stadtauswärts und kamen so bis an den Friedhof.

„Hier lang“, sagte Barbara. „Hier müssen wir durch, sonst ist es ein riesiger Umweg.“ Sie folgten einem asphaltierten Weg, der sich durch die Gärten und an der Friedhofshecke vorbei wand. Über ihnen spannte sich ein weiter Himmel voll heller Sterne. Die Luft schien hier kälter zu werden, ob aus den dunklen Gräbern oder vom platten Land her, das dahinter lag, ließ sich nicht sagen. Thomas griff ihre Hand ein wenig fester und Barbara lächelte ihn an.

„Mit mir haben die Kerle auch noch eine Rechnung offen“, sagte sie, „aber keine Angst, ich habe Pfefferspray dabei. Das ist legal, keine verbotene Substanz.“

Am Ende des Weges, dort, wo sie fast das Licht erreichten, stand jemand und wartete.

„Da sind sie“, sagte Barbara. „Sie wissen jetzt wohl, welchen Weg ich nehme. Moment ...“ Sie suchte in der Handtasche nach dem Pfefferspray, während der Schatten ihr den Gefallen tat, zu warten. „Hier ist es!“

Vor dem Licht am Ende des Weges fanden sich jetzt weitere Schatten zusammen und hinter den beiden konnte man Schritte hören. Die Hecken rechts und links waren zu hoch und auch jetzt im kahlen Winter zu dicht gewachsen, um sie zu überwinden.

„Kann es sein“, sagte Barbara, „dass die hier wohnen?“

Thomas sprach weiter kein Wort. Das flaue Gefühl in seinem Gedärm wich einer dumpfen Wut, die ihm viel besser gefiel. Sie hat schwarze Segel, die man setzen und in den Wind zerren kann. Das waren doch Kinder, die dort warteten, Halbwüchsige, keine Männer!

„Ihr Arschlöcher!“, begann Barbara unflätig wie schon früher am Abend. „Für euch gibt es nie wieder ein Eis in der Stadt!“ Sie ging direkt auf die Gestalten zu, ihrem Pfefferspray nach, Thomas folgte ihr.

Das Gas schien in der kalten Luft zu gefrieren und bewirkte nichts als ein amüsiertes Gemurmel unter den Lumpen. Es bildete sich eine kleine Pfefferwolke, weit genug von ihnen entfernt, die sofort zu Boden sank und sich auflöste, bevor sie Schaden anrichten konnte. Der Kreis um Barbara und Thomas schloss sich, der Junge mit der gelben Pudelmütze trat hervor. Er trug einen Baseballschläger, holte kurz aus und rammte ihn Barbara in den Bauch, sodass sie zusammenklappte wie eine Marionette und stumm zu Boden fiel. Der Junge spuckte auf sie, als sie am Boden lag, das schien ihm besonderen Spaß zu machen.

Die Lumpen ließen jetzt ab. Sie zogen sich höhnisch lachend zurück. Thomas sah sich unschlüssig um. Es war niemand zu sehen, der ihm helfen würde.

Schließlich setzte er den Jungen nach. Ein paar Schritte nur, und er fasste dem Anführer an die Schulter.

Der Junge drehte sich um: „Was willst du?“ Er schien überrascht.

Da zog Thomas den Schraubenzieher aus seiner Tasche und rammte dem Jungen das Metall bis zum Heft in den Hals. Die anderen Gestalten wichen zurück, als ihr Anführer zu Boden sank, und verschwanden im Dunkel. Der Junge griff sich an den Hals, röchelte und blieb dann spastisch zuckend liegen. Thomas spuckte auf ihn, wie er es gelernt hatte, und kümmerte sich um Barbara.

Minuten später nur wimmelte es von Rettungskräften und Polizei. Man versorgte erst den Jungen, dann die verletzte Frau. Nach und nach kehrten immer mehr der Jungs in das grelle Licht zurück, das den Weg jetzt erhellte. Sie weinten meist und waren außer sich. Das hätten sie nicht gewollt.

