"Wenn Du absolut nach Amerika willst, so gehe in Gottesnamen!"

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From the series: Das volkskundliche Taschenbuch #42
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Lienhards Erinnerungen an die Jahre nach der Konfirmation zeigen, dass er sich sehr wohl mit der Landwirtschaft verbunden fühlte, dass ihm aber die herkömmliche Art und Weise, wie der Vater sie betrieb, wenig Anreiz bot: «Mein Vater hielt durchaus nichts auf Neuerungen, sondern liess alles beim Alten, mochte es zweckmässig sein oder nicht. Denn so hatte er eine Sache betrieben, ebenso sein Vater und noch gar viele andere Leute, und diese waren doch auch keine Narren. Diese Neuerungen taugen wenig oder nichts; recht tüchtig drauflos arbeiten, das war die rechte Art, damit kann man nur sein Leben machen. Dass der Mensch, der doch von Gott mit gesunder Vernunft erschaffen ist, diese zu seinem und seiner Mitmenschen Vortheil und Verbesserung der Lage nach besten Kräften und Vermögen verwenden sollte, scheint mein Vater nicht recht begriffen zu haben.»

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Heinrich wollte Neues lernen und moderne Methoden ausprobieren. Ein Zeichen in dieser Richtung setzte er im Juli 1841, als er an einem Sonntagmorgen um vier Uhr aufstand und nach Glarus marschierte, um sich dort ein Buch über Landwirtschaft zu kaufen.

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 Den Kopf voll neuer Ideen, kehrte er nach Hause zurück, und «Simon Strüf» weckte nicht nur seine lebenslange Leidenschaft für den Obstbau, sondern sollte ihn später auch nach Amerika begleiten und ihm dort gute Dienste leisten: «Ich war jetzt der glückliche Besitzer eines guten und nützlichen Buches, und ich benutzte jeden Moment, um daraus zu lesen und zu lernen, denn es handelte über fast jeden Zweig der Landwirthschaft. Gar viel war über Obstbauzucht daraus zu lernen. Ich lernte daraus Okuliren, auch einige Pfropf- und Kopulirmethoden. Im Herbst gieng ich an das Putzen unserer alten Greise von Fruchtbäumen. Alles Moos und überflüssige alte Rinde musste herunter, und die überflüssigen alten, zum Theil drockenen Äste wurden ebenfalls heruntergesägt. Wenn wier junge Bäume pflantzten, machte ich die Gruben vier Fuss Durchmesser und zwei Tiefe, legte die obere, bessere Erde auf eine und die untere, schlechtere auf die andere Seite der Grube. War der Grund schlecht, so suchte ich diesen durch Bessern theils zu ersetzen, machte mit dem bessern Grund einen Hügel in der Mitte der Grube und setzte den zu pflantzenden Baum auf denselben. Den Wurzeln des jungen Baumes gab ich so viel als möglich die Form eines Rades, füllte die beste und feinste Erde zwischen dieselben, pflanzte um so tiefer, als sie früher gestanden, gab ein gerader Pfahl, füllte auch die schlechtere Erde in die äussern Seiten der Grube, so dass der äussere, schlechtere Grund den innern, bessern um einige Zoll überragte. Waren die Wurzeln dann mit Grund ein wenig bedeckt, goss ich langsam mit einer Giesskanne ringsherum so lange Wasser, bis der feinere und bessere Grund sich zwischen den Wurzeln hinein gesenkt und sich an dieselben angelegt hatte. Kamen einzelne der Wurzeln dadurch wieder zum Vorschein, wurden diese abermahl mit feinem, gutem Grunde gedekt, dann wieder begossen und endlich noch Einmahl mit feiner Erde bedekt. Dann wurde der Baum an den Pfahl gebunden, der Grund während des Sommers locker und rein vom Unkraut gehalten, und ich war stehts sicher, dass gesunde, junge, auf diese Art behandelte Bäume kräftig wuchsen.»

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An abendlichen Freizeitvergnügen für Jugendliche bestand damals nach Lienhards Worten kein grosses Angebot. Die jungen Männer spazierten durch die Dorfgassen, unterhielten sich mit Streichen oder inszenierten Raufereien. Heinrich ging einige Male mit, langweilte sich aber bald und zog es dann vor, zu Hause zu bleiben. Daran vermochte auch der junge Nachbar nichts zu ändern, der ihn eines Tages warnte, er werde auf diese Weise bald als Sonderling angesehen und es heisse bereits jetzt von ihm, er sei «ein Kerl wie ein alter Mann»

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. Abwechslung fand er unter anderem beim Musizieren. Der ältere Bruder hatte ein Jahr vor Heinrichs Konfirmation geheiratet,

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 und seine junge Frau besass eine Zither. «Dieses Instrument verstand sie ordentlich zu spielen, und bald spielte sie meine Schwester auch, doch beide konnten die Zitter nicht richtig stimmen, welches ich aber für sie that, nachdem sie mir gezeigt, wie es zu thun sei. Natürlich fing ich dann auch bald an selbst zu spielen und überholte damit in kurzer Zeit sowohl meine Schwägerin als meine Schwester; und diese Zitter vertrieb mir denn auch einen grossen Theil von meiner langen Weile.»

