Abdullahs endliche Reise

Text
Read preview
Mark as finished
How to read the book after purchase
Font:Smaller АаLarger Aa

„Wie habt ihr das nur herausgefunden?“, machte er seiner Verwunderung Luft. Sie grinsten ihn an, und sein Informatiklehrer, Professor Dr. Juraj Kriwet, sagte: „Schließlich sind wir alle im selben Geschäft, Abdullah. Wir haben auch so unsere Tricks, um an Informationen ranzukommen. Oder hast du etwa gedacht, dass wir dich gehen lassen würden, ohne dich zu verabschieden?“

„Eigentlich habe ich mir schon insgeheim gewünscht, euch alle noch ein letztes Mal zu sehen“, gab Abdullah zu. „Aber ehrlich gesagt war ich auch froh, von dem ganzen Abschiednehmen verschont zu bleiben. Es ist einfach so, dass mir die Trennung von einem jeden von euch sehr schwer fällt. Wie soll ich da keine Emotionen zeigen? Aber einige von euch haben mich doch gelehrt, meine Gefühle im Zaum zu halten.“ Er seufzte tief. „Aber was soll ich sagen? Schon vorhin, als ich mich von meiner Mutter verabschiedete, gelang es mir nicht, meine Gefühle zu kontrollieren. Ich habe geweint.“

„Wir sind alle stolz auf dich“, entgegnete sein Kampfausbilder, ein alter Haudegen namens Weidenhausen, und legte ihm eine väterliche Hand auf die Schulter. „Du hast sogar in den schwierigsten Momenten immer Stärke gezeigt, mein Junge. Du hast immer allem standgehalten. Also sei mir jetzt bloß kein Weichei. Oder hast du etwa wieder die Hosen voll, so wie bei jedem Nahkampftraining gegen mich?“

Alle lachten, nur Abdullah nicht. Ihm war heute einfach nicht nach Lachen zumute. Also blieb er ernst und sagte: „Ich habe euch alle lieb und werde jeden einzelnen von euch vermissen. Ich habe nur einen Wunsch: Betet für mich, damit ich Erfolg habe und nicht alles umsonst war, was ihr mir beigebracht habt.

„Unsere Gebete sind mit dir“, sagten alle wie aus einem Mund.

„Und meine Gebete sind mit euch“, erwiderte Abdullah. Dann wandte er sich ab und begab sich langsam Richtung Schleuse, gefolgt von den beiden schwarz gekleideten Männern.

Am Ende des engen Korridors wartete ein älterer Mann mit einer auffällig dicken, schwarzen Hornbrille auf ihn. Er war groß gewachsen und sah in seinem weißen Anzug sehr gepflegt aus. Irgendwie kam der Mann Abdullah bekannt vor, obwohl er nicht hätte sagen können, warum.

Nun ja, ist ja eigentlich klar, dachte sich Abdullah. Mit den grauen Haaren und der dicken Brille sieht er ja irgendwie automatisch so aus, als wäre er in einer verantwortlicheren Position als die beiden Typen in Schwarz. Er wird sich mir schon vorstellen.

„Sei willkommen, Abdullah“, sagte da der Mann lächelnd und schüttelte Abdullahs Hand. „Ich bin Dr. Dale Gabriel. Ich arbeite für Professor Karimi. Um es genauer zu sagen, bin ich sein Assistent. Er hat mich gebeten, dich persönlich bei diesem Flug zu begleiten. Er wäre gerne selbst mitgekommen, aber andererseits verlässt er sehr ungern das Labor. Du weißt doch, wie wir alten Wissenschaftler so sind. Schließlich bist du ja inmitten einer Horde unseres Schlages aufgewachsen.“

„Freut mich, Sie kennenzulernen, Doktor“, entgegnete Abdullah. „Ich habe schon mein ganzes Leben lang von Professor Karimi gehört, aber ich hatte noch nie die Ehre, ihn persönlich kennenzulernen. Da wird es mir nicht schwerfallen, noch ein paar Stunden zu warten.“

„Ich verstehe schon“, sagte Dr. Gabriel, während er Abdullah von oben bis unten musterte. Es war, als würden seine Augen den jungen Mann durchleuchten.