Thomas wurde verhaftet und erkennungsdienstlich behandelt. Zwei oder drei der Halbwüchsigen besaßen keinen deutschen Pass, deshalb spekulierten die Zeitungen am nächsten Morgen über fremdenfeindliche Motive auf der einen oder anderen Seite. Kann ja sein.

Thomas schwieg jetzt wieder. Er schwieg auch, als man ihn ins Gefängnis warf. Er schwieg für sehr lange Zeit.

Die Idee zu dieser Geschichte kam mir Ende Februar 2003. Ich saß spät abends in der Eisdiele meiner Geburtsstadt Versmold. Damals eine wirkliche Institution der Stadt. Jenseits der Schaufensterscheibe drängten sich die Leute im Dunkeln, um von der Kirmes nach Hause zu gehen. Ein paar Jungs tobten im Alkoholrausch. In den USA stand George W. Bush kurz davor, den dritten Golfkrieg zu beginnen, und ich war in der Stimmung, um über die Frage zu grübeln, wie mit der allgegenwärtigen Gewalt umzugehen sei. Die Geschichte war ursprünglich genau halb so lang, wie sie jetzt ist. Thomas sollte sich fast demütig fügen. Er sollte keinen Krieg beginnen. Doch später hatte ich das Gefühl, er müsse noch einmal zurückgehen. So wurde es stimmig. 2008 wurde der Text vom Pendragon Verlag in der Anthologie MORDWESTFALEN veröffentlicht.

Heiligendamm 1: Üffes lernt Schlachten

All die Touristen und auch ein paar Ortsansässige starrten fassungslos auf die Bushaltestelle, an der die Leute in Börgerende aussteigen, wenn sie dort zum Strand wollen. Ein trister Betonverschlag bietet Schutz vor schlechtem Wetter, innen hellblau gestrichen und hellgrün beschmiert. Die hintere Ecke links war verrußt, die rechte voller Blut. Jemand hatte ein Kaninchen geschlachtet, gegrillt und am Ende noch gegessen. Nur die Knochen waren übrig geblieben, ein paar Innereien und das Fell. Die Leute empörten sich und riefen die Polizei. Mitten im Ort!

„Da hatte jemand Hunger“, sagte ein Mann und erntete böse Blicke. Diese Sicht schien dem Fall nicht angemessen.

Das Gefährlichste an der Ostsee, so war es Marlene Brinkmann zunächst vorgekommen, ist der Nacktbadestrand schräg gegenüber dem Hotel. Es gibt hier keine Ebbe und keine Flut, die das Leben bestimmen. Die Fischerboote werden gerade so auf den Strand gezogen und dort vertäut. Man glaubt sich sicher: Da kommt nichts Böses von See.

Und tatsächlich: Es kommt von Land.

Marlene erkannte einen Jungen unter den Leuten und grüßte ihn mit erhobener Hand. Üffes war sein Name, sie hatte ihn tags zuvor kennengelernt, gleich nach ihrer Ankunft, als er ihr neues eBike bewunderte, ein Pedelec, in das man selbst ordentlich tritt um dafür elektrischen Rückenwind zu bekommen.

„Wie schreibt man deinen Namen?“, hatte ihn Marlene gefragt und ihm einen Zettel gereicht.

„Yves“ notierte der Elfjährige in einer schon recht eigenwilligen Handschrift. In der Schule habe er den Namen an die Tafel schreiben müssen, erklärte er, aber niemand hatte gewusst, wie man ihn aussprach. Als Lehrerin hatte Marlene herzlich gelacht. Der Junge machte ihr Spaß.