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An Sonntagen unternahm er gerne Wanderungen entlang der Linth oder in den Glarner Alpen: «Ich hatte ein besonderes Verlangen, etwas Neues zu sehen, aber neue Landschaftsbilder, von denen es in den heimatlichen Bergen so viele gibt, hatten einen besondern Reiz für mich.»

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 Regentage verbrachte er wenn möglich in der Werkstatt, wo er sich am liebsten mit Holzarbeiten beschäftigte. Er reparierte alte Geräte und bastelte Neues, überlegte und tüftelte, bis das Gewünschte – von der Mausefalle über den Hornschlitten bis zum Drechselstuhl – Form annahm und funktionierte. Als eines Tages die Treppe vom Wohnzimmer in den Keller für unsicher erklärt wurde, anerbot er sich, eine neue zu zimmern, wenn der Vater ihm dazu die nötige Zeit in der Werkstatt gebe. Nachdem Heinrich die Arbeit beendet hatte, trugen sie die Treppe gemeinsam in den Keller, «aber Oh weh – sie stand ein klein wenig schief, welches mich so ärgerte, dass ich augenblicklich sie mit der Axt

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 in Stücker schlagen wollte. Aber mein Vater gebot mir, dass ich mich dessen nicht unterstehe, denn die Treppe sei ganz gut, und das bisschen Schiefsein hätte nichts zu bedeuten. Zirca 8 bis 10 Jahre späther, als ich wieder einmahl aus Amerika zurück kam, vertrat die Treppe noch immer gute Dienste.»

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Als Heinrich siebzehn Jahre alt war, beteiligte er sich an den freiwilligen Exerzierübungen, die Oberst Schindler für angehende Rekruten in Bilten durchführte. Im Jahr darauf, 1840, nahm er erstmals an den militärischen Vorübungen in Oberurnen teil, die jeder Rekrut zu absolvieren hatte, und zwar während dreier Jahre jeweils eine Woche im April. Er absolvierte diese Ausbildung mit Begeisterung: «Für mich waren diese militärischen Vorübungen ein grosses Vergnügen, und ich glaube kaum, dass irgend einer auf dem Platz zu finden gewesen wäre, der mehr Vergnügen an unsern Übungen empfunden hätte als ich. Ich lernte dabei recht ordentlich, und ich kann dreist sagen, ohne zu prahlen, dass ich im letzten Jahr einer von den am weitesten Vorangeschrittenen war. Ich hatte mehr als Einmahl Schwenkungen komandirt und ausgeführt, welche einer unserer jungen Instrukteure vergebens auszuführen versuchte. Solches konnte natürlich nur geschehen, wenn der Major nicht zugegen war, indem es sonst unserm jungen Instruktör als solchem hätte schaden können. Dieses waren meine glücklichsten Tage in meiner alten Heimath, welche aber leider nur zu schnell vorüber gehend waren.»

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Die Beziehung zum älteren Bruder blieb auch in den Jahren nach der Konfirmation gespannt, umso mehr, als Peter nach dem frühen Tod seiner Frau ins Elternhaus zurückgekehrt war. Zum einen gestaltete der grosse Altersunterschied von gut neun Jahren das Verhältnis zwischen den Brüdern schwierig, zum anderen scheinen sie auch in ihrer Art sehr verschieden gewesen zu sein; dies jedenfalls lassen einige Episoden vermuten, die Lienhard offensichtlich tief gekränkt hatten. Am meisten litt Heinrich, wie schon als Kind, unter der Parteilichkeit des Vaters, der bei Streitigkeiten, ohne nachzufragen, stets dem Älteren Glauben schenkte und die Rivalität der Brüder dadurch noch verstärkte. In dieser ungerechten Behandlung des Vaters liegt wohl auch Lienhards spätere Art begründet, bei einem Streit – ob selbst involviert oder nur um seine Meinung gebeten – den Hergang des Geschehens immer genau zu rekonstruieren beziehungsweise sich erzählen zu lassen, wenn nötig auch zweimal.