„Du bist groß geworden“, fuhr er fort. Er lächelte immer noch. Man hätte es auch als ein Grinsen bezeichnen können. „Ich muss schon sagen, du hast dich genauso entwickelt, wie wir es erhofft hatten.“

Abdullah war ein sehr kluger junger Mann. Er brauchte nicht viel zu hören, um etwas zu begreifen. Doch in diesem Fall wollte er mehr herausbekommen und beschloss, nach Antworten zu graben. Er wollte sehen, ob es ihm nicht gelingen würde, mehr aus diesem mysteriösen Dr. Gabriel heraus zu kitzeln.

„Was meinen Sie damit? Haben Sie mich etwa schon einmal gesehen?“ fragte er, während sie sich gemeinsam Richtung Flugzeug begaben.

„Ja“, antwortete Dr. Gabriel auch prompt. „Professor Karimi und ich haben dich in der Tat schon des Öfteren besucht, Abdullah. Aber da warst du noch zu klein, um dich jetzt an uns zu erinnern. Du bist nicht zufällig hier, vergiss das nicht. Wir haben dich in den vergangenen Jahren nie aus den Augen gelassen. Du wurdest sogar immer wieder spontanen Prüfungen unterzogen, ohne dass du etwas davon gemerkt hättest.“

Dr. Gabriels Worte erschreckten Abdullah ein wenig. Er ließ sich aber nichts anmerken und spielte cool. Dem werde ich jetzt nicht den Gefallen tun und ihm noch weitere Fragen stellen, dachte er sich insgeheim. Er wird mir sowieso alles von sich aus erzählen, das spüre ich. Und nach dem, was ich in den letzten Jahren so alles über mich erfahren habe, kann mich sowieso nichts mehr überraschen.

Abdullahs plötzliches Schweigen führte dazu, dass sich Dr. Gabriel ihm noch einmal zuwandte. „Du hast dich genauso entwickelt, wie wir es uns vorgestellt hatten“, sagte er noch einmal.

Doch Abdullah reagierte wieder nicht. Sie waren inzwischen im Flugzeug angelangt. Bei der Maschine handelte es sich um den berühmt-berüchtigten Nurflügler NORTHROP F4, ein mit modernster Technologie ausgestattetes ferngesteuertes Flugobjekt.

Die ungewöhnliche Form des Flugzeugs war beachtlich. Im Vergleich zu der Militärversion war dieses GLOBEX-Modell größer und verfügte über einige luxuriöse Extras.

Das Flugobjekt sah so aus, als ob man die Fluggastkabine in die Flügel montiert hätte. Die Front war leicht gewölbt und komplett aus Glas. Die Sitze waren wiederum in Flugrichtung ausgerichtet, sodass man einen unbeschreiblichen Panoramablick genießen konnte. Auch in den Boden, unter den Füßen der Passagiere, waren zum Teil Glasplatten eingebaut. Man hatte also auch nach unten einen freien Blick. Abdullah hatte zwar schon von diesem Flugzeugtyp gehört, aber noch nie ein Modell aus der Nähe bewundern können, geschweige denn dass er in einem geflogen wäre.

Dr. Gabriel und Abdullah ließen sich in den luxuriösen, beigefarbenen Ledersitzen nieder. Sogleich ertönte aus den Lautsprechern ein Signalton, und eine freundliche Frauenstimme sagte: „Willkommen an Bord, meine Herren. Sie werden in genau neun Minuten und siebenundzwanzig Sekunden starten. Die reine Flugzeit nach New York beträgt zwei Stunden, einundvierzig Minuten und dreiunddreißig Sekunden.“

Abdullah tat weiterhin so, als ließe ihn die ganze Sache völlig unbeeindruckt. „Die Stewardess, nehme ich an“, sagte er lässig.

„Ich hoffe, du wirst es mir nicht übelnehmen, wenn ich nachher den Kaffee einschenke?“, entgegnete Dr. Gabriel mit einem weiteren Grinsen.