Jetzt kam er zu ihr herübergelaufen. „Haben Sie gesehen? Da hat jemand ein Kaninchen geschlachtet.“ Er gebot über ein sehr entwaffnendes Lächeln und sah ihr direkt in die Augen. „Ich suche in den Dünen. Vielleicht finde ich noch was anderes.“

Marlene ging nun ebenfalls. Sie hatte sich in einem gutbürgerlichen Strandhotel eingemietet, dem einzigen dieser Art im sonst bäuerlichen Börgerende. Ihr Urlaub von all den Kindern und deren Eltern hatte begonnen. Sie war mit einer Freundin verabredet, beide waren derzeit solo, aber Beate war noch nicht eingetroffen. Marlene wartete. Sie war halb verrückt vor Freude auf die gemeinsamen Tage und voller Pläne. Es war früher Morgen, der letzte Schultag in Mecklenburg, und sie plante ihren ersten Fahrradausflug. Sie trug einen dunkelblauen Rennanzug, von dem sich ihr fuchsrotes Haar leuchtend abhob, dazu Helm und Fahrradschuhe, was unter den eher schlicht gekleideten Leuten schnell auffiel. Marlene war Ende dreißig und hatte ein ernstes Gesicht, das ganz plötzlich zu reiner Freude und Herzlichkeit wechseln konnte. So, als geschähe das sehr bewusst.

Es hatte eine Woche lang fast pausenlos geregnet und der Boden war schlammig, er wollte kein Wasser mehr aufnehmen. Viele Straßen hatte man wegen Überflutung sperren müssen. Als sie sich nach einer guten Stunde auf dem Heimweg befand, waren die Wege am Ufer der Ostsee voll mit Menschen zu Fuß oder auf dem Rad. Man fuhr hintereinander her, was Marlene nicht leicht fiel, da ihr Pedelec schneller war als alle anderen. Sie hielt sich sehr zurück und vermied jedes Drängeln, aber vor geraumer Zeit schon hatte sie zu einem Paar aufgeschlossen, das vor ihr fuhr. Die Frau drehte sich mehrfach um und winkte sie schroff vorbei. Marlene verzichtete freundlich. Sie hatte es nicht eilig.

 

Zwischen Nienhagen und Börgerende kamen sie in den Gespensterwald. Ein enger Weg windet sich dort zwischen den Buchen hindurch. Es sind Windflüchter. Bis auf die Wipfel sind sie kahl. Sie beugen sich landeinwärts, weg vom Wind. Der Boden war stellenweise so schlammig, dass die Räder keinen Halt fanden. Alles eine Frage der Balance, aber nicht einfach zu fahren. Oft kamen ihnen Leute entgegen.

Schließlich erreichten sie eine besonders enge Stelle zwischen zwei Bäumen hindurch. Marlene hielt an. Die Frau vor ihr fühlte sich dennoch gedrängt. Sie kämpfte mit dem Gleichgewicht und musste abspringen. Sie trug hochhackige Sandalen, was zum Fahrradfahren nicht die beste Wahl ist. Bis zu den Knöcheln versank sie im Schlamm und raffte ihr langes Sommerkleid, die Beine darunter waren dicht behaart.

Marlene dagegen, tiefbraun gebrannt, stand aufrecht neben ihrem Pedelec. Beide hatten ungefähr das gleiche Alter.

„Unverschämt!“, schrie die Frau vor ihr und drohte mit der Faust. „Rücksichtsloses Drängeln!“ Sie heulte vor Wut, und fast sah es so aus, als wollte sie sich trotzig in den Schlamm setzen, um jede Vernunft zu verweigern. Sie wies auf Marlenes Fahrrad und rief: „Ein eBike, deswegen! Das ist unfair. Sie sollten sich schämen, uns so zu hetzen!“ „Fahren Sie!“, drängte der Mann von vorne und winkte Marlene zu. „Ich bitte Sie! Fahren Sie voraus.“

Marlene holte Schwung. Die Frau machte Anstalten, sich auf sie zu stürzen, aber der Mann wies sie zurück. So kam Marlene vorbei, und schnell war sie außer Sicht. Sie war sich keiner Schuld bewusst. Das Problem bestand eher im Kopf der fremden Frau, aber trotzdem beschäftigte sie der ärgerliche Vorfall auf dem Weg.