Als Erwachsener konnte sich Lienhard das Verhalten seines Vaters mit dessen eigener, besonders harten Jugend erklären. Kaspar Lienhard verlor als Ältester von fünf Geschwistern mit dreizehn Jahren seine Mutter,

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 und der Vater, der dem Kartenspiel verfallen war, sorgte mehr schlecht als recht für seine Kinder. «Daher kam es denn wohl auch», glaubt Lienhard, «dass unser Vater, da eine freudlose Jugend durchgemacht,

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selbst keinen richtigen Begriff von einem gutgeordneten Familienleben hatte. Er war hart, ohne es eigentlich zu wollen, er war einseitig, ohne dass er es beabsichtigte.»

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 Für den älteren Bruder findet Lienhard keine versöhnlichen Worte dieser Art.



Zukunftsweisend für Heinrich Lienhard waren Erlebnisse wie an jenem Abend, als er von der Feldarbeit nach Hause kam und der grosse Bruder ihn aufforderte, ihm zu helfen, einen grossen Stein wegzuwälzen. Heinrich antwortete ihm, dass er zuerst kurz ins Haus wolle, ihm danach aber helfen werde. Obwohl er sich beeilte, wurde er, als er aus dem Haus trat, von Peter schroff abgewiesen, da diesem inzwischen der jüngere Bruder Kaspar geholfen hatte. Beim Abendessen beklagte sich Peter über Heinrichs mangelnde Hilfsbereitschaft, worauf ein heftiger Streit entbrannte: «Ich antwortete, dass ich ihm doch habe helfen wollen, und erzählte, warum ich nicht sogleich helfen konnte, allein mein Bruder sagte, dass ich lüge, worüber ich sagte, dass er lüge, und nicht ich. Die nächste Antwort war ein Schlag von ihm auf mein Gesicht, welchen ich erwiderte, allein da er natürlich viel stärker war als ich, wurde ich von ihm erfasst und auf die Stubetiele geschmissen. Meine Schwester hörte ich sagen: ‹Das ist Recht!›, meine Mutter mahnte zur Vernunft, aber mein Vater nahm mich nichts weniger als sanft und schmiess mich vor die Hausthüre hinaus! Das war die Behandlung, die mir zu Theil wurde, die Gerechtigkeit, die mir wiederfuhr – weil ich das Herz hatte, eine freche Lüge von meinem Bruder als solche zurück zu weisen und einen Faustschlag mit einem Faustschlag, wenn auch schwächern, zurück zu geben.

 



Verzweiflung hatte sich meiner nahezu bemächtigt, und ich weiss nicht, was ich gethan haben würde, wenn ich meine liebe, unvergessliche Mutter nicht gehört hätte, wie sie zu Vernunft mahnte, zum unparteiischen Untersuchen der Sache. Ich begab mich in das Gebüsch, von da in das obere, dem Vater gehörende Haus, mich fortwährend mit Gedancken der schlimmsten Art beschäftigend. Bald wollte ich an die Lint eilen, um meinem misserablen Dasein ein Ende zu machen, oder ich wollte doch wenigstens fortlaufen, weit, weit hinaus in die fremde Welt, zu fremden, unbekannten Menschen – schlimmer glaubte ich es nirgends zu bekommen. Längere Zeit wandelte ich umher, aufgeregt und bis ins Innerste gekränkt; dann und wann sah ich empor zu dem herrlichen, vom Monde und den Millionen von Sternen beleuchteten Himmel: Wie herrlich war die Pracht und die Ruhe der Nathur, wie sehr verschieden von meinen Empfindungen!»

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 Als seine Mutter ihn endlich fand, erklärte er ihr, dass er die ungerechte Behandlung nicht mehr länger ertragen könne und deshalb fort wolle von zu Hause. «Natürlich beredete die Mutter mich, wieder ins Haus zu kommen, und ihrem mahnenden, vernünftigen Zureden schreibe ich es zu, dass ich mich jene Nacht nicht vom elterlichen Hause trennte.»