„Ich weiß, dass wir alleine sind“, gab Abdullah zu. „Aber ehrlich gesagt bereitet mir die Flugzeit ein wenig Kopfzerbrechen. In weniger als drei Stunden ans andere Ende der Welt? Das sind doch knapp zehntausend Kilometer, wenn ich mich nicht irre. Aber was soll‘s. Ich freue mich schon auf den Flug. Das wird bestimmt interessant.“

„Tja, die Technik macht‘s möglich, lieber Abdullah. Wegen des fehlenden Rumpfs ist die NORTHROP F4 gegenüber konventionellen Maschinen klar im Vorteil, was die Aerodynamik anbelangt. Dazu kommt, dass wir mit Hyperschallgeschwindigkeit fliegen können. Dank sei Gott, den neuen Antriebssystemen und der geringen Luftdichte! Die Letztere resultiert aus unserer ungewöhnlichen Flughöhe knapp unter der Atmosphäre, musst du wissen. Übrigens: Ich weiß, dass du körperlich fit bist, aber wenn du trotzdem etwas für deinen Magen nehmen willst, dann habe ich etwas dabei.“

„Ich denke, das wird nicht nötig sein“, meinte Abdullah. „Ich habe kaum etwas gegessen, und außerdem nehme ich an, dass bei so einer Geschwindigkeit die Scheiben abgedunkelt werden.“

„Da liegst du nicht falsch. Unsere Sauerstofftanks sind auch gefüllt, falls es dich interessiert. Aber lassen wir das alles jetzt. Ich habe wirklich wichtigere Dinge mit dir zu bereden. Schnall dich bitte an und hör mir gut zu.“

„Jetzt bin ich aber mal gespannt, was Sie zu erzählen haben“, entgegnete Abdullah. „Aber eines können Sie mir glauben: Egal, was Sie mir erzählen, mich kann nichts mehr überraschen.“

Aus Dr. Gabriels freundlichem Dauergrinsen wurde ein lautes Lachen. „Okay, dann machen wir es anders“, sagte er. „Du hast ja gehört, dass wir nur drei Stunden Zeit haben. Aber Professor Karimi hat mir aufgetragen, dich über einige Einzelheiten aufzuklären, bevor du mit ihm bekannt gemacht wirst. Denn glaub mir, Abdullah deine Reaktion auf die folgende Geschichte ist maßgeblich für die gesamte Mission.“

„Dann legen Sie mal los, bevor sie mich noch auf die Folter spannen“, gab Abdullah zurück. Dr. Gabriel ließ sich nicht lange bitten. Im selben Moment, da das Flugobjekt abhob, begann er mit seiner Geschichte, wobei er Abdullah tief in die Augen sah.

„Was man dir an deinem achtzehnten Geburtstag offenbarte, ist die Wahrheit“, erklärte er geheimnisvoll, „und das gilt auch für das, was dir deine Ersatzmutter, die liebe Fatima, noch vor deiner Aufklärungsschulung erzählte. Aber es ist nicht die ganze Wahrheit, und einige Einzelheiten verhalten sich vielleicht auch ein wenig anders, als du glaubst.“

„Also noch mehr Lügen“, unterbrach ihn Abdullah. Er wirkte ganz lässig, während er sich ganz entspannt im Sessel zurücklehnte. „Wie sollen wir denn nach so vielen Lügengeschichten überhaupt noch zusammenarbeiten? Oder ist das wieder einer von diesen Psychotests?“

„Bitte unterbrich mich nicht“, gab Dr. Gabriel zurück. „Was die Lügen angeht, magst du Recht haben, aber die ganze Sache lebt nun einmal von der Geheimhaltung. Das wirst du eines Tages verstehen. Den anderen Fünf, die du ja heute noch kennenlernen wirst, erging es auch nicht anders. Ihnen allen wurde fast dasselbe Schicksal zuteil wie dir. Fast.

 

„Also nochmal: Hör mir bitte zu, ohne mich zu unterbrechen. Es wird dir nicht alles gefallen, was ich dir zu sagen habe, aber du musst es erfahren und verarbeiten, bevor du den Professor triffst.“

Er räusperte sich und fuhr in bedeutungsvollen Tonfall fort: „Deine Eltern sind nicht im Krieg gefallen, wie man es dir erzählt hat.. Nein, die wahre Geschichte beginnt ganz anders:

„Professor Karimi war damals nur der Leiter des Labors SALOMON 8 in Bagdad, wo du ja auch ausgebildet wurdest. Mich hatte er gerade zu seinem persönlichen Assistenten gemacht, und deine Eltern waren seine wichtigsten Wissenschaftler. Sie waren wirklich von außergewöhnlicher Bedeutung für die GLOBEX Konföderation und leiteten ein Projekt namens ACTIVUS.