Als sie am Hotel ankam, standen die Leute immer noch an der Bushaltestelle, nur waren es jetzt weit mehr. Die Polizei war eingetroffen, und man hatte einen Leichenwagen zwischen den Dünen geparkt. Touristen in leichter Kleidung bildeten mit ihren Fahrrädern einen großen Kreis und sahen zu, wie die Einheimischen ihre Angelegenheiten regelten.

Üffes kam ihr entgegen. „Ich habe ihn gefunden!“, rief er stolz. „Er ist tot. Ein Penner lag im Seegras. Der war das mit dem Kaninchen.“ Die Polizisten hielten die Leute vom Schauplatz fern.

„Mein Gott!“, rief Marlene. „Das solltest du nicht sehen.“ Sie drückte seinen Kopf gegen ihre Brust.

„Was fällt Ihnen ein!“, hörte sie jemanden hinter sich sagen. „Was haben Sie mit meinem Sohn zu schaffen?“

Es war die Frau aus dem Wald.

Üffes löste sich aus Marlenes Umarmung. „Er ist tot, Mama“, rief er und seine Augen strahlten. „Vielleicht ist es Mord gewesen.“

Sie gab ihm eine Ohrfeige und schickte ihn nach Hause. „Du sollst dir so etwas nicht ansehen“, rief sie. „Das Böse steckt an. Du darfst nicht hinsehen.“

„Nicht hier, Sophie“, sagte der Mann und schämte sich ganz offensichtlich für seine Frau.

„Guten Tag Frau Jürß“, mischte sich eine junge Stimme ein, in der eine gewisse Autorität mitschwang. Ohne ein weiteres Wort schwang sich Sophie Jürß auf ihr Rad. Ihr Mann folgte.

„Gerhard“, begrüßte Marlene den jungen Mann. Was machst du denn hier?“ Sie kannten sich vom Studium her. Gerhard Bischoff war Lehrer an der Schule in Rethwisch, das mit Börgerende eine Ortsgemeinschaft bildet. In Rethwisch stehen auch die gemeinsame Kirche und der Kindergarten.

„Die Leute sind etwas eigen hier“, erfuhr Marlene. Das war ihr schon aufgefallen. Der Ort beschränkt sich auf Häuser beidseits einer gut sechs Kilometer langen Straße, die in fast rechtem Winkel zur Ostsee verläuft. Das schränkt die Zahl der Nachbarn ein und macht den Weg zum Bäcker weit. Zwischen die beiden Gemeindeteile Rethwisch und Börgerende hat man Ortsein- und -ausgangsschilder gestellt.

„Ich nenne es Burger-Ende“, sagte Gerhard und lachte. „Man isst hier Backfisch. Es ist ein alter Fischerort.“ Er freute sich, Marlene zu sehen.

Gerhard wies auf den Leichenwagen. „Das kommt mir sehr ungelegen“, sagte er. „Heute ist letzter Schultag. Die Kinder kommen erst zur vierten Stunde, um die Zeugnisse zu empfangen. Wir haben uns etwas Besonderes ausgedacht als Abschluss der Projektwochen zur Steinzeit: Ein Bauer wird ein Kaninchen schlachten. Die Kinder sollen lernen, woher das Fleisch kommt, das sie essen.“

„Ist das eine kluge Idee?“, fragte Marlene. „Zwei Kaninchen an einem Tag?“ Gerhard zuckte die Schultern. „Ob es klug ist, weiß ich nicht. Es ist richtig.“ Die Kinder müssten nicht zusehen, sie dürften sich wegdrehen. Nur dabei sein sollten sie, um die Bedeutung des Tötens zu spüren. Und morgen seien alle eingeladen, das Tier gemeinsam zu grillen. Ob sie zusehen wolle?