Lienhard harrte in jenen Jahren nur seiner Mutter zuliebe auf dem Ussbühl aus. Sie war kränklich, und er wusste, dass auch sie unter der Art des Vaters litt. Deshalb wollte er ihr jetzt, da er bald erwachsen war, zur Seite stehen, wie sie es in seiner Kindheit so oft für ihn getan hatte. «Unsere Mutter besass ein viel klaarerer Verstand richtigeres Begriffsvermögen», urteilt er rückblickend, «und ihr Einfluss und Ansicht waren ein Segen für uns Alle. Leider wollte der Vater ihren überlegenen Ansichten sehr oft nicht beipflichten, indem er sich dadurch seiner vermeinten männlichen Würde abbruch zu thun glaubte. Dadurch geschah es, dass seine Unternehmen manchmahl verkehrt ausfielen, wofür er aber doch lieber nicht die Schuld auf sich nehmen wollte, wenn ihm von der Mutter seine Missgriffe gezeigt wurden. Bei solchen Gelegenheiten gab es dann einigen Zwist zwischen den Eltern, und der Vater konnte sogar Ungerecht und Grob gegen die Mutter werden. Nahmen wir Kinder mehr die Partei mit der Mutter, welches Grösstentheils geschah, weil wir sie auch am meisten im Rechte glaubten, so erbitterte es den Vater dann nur noch mehr, und er wollte selten Gründe annehmen oder hören, bis sein Zorn nachgelassen hatte.»

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Heinrich Lienhards zehn Jahre älterer Bruder Peter (*1812) mit seiner dritten Frau Christina Blumer (*1831) von Nidfurn. Die drei Kinder Christina, Dorothea, und Caspar stammen aus seiner zweiter Ehe mit Dorothea Ackermann von Kerenzen (1821–1848). Peter Lienhard wanderte in den 1850er-Jahren mit seiner Familie nach Brasilien aus.



Heinrich war bereits achtzehn oder neunzehn Jahre alt, als er es einmal wagte, dem Vater energisch ins Gewissen zu reden. Vorausgegangen war ein heftiger Wortwechsel zwischen den Eltern, in dessen Verlauf der Vater die Mutter mit beleidigenden und kränkenden Ausdrücken beschimpft hatte: «Ich frug den Vater, ob er mit seinen ungerechten und unverdienten Zänkereien mit der Mutter uns ein Beispiel geben wolle, wie sich gute Eltern miteinander vertragen sollen. Er bete viel und alle Tage und wolle christlich Handeln, ich könne aber in seinen Zänkereien gegen die Mutter wenig christliches Betragen erblicken. Oder ob er vielleicht lieber hätte, dass die Mutter sterben sollte? Wenn das der Fall sei, so glaube ich, dass er sein Ziel allerdings leicht erreichen werde, denn es habe ihm ja früher schon einmahl ein Arzt gesagt, dass, wenn er seine Frau bald Tod sehen wolle, er sie nur recht zu ärgern brauche, so werde er bald am Ziel sein.»

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 Zu seinem Erstaunen hörte ihm der Vater ganz ruhig zu, und seine Worte sollten ihre Wirkung nicht verfehlen: «Ich freue mich jetzt noch, mir sagen zu dürfen, dass mein Vater nachher niemahls mehr Hart und Beleidigend gegen die Mutter war, ja er erzählte mir sogar nach der Mutter Tod einmahl, dass er meine Mahnung sehr zu herzen genommen und beschlossen habe, in Zukunft die Mutter besser zu behandeln. Und er hatte es treulich gehalten.»

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An einem Abend im Dezember 1841 erschien ein Knecht von Barbaras Schwiegervater auf dem Ussbühl und berichtete, Barbara sei recht krank und wünsche sich, dass die Mutter nach Schänis käme.

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 Vergeblich versuchten der Vater und die Söhne, die Mutter davon abzuhalten; schon am folgenden Tag begab sie sich zu Barbara, wo sie mehrere Wochen blieb und ihre Tochter gesund pflegte. Nach ihrer Rückkehr auf den Ussbühl geschah, was alle befürchtet hatten: Die Mutter erkrankte ebenfalls am sogenannten Nervenfieber

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. Heinrich pflegte sie hingebungsvoll und war untröstlich, mit ansehen zu müssen, wie sie Schmerzen litt und mit jedem Tag schwächer wurde. Auf die drängenden Fragen des Vaters und der Kinder eröffnete ihnen der Arzt schliesslich, dass keine Hoffnung mehr bestehe. Gegen Ende delirierte die Mutter oft, und die Phasen, in denen sie ansprechbar war, wurden immer seltener. Die Schilderung dieser letzten Wochen am Bett der schwer kranken Mutter ist ein sehr persönlicher Abschnitt des Manuskripts; sie bringt die Liebe und grosse Dankbarkeit zum Ausdruck, die Lienhard für die Mutter empfand und sein Leben lang bewahrte.



Am 30. Januar 1842, einem Sonntag, blieb Heinrich, als die Besucher sich für kurze Zeit aus dem Krankenzimmer entfernten, allein bei der Mutter zurück und fragte sie: «‹Liebe Mutter, kennt Ihr mich noch?› Sie öffnete ihre Augen, blickte mich freundlich an und antwortete: ‹Ja, Du bist ja mein lieber Heinrich!› Ich konnte kaum Worte hervorbringen, doch wollte ich sie noch Einiges fragen; aber es waren ihre letzten lieben Worte gewesen, und sie war wieder in Schlummer verfallen, und ihr Puls gieng besonders schnell und laut.»