„Dein Vater hatte nach jahrelangen Forschungen herausgefunden, dass die Gesteine, die damals Millionen von Menschenleben gefordert und die gesamte USA unbewohnbar gemacht hatten und die uns überhaupt das Leben auf unserem blauen Planeten nach und nach zur Hölle machten – dass diese Steine auch gleichzeitig unsere letzte Hoffnung sind. Die erforschten Proben aus diesen radioaktiven Meteoriten hatten nämlich eine Eigenschaft des Gesteins ans Licht gebracht, die eines Tages unsere Rettung sein könnte.

„Einfach gesagt: Dein Vater war ein Genie. Er hatte es geschafft, durch ein extrem kompliziertes Verfahren eine pulverartige, nicht radioaktive Substanz herzustellen, die er ACTIVUS X nannte. Sie fungierte nämlich in Verbindung mit bestimmten Elementen als Superaktivator. Das heißt, sie verursacht eine um mehrere tausend Prozent erhöhte Reaktion der jeweiligen Eigenschaft eines beliebigen Elements oder Stoffes. In Verbindung mit Eisen war es zum Beispiel fast unzerstörbar, in Verbindung mit Wasserstoff und Kohlenstoff entstand eine derartige elastische Masse, dass wir daraus Spinnenseide ähnliche Fäden gewannen, die tausendmal fester waren als Stahl. In Anreicherung mit Uran würde ACTIVUS X eine so heftige Reaktion auslösen, dass nur eine einzige Nuklearbombe mit einer Mikrogrammmenge des angereicherten Urans ganze Länder zerstören könnte. Und als wir das Activus X schließlich mit Silizium, Bor und Lithium verbanden, erhielten wir eine unerschöpfliche Energiequelle, die uns schier zum Staunen brachte.

„Nun waren noch keine acht Wochen seit der Entdeckung der Substanz vergangen, und wir alle schufteten jeden Tag bis tief in die Nacht hinein. Aus Sicherheitsgründen konnten wir keine zusätzlichen Wissenschaftler einsetzen, die die Nachtschichten hätten übernehmen können.

„Dein Vater war wie besessen. Er arbeitete fast zwanzig Stunden am Tag, bis zur Erschöpfung. Dass die neuen Entdeckungen auch gefährliche Nebeneffekte mit sich brachten, war ihm natürlich klar. Zum Beispiel fanden wir heraus, dass sich Eisen nach der Versetzung mit ACTIVUS X nicht mehr formen ließ und schwerer war. Plastik wurde dagegen sehr leicht entzündlich, und die unerschöpfliche Energie aus unserer neu entdeckten Energiequelle konnten wir zu diesem Zeitpunkt noch nicht bändigen.

„Professor Karimi hatte deswegen strengstens verfügt, dass im Falle bestimmter gefährlicher Elementen nicht einmal mit Mikrogrammmengen experimentiert werden durfte. Aber trotzdem wollten wir alle so schnell wie möglich Ergebnisse sehen, nicht nur dein Vater. Schließlich hatten wir wieder Hoffnung geschöpft, und nur wir Handvoll Menschen wussten von dieser Sensation. Aber das war vielleicht auch gut so. Denn wenn diese Substanz je in die falschen Hände geraten würde, könnte es leicht so weit kommen, dass die Welt noch vor dem erwarteten Ende zerstört und die gesamte Menschheit mit einem Schlag ausradiert werden würde.

„Wir mussten also eine Entscheidung treffen. Entweder teilten wir unseren Fund der GLOBEX-Leitung mit und nahmen das Risiko in Kauf, dass etwas nach draußen durchsickern würde. Oder wir mussten die Sache für uns behalten, bis wir genügend Erkenntnisse gesammelt und die Substanz unter Kontrolle gebracht hatten.

„Bei einer unserer internen wöchentlichen Besprechung stimmten wir über diese Frage ab. Deine Eltern und Professor Karimi wollten erst einmal abwarten und unsere Analysen vertiefen. Sie befürchteten, dass die GLOBEX-Leitung nach der Bekanntgabe unserer Resultate andere Forscher hinzuziehen würde, und glaube mir, kein Wissenschaftler hat es gern, wenn jemand anderer an seinen Entdeckungen herumexperimentiert. Öffentlich würde das zwar keiner zugeben, aber es ist trotzdem so.