„Beim Schlachten?“, fragte Marlene.

„Auch“, sagte Gerhard.

Ihr Smartphone wies auf den Empfang einer SMS hin. Kann nicht kommen!, schrieb Beate.

Wütend drückte Marlene die Nachricht weg.

„Wann soll ich in der Schule sein?“, fragte sie.

Gerhard freute sich.

Marlene zog sich mit einem guten Buch auf ihr Zimmer zurück. Als es Zeit war, duschte sie, legte ein dezentes Make-up auf und zog ein Kleid an, das sich für eine Lehrerin geziemt, dann fuhr sie zur Schule.

Die meisten Kinder lärmten fröhlich, einige beäugten die fremde Frau voller Neugierde. Marlene sah Sophie Jürß, die ihren Sohn zur Schule brachte und ihm vor dem Schulhof noch einmal die Haare kämmte, was dem Jungen sehr missfiel.

„Und sieh nicht hin!“, drängte sie ihn. Dann begann sie, unruhig vor dem Tor hin und her zu laufen. Üffes sah Marlene und winkte ihr zu. Sie folgte ihm und fand so den Klassenraum. Gerhard erwartete sie und stellte ihr Bauer Hess vor, der ein riesiges Kaninchen in einem Käfig bei sich trug.

„Stell dir vor“, sagte Gerhard, „es soll Mord gewesen sein. Der Obdachlose von heute Morgen. Man hat ihm den Schädel mit einem Stein zertrümmert, während er seinen Rausch ausschlief.“ Dann stellte er ihr das Kaninchen vor. „Das ist Peter. Ein Belgischer Riese. Wir haben ihm bewusst einen Namen gegeben, damit die Kinder ein Verhältnis zu ihm aufbauen können.“ Das Tier war so groß wie ein kleiner Hund.

Der Direktor der Schule betrat den Raum und begrüßte Marlene. „Die Kinder müssen lernen, dass der Strom nicht aus der Steckdose kommt“, erläuterte er. „Dass das Holz nicht im Baumarkt wächst, das Fleisch nicht in der Verpackung und dass Schuld ein Preis ist, den wir zahlen. Wer sonst soll es ihnen beibringen, wenn nicht wir in dieser Schule auf dem Lande?“

Es läutete und die Kinder strömten herein. Peter verkroch sich ängstlich in eine Ecke des Käfigs. Gerhard und der Direktor stellten Bauer Hess der Klasse vor und erläuterten das Ziel der Stunde. Dann durften die Schüler nach vorne kommen und das Tier streicheln. Man wies sie an, es nicht zu erschrecken, was sehr schwierig war, denn Kinder sind ungestüm.

Schließlich forderte der Direktor mehr Respekt. Bauer Hess erklärte den Kindern, wie Kaninchen gezüchtet und aufgezogen werden. Vor dem Schlachten sei es notwendig, dass die Tiere sich beruhigten, weil Stress chemische Prozesse in Gang setze, die schlecht seien für Geschmack und Qualität des Fleisches.

Marlene sah durch das Fenster Sophie Jürß, die weiterhin vor dem Tor auf und ab ging, nur hielt sie nun ein Handy am Ohr. Auch Üffes sah seine Mutter dort stehen und reagierte unerwarteter Nervosität.

Gerhard erklärte, dass man das Tier jetzt töten werde. Das geschehe mit einem Schlag der Handkante in das Genick. Völlig unblutig. Das Kaninchen spüre nichts und sei sofort tot, da jeder Informationsaustausch mit dem Gehirn unterbunden werde. Kein Schüler sei gezwungen, sich das anzusehen, man dürfe sich abwenden.

Niemand befolgte den Rat. Alle sahen mit offenem Munde zu, wie Bauer Hess das schwere Tier an den Hinterläufen hochhob. Es hing ganz ruhig und schien nichts Böses zu ahnen, als der große Mann ihm mit einem gezielten, kraftvollen Schlag das Genick brach.