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 Nachdem sich die Familie wieder um das Bett versammelt hatte, starb die Mutter in Heinrichs Armen. «Ich konnte meiner Gefühle kaum Herr werden», beschreibt er diesen Moment, «denn mir war es, als ob sich auch für mich auf dieser Welt alles aufgelöst habe und ich nun nicht mehr existiren könne, und ich glaube, hätte ich auf mein Wort ihr in die Ewigkeit folgen können, ich würde es gethan haben. Nachdem meine erste Aufregung etwas nachgelassen und ich meine Fassung einigermassen wieder erlangt hatte, da war mein Beschluss gefasst: ‹Ich reise nach Amerika›, sagte ich mir, ja ich sagte es offen!»

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Obwohl seine Entscheidung nun feststand, brachte er es nicht übers Herz, den trauernden Vater gegen dessen Willen zu verlassen. Kaspar Lienhard beschloss nach dem Tod seiner Frau, mit dem mütterlichen Erbe sein gesamtes Land den Kindern zu überlassen. Sie teilten es in vier möglichst gleich grosse Teile auf und verlosten diese untereinander. Am begehrtesten war das sogenannte «Heimatgut» mit dem Elternhaus, das lebenslanges Wohnrecht für den Vater und für die unverheirateten Söhne einschloss. Das Los entschied für Peter, und für Heinrich war klar, dass er von seinem Wohnrecht keinen Gebrauch machen würde. Er wollte deshalb die Zeit, bis der Vater seinen Reiseplänen zustimmen würde, für eine Berufslehre nutzen, setzte vorher aber noch ein deutliches Zeichen, indem er im Sommer das ihm zugefallene Land an einer Auktion verkaufte. Dabei spielte ihm der ältere Bruder einen letzten Streich: Obwohl der Vater Peter davor gewarnt hatte, bot dieser mit,

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 worauf sich der am Kauf interessierte Nachbar zurückzog. Später liess dieser Heinrich wissen, dass er ihm zweihundert Gulden mehr bezahlt hätte als der Bruder.



Noch im selben Jahr trat Heinrich kurz nacheinander zwei Lehrstellen an, denn er wollte unbedingt einen Beruf erlernen. «Dieses lässt sich leicht sagen», resümiert er seine Erfahrungen, «aber wer in Europa Lehrling sein muss, hat gewiss ein schöner Vorgeschmack von Sklaverei erhalten; mir kam es wenigstens so vor.»

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 Zuerst versuchte er es in der grössten Schreinerei von Wädenswil, wo schöne Möbel angefertigt wurden und ein halbes Dutzend Gesellen sowie drei Lehrlinge beschäftigt waren. Er vereinbarte mit dem zukünftigen Meister eine dreiwöchige Probezeit; würde er die Lehre danach definitiv antreten, sollte er sich für drei Jahre verpflichten und vierzig Taler Lehrgeld bezahlen,

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 anderenfalls der Familie drei Gulden Kostgeld für die Probezeit vergüten.



Die ungewohnte Arbeit in der Werkstatt war anstrengend, zudem lernte Heinrich schon bald auch alle anderen Pflichten des jüngsten Lehrlings kennen. Sie bestanden darin, «erstens dem Meister zu jedweder Arbeit zu Diensten zu sein, Zweitens das Wasser ins Haus tragen, Drittens der Frau Meister die Betten für alle Gesellen zu machen und die vielen schnellfüssigen Flöhe zu fangen helfen – ein Geschäft, wobei ich etwas Dumm und Langsamm war. Und endlich sollte ich, wenn der Meister nicht gerade dabei war, auch noch den jungen schwäbischen Lausbuben, welche sich als Gesellen über mich dünkten, allerlei Dienste verrichten und am Sontag auch noch sie Traktiren.»

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Dies alles entsprach nicht seinen Vorstellungen einer Lehrstelle, so dass er nach Ablauf der Probezeit dem Meister die drei Gulden Kostgeld bezahlte und erleichtert auf den Ussbühl zurückkehrte.