„Meiner Wenigkeit und unser fünftes Teammitglied waren aber anderer Ansicht als die übrigen drei. Wir meinten, dass es hier nicht um den Erfolg von GLOBEX gehe, sondern um die Existenz der ganzen Menschheit. Und wenn GLOBEX uns weitere Spezialisten zur Verfügung stellen würde, dann müssten wir doch eigentlich froh darüber sein.

„Professor Karimi war und ist ein vernünftiger Mann. Er hatte sich zwar auf die Seite deiner Eltern gestellt, weil er ehrlich der Meinung war, dass wir die Substanz zunächst in aller Ruhe analysieren sollten. Doch andererseits wäre es eine egoistische Entscheidung gewesen, diesen weltbewegenden Befund zu verschweigen. Schließlich waren bereits über acht Wochen vergangen – das hatte ich ja schon erwähnt – und die Resultate, die wir bis dato im Stundentakt erzielt hatten, hätten uns jedes für sich einen Nobelpreis eingebracht. Aber trotzdem lief die ganze Sache unserer Meinung nach nicht schnell genug.

„Schließlich verkündete Professor Karimi: ‚Liebe Freunde, ich glaube uns bleibt keine andere Wahl. Unser Labor hier ist eigentlich gar nicht sicher genug. Wir sollten den Befund melden und dafür sorgen, dass so schnell wie möglich Forschungen in alle Richtungen in die Wege geleitet werden, und zwar in einem moderneren Hochsicherheitslabor. Ich kann es nicht mehr verantworten, dieses Geheimnis auch nur noch einen Tag zu verschweigen, denn wie ihr wisst, läuft uns die Zeit davon. Soll doch die GLOBEX-Leitung die Last von meinen Schultern nehmen und entscheiden, wie wir weiter verfahren. Ihr wisst, wie gern ich unsere Entdeckung der Öffentlichkeit vorstellen würde, um den Menschen auf diesem einst so wunderschönen Planeten wieder Hoffnung zu geben. Aber ich kann es leider nicht.‘

„Die Unsicherheit des Professors entging deinem Vater nicht. Er hob dem Kopf, blickte in die Runde und begann ganz leise zu sprechen: ‚Ich muss euch etwas beichten, Kollegen.‘

„Wir spitzten natürlich sofort gespannt die Ohren. Dein Vater fuhr fort: ‚Ich bedauere es, aber ich habe bereits insgeheim viele weitere Untersuchungen mit der Substanz durchgeführt.‘

„Auf seine Worte hin herrschte Totenstille im Raum. Er hatte uns alle völlig überrascht. Selbst deine Mutter hatte nichts davon gewusst. ‚Wie konntest du das tun?‘, sagten ihre Blicke.

„Aber dein Vater sprach unbeirrt weiter: ‚Ich bin mir voll und ganz darüber im Klaren, dass das, was ich getan habe, selbstsüchtig und riskant war. Ich habe dadurch das ganze Projekt und alle Menschen hier im Labor in Gefahr gebracht. Aber vielleicht könnt ihr mir verzeihen, wenn ihr hört, was ich alles herausgefunden habe. Meine Untersuchungen haben nämlich ergeben, dass ACTIVUS X noch andere Eigenschaften hat als die, welche wir bis jetzt ermitteln konnten.‘

„Alle hörten wir ihm ungläubig und völlig geschockt zu. Aber meine wahre Sorge galt in diesem Moment hauptsächlich dem Professor. Er wechselte mit jedem Wort deines Vaters die Farbe und schien kurz davor zu sein, zu explodieren. Trotzdem fuhr dein Vater unbeeindruckt fort: ‚„Ich bin kurz davor, zu beweisen, dass dieses mysteriöse ACTIVUS X eine unglaubliche heilende Wirkung hat. Zum ersten Mal hegte ich eine solche Vermutung, als ich die Substanz einer Versuchsratte injizierte, und das Tier überhaupt keine Reaktion darauf zeigte. Das war doch höchst erstaunlich!

„ ‚Also injizierte ich die Ratte mit dem tödlichsten Gift, das wir vorrätig haben, nämlich Botulinumtoxin. Die Ratte hätte innerhalb von Sekunden tot umfallen müssen, aber wisst ihr, was? Das Tier lebt immer noch.