Den zweiten Versuch machte er bei Büchsenmacher Pfenninger in Stäfa. «Ich war immer ein Freund vom Schiessen und schöner Schiessgewehre»,

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 begründet er seine Wahl, und die dreiwöchige Probezeit verlief denn auch für beide Seiten zufriedenstellend. Das Wohnhaus mit Weinberg befand sich auf einer Anhöhe in schöner Lage, der Meister und seine Frau, die Tochter und die fünf Söhne, von denen der Älteste ebenfalls in der Werkstatt arbeitete, behandelten ihn freundlich, und auch die Kost liess nichts zu wünschen übrig. «Hätte ich da zögern sollen, einen Kontrakt zu schliessen? Ich sollte zwei und dreiviertel Jahre beim Meister bleiben und sollte eilf Dublonen Lehrgeld bezahlen; ich sollte dann aber zu keiner andern Arbeit verpflichtet sein als solche, die zum Erlernen des Büchsenmacher-Geschäft gehörenden. Die erste Hälfte des Lehrgeldes wurde sogleich bezahlt, die zweite Hälfte sollte nach Ablauf der halben Lehrzeit bezahlt werden.»

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In der Werkstatt machte er rasch Fortschritte und war begierig, Neues zu lernen. Der Meister zog aber ein gemächlicheres Tempo vor und fand die wiederholte Bitte seines Lehrlings, er möge ihm mehr zeigen, verfrüht. Heinrich vermutete allerdings, Pfenninger habe wohl eher befürchtet, es könnte ihn dadurch «zu sehr nach baldiger Freiheit gelüsten.»

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 So verrichtete er weiterhin die härtesten Arbeiten wie «Züge in neue Büchsenläufe zu ziehen, alte Züge zu erneuen und tiefer zu ziehen, Flintenläufe auszuschneiden und dergleichen, welches bedeutende Anstrengung erforderte, bei welchen Arbeiten ich förmlich dämmpfte.»

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Mit der Zeit stellte Heinrich fest, dass die kleinen Gefälligkeiten, um die er ab und zu ausserhalb der Werkstatt gebeten wurde, sich häuften. Er verstand zwar, dass es für ihn leichter sei als für die Frauen, Wasser aus dem Brunnen ins Haus zu tragen, störte sich aber trotzdem an dem Gedanken, sich für elf Dublonen Lehrgeld zweidreiviertel Jahre «als Wasserträger für die Familie»

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 betätigen zu müssen. «Aber ich suchte mich zu trösten und sagte mir, dass ich mir als Lehrjunge eine Kleinigkeit gefallen lassen müsse.»

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Er hackte Holz, half auf dem Feld und im Rebberg, und erst als ihn der Meister einmal aufforderte, Jauche umzuschöpfen, weigerte er sich, dessen Anweisung zu befolgen. «Ich war bereits an meiner Arbeit in der Werkstätte, da kam der Meister. Als er die mir befohlene Arbeit unverrichtet fand, sah er bald nach mir durch das Fenster, bald nach den Jauchen-Behältern und that sehr erzürnt. Um dass das Schlimmste sogleich kommen möge, stellte ich mich an das Fenster hin und sah ihm ruhig durch dasselbe zu. Ich erwartete, ungefähr so Freundlich angesprochen zu werden, als er mich durch seine Brille anschaute; ich hielt sein Blick aber ruhig stehend aus und erwartete ihn im nächsten Moment in der Werckstätte. Aber der Meister gieng ins Haus und hatte kein Wörtchen derwegen zu mir zu sagen.»

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Kurze Zeit später liess man ihn aber wissen, dass er im Frühjahr würde helfen müssen, mit dem Karst den Weinberg umzugraben, Jauche und Mist auszutragen und anderes mehr, worauf Heinrich erwiderte, dass er dies nicht zu tun gedenke. «Meine Lage wurde dadurch nichts besser», erinnert er sich, «weil ich mich weigerte, der gedungene Sklave zu sein, und ich war entschlossen, der Sache sobald als Möglich ein Ende zu machen. Amerika war nun entschieden mein Ziel, doch davon durfte ich einstweilen Niemanden etwas merken lassen.»

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Obwohl er Grund hatte, die Lehre abzubrechen, befürchtete er, der Meister könnte noch die zweite Hälfte des Lehrgeldes von ihm fordern. «Ich war damahls noch Unerfahren», stellt er rückblickend fest, «sonst hätte ich, ohne viele Umstände zu machen, mein Bündel geschnürt und mich dann bestens empfohlen, da der Kontrakt von des Meisters seite verletzt wurde, nicht aber von mir.»

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 Er legte sich einen Plan zurecht und schrieb dem Vater einen Brief, in dem er ihm die Situation darlegte und ihn bat, schriftlich von ihm zu verlangen, nach Hause zu kommen, um das von der Mutter geerbte Land zu übernehmen und selbst zu bewirtschaften. Er, der Vater, habe das Land nach dem Tod der Mutter an seine Kinder abgetreten, um davon befreit zu sein, und er könne mit Heinrich keine Ausnahme machen.



Die erste Antwort des Vaters fiel nicht nach Heinrichs Wunsch aus: «Mein Vater war kein Freund der Büchsenmacherei und hatte mir anfangs stark abgerathen, diese Profession zu erlernen, von welcher er ungefähr die selbe Achtung hatte, als wäre sie mit der Kesselflickerei auf einer Stufe. In seiner Antwort hiess es, ich hätte mir das Ding besser überlegen sollen, noch befor ich den Kontrakt unterzeichnet und das halbe Lehrgeld, Fünf und eine halbe Dublone, daran bezahlt. Jetzt solle ich womöglich zu bleiben suchen, Zwei und ein Viertel Jahre seien ja doch keine Ewigkeit etc.»

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 Heinrich antwortete dem Vater aber postwendend, dass er die Lehrstelle mit oder ohne seine Hilfe verlassen werde, selbst auf die Gefahr hin, die andere Hälfte des Lehrgeldes noch bezahlen zu müssen. Bald darauf traf der gewünschte Brief des Vaters doch noch ein. Heinrich gab ihn dem Meister zu lesen, worauf dieser erklärte, er wolle mit ihm nach Bilten gehen und persönlich mit dem Vater und den Geschwistern reden.



Der Besuch auf dem Ussbühl wurde auf einen Sonntag Anfang 1843 festgesetzt. «Es war noch Finster, als wir den Weg nach Bilten antraten. Es war ein frostiger Februar-Morgen, in den Strassen gab es noch an vielen Stellen Schnee und Eiskrusten. Der Meister lief sehr rasch und war fast immer um ein bis zwei Schritte voraus und stürzte ein paar Mahl nieder, wobei er sich ein wenig Wehe that und welches ich, wäre ich geneigt gewesen, ein Bisschen abergläubig zu sein, als für mich ein gutes Zeichen hätte betrachten sollen.»

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 Tatsächlich verlief der Besuch zu Hause ganz nach Heinrichs Wunsch, indem die Familie sich genau an seine Anweisungen hielt und Pfenninger schliesslich einsehen musste, dass die Sache nicht mehr zu ändern war.



Am folgenden Tag marschierte Heinrich mit Pfenninger zurück nach Stäfa, wo der Meister ihn noch einen grossen Haufen Holz sägen und hacken hiess. «Um keine Unzufriedenheit durch eine Weigerung hervorzurufen, gieng ich rüstig an die Arbeit, sägte mit verdopelter Kraft drauf los, und der grosse Haufe war Abends zum Erstaunen der ganzen Familie fertig, denn man hätte mir das gar nicht zugemuthet, dass ich soviel in einem Tag fertig bringen könnte. An Essen und Trinken wurde ich an diesem Tage behandelt wie während meiner Probewochen. Am nächsten Morgen hatte ich meine Kleider bald zusammen geschnürt und nahm endlich herzlichen Abschied, das heisst, ich verabschiedete mich herzlich Gern. Als ich Stäfa im Rücken hatte, fühlte ich wieder wie der Vogel in der Luft, und ich erreichte mein Vaterhaus bald Nachmittag.»

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Auf dem Ussbühl folgte eine schwierige Zeit, in der, so Lienhard, der Hausfriede nicht der beste war. Immer wieder versuchte er, dem Vater die Erlaubnis für die geplante Amerikareise abzuringen, denn ohne den väterlichen Segen wollte er das Elternhaus nicht verlassen. Aber der enttäuschte Vater, der seinem Sohn beim Abbruch der Lehre geholfen hatte im Glauben, dieser kehre nun endgültig nach Hause zurück, weigerte sich beharrlich, sein Einverständnis zu geben. Die alten Grundsatzdiskussionen nahmen ihren Fortgang, und das Reizwort «Amerika» gab Anlass zu vielen harten Auseinandersetzungen. Warum der Vater ihn nicht ziehen lassen wollte, war für Heinrich schwer zu verstehen: «Obschon ich entschieden der Ansicht war, dass mein Vater unter seinen Kindern mich damahls am wenigsten liebte (und dieser Ansicht bin ich jetzt noch), so glaube ich, dass er mich, gerade weil er mich doch auch lieb hatte, nicht so weit weg von ihm und der Heimath wissen wollte. Der Gedanke, was aus mir werden sollte, wenn ich unter fremden Leuten krank würde, schien ihn sehr zu quälen, und dass ich seinen derartigen Gedanken nicht gehörig Rechnung trug, schien ihm fast Räthselhaft.»