„ ‚Aber das Beste ist: Die Blutproben, die ich der Ratte entnommen habe, weisen überhaupt keine Spuren des hochdosierten Giftes auf. Es hat sich in Luft aufgelöst.‘

„Dein Vater war wie im Rausch, während er redete, und das verwunderte mich nicht. Schließlich musste er uns erklären, warum er sich so untragbar verhalten hatte, und uns alle umstimmen. Ohne auch nur einen Moment innezuhalten, fuhr er mit seiner Erzählung fort: „Ich machte weiter und injizierte die Versuchsratte mit den tödlichsten Viren. Ja, ich ging wieder heimlich nachts in das Sicherheitslabor und experimentierte mit Marburg, Ebola, Hanta und Lassa, und wieder zeigte die Ratte keine Reaktion. Die Viren waren weder in ihrem Blut und noch in ihrem Kot nachweisbar.‘

„ ‚Und das Sicherheitssystem hast du wohl umgangen, indem du deiner Frau die ID-Karte geklaut hast, nicht wahr?‘, fiel ich ein. Ich konnte mich keinen Moment mehr zurückhalten.

„Aber dein Vater ignorierte mich und erzählte immer weiter, wie er, trunken von seinen Entdeckungen, noch mit anderen Versuchstieren experimentiert hatte, und zwar erfolgreich.

„Er hatte sich geradezu in Ekstase geredet. Auf einmal jedoch wurde seine Stimme wieder leiser, und es schien ihm schwerzufallen, uns noch in die Augen zu sehen.

„ ‚Dann habe ich die Grenze komplett überschritten‘, sagte er. ‚Ich tat etwas Unfassbares, etwas, das ich mir selber nie im Leben zugetraut hätte.‘

„Wir wurden ganz still. Wir konnten unsere Blicke gar nicht von ihm abwenden. Ich kann mich erinnern, dass ich vergeblich versuchte, mir auszumalen, was er denn noch Schlimmeres hätte anrichten können als das, was er bereits getan hatte. Mir fiel ehrlich gesagt gar nichts ein. Und als er dann gestand, dass er sich eines Nachts in die Uniklinik geschlichen und einen todkranken Patienten mit dem ACTIVUS X injiziert hatte, war es vorbei. Es platzte uns der Kragen. Vor allem der sonst so ruhige Professor Karimi war gar nicht mehr zu bändigen. Er war kurz davor, deinen Vater zu ohrfeigen.

„ ‚Du Scharlatan‘, sagte er immer und immer wieder, ‚du bist nichts als ein Scharlatan. Du bist eine Schande für uns!‘

„ ‚Wie konnte ich das nicht sehen?‘, murmelte derweilen deine Mutter, als würde sie zu sich selbst sprechen. Sie hatte den Kopf gesenkt, wie aus Scham für das, was dein Vater getan hatte. Verkrampft hielt sie mit beiden Händen ihren Bauch. Sie war im sechsten Monat schwanger. Mit dir.

„Wir anderen gingen natürlich dazwischen und versuchten, den Professor zu beruhigen. Er war außer sich vor Wut und beschimpfte immer noch deinen Vater. Dieser versuchte, sich zu verteidigen, und sagte: ‚Professor, ich weiß ja, dass mein Handeln nicht pflichtbewusst war, und außerdem ungewissenhaft und unverantwortlich.‘

„ ‚Das war nicht ungewissenhaft und unverantwortlich, das war unmenschlich‘, erwiderte der Professor. ‚Was du getan hast, ist einfach ungeheuerlich. Einen Menschen noch vor der vorklinischen Phase als Versuchskaninchen zu missbrauchen! Das wird Konsequenzen haben, dass du dich da ja nicht täuschst! Du wirst den Rest deines Lebens im Gefängnis verbringen, dafür sorge ich schon.‘

„ ‚Nun hören Sie mir doch noch kurz zu, Professor‘, flehte dein Vater. ‚Lassen Sie mich doch bitte ausreden. Der Vorfall ist inzwischen drei Wochen her, und der Patient ist gesund und munter. Er hatte sich mit dem tödlichen bolivianischen Machupo-Virus infiziert. Man nennt es auch den schwarzen Typhus. Ihm war nicht zu helfen. Er war in einer bemitleidenswerten Lage, und das ganze Krankenhaus stand bereits unter Quarantäne. Ich muss zugeben, dass es das noch einfacher für mich machte, an ihn ranzukommen. Schließlich trauten sich nicht mehr viele in seine Nähe