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Auch spontane Einfälle brachten nicht den gewünschten Erfolg: «Unseren fortwährenden desshalbigen Verdriesslichkeiten müde, meinte ich einst, den Vater damit zu erschrecken und vielleicht gefügiger für meine Amerika-Pläne zu machen, als ich drohte, wenn ich nicht nach Amerika könne, so werde ich heirathen. Aber das war dem Vater eben gerade Wasser auf die Mühle, denn sogleich war er damit einverstanden: ‹Thue das›, sagte er, ‹das ist das Gescheidteste, was Du thun kannst!› Ich sah mein Irrthum sogleich ein und erwiederte ihm, dass ich dazu noch viel zu Jung sei.»

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Dann kam ihm eines Tages unerwartet ein Bruder des Vaters zu Hilfe: «Nachdem Unkel Peter sich zu uns gesetzt und er einige Worte mit uns gesprochen hatte, wandte er sich plötzlich zum Vater mit der Bemerkung: ‹Bruder, Du zankst Dich immer mit deinem Jungen, nur weil er nach Amerika will. Lass ihm doch sein Willen, und lass ihn gehen! Wenn etwas Ordentliches aus ihm wirdt, wenn er einmahl Dort ist, so sollst Du darüber Froh sein; sollte er aber ein Daugenichts werden, so sei Du zufrieden, dass er so weit von Dir fort ist! Er hat eine gelehrige Hand, er wird wohl wie andere junge Leute dort auch sein Auskommen finden. Bruder Jakob und ich, wir Beide haben je ein Sohn in Amerika, und wir sind es zufrieden. Warum willst Du es denn deinem Heinrich absolut verwehren?›»

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 Die Übermacht von Bruder und Sohn scheint Kaspar Lienhard für einen Moment aus der Fassung gebracht zu haben, denn «halb Drotzig, halb Unwillig» wandte er sich an Heinrich mit den Worten: «Nun, wenn Du absolut nach Amerika willst, so gehe in Gottesnamen! Wenn es Dir dort gut geht, so bin ich auch damit zufrieden!»

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Reise nach Amerika 1843



Nach den erlösenden Worten des Vaters wollte Heinrich Lienhard keine Zeit mehr verlieren. Er wusste, dass sein Nachbar Jakob Aebli schon lange auf einen Begleiter wartete, mit dem er nach Neu-Schweizerland

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 in Illinois reisen könnte, wo Verwandte von ihm lebten. Unverzüglich überbrachte ihm Heinrich nun die gute Nachricht, dass sein Reisepartner gefunden sei. Gemeinsam legten sie das Abreisedatum auf den 24. August 1843 fest und begannen mit den Reisevorbereitungen. Aeblis Bruder war in einer Advokatur tätig und organisierte ihre Fahrt bis Le Havre durch die Agentur Rufli in Sisseln, Kanton Aargau. Später sollte sich zeigen, dass dies nicht nötig gewesen wäre: «Ich war damahls wie die meisten Erstlinge oder Grünlinge in solchen Dingen noch sehr Unerfahren. So viel fanden wir indessen spähter heraus, dass wir die Reise von Hause nach Havre vollkommen so billig und in viel kürzerer Zeit per Post auf viel angenehmere Art hätten machen können.»

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Die bevorstehende Reise von über zwei Monaten erforderte gute Planung, umso mehr, als sie sich bis nach Le Havre selbst verpflegen wollten und dies auf der Atlantik-Überfahrt von Zwischendeck-Passagieren ohnehin erwartet wurde. «Diese Ausrüstung, wenn sie nach damahliger Idee einigermassen für den Schiffsraum und selbst Verköstigung hinreichend sein sollte, verlangte von 30 bis 60 Pfund Käse, dürre Zwetschgen und dito Kirschen von Hause aus. Der Käse wurde dann an der Französischen Grenze versiegelt (blumbirt); solch versiegelter Käse durfte erst auf dem Meer angeschnitten werden. Für Federbetten auf dem Meere hatte Jeder auch selbst zu sorgen, dann noch eine küpferne Kochpfanne durfte nicht fehlen. Zwei bis vier vollständige Kleideranzüge, ein bis zwei oder Mehr Dutzend Hemden, ein oder zwei Dutzend Nastücher und wo möglich dito baumwollene und wollene Strümpfe nebst einer Flinte und einer Pistole und vielleicht eine Büchse, um sogleich den vielen Hirschen, Bären, Pänter und Büffel nach Ankunft in Amerika den Gar ausmachen

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 zu können, waren durchaus als Nöthig angesehen.»

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 Für den Transport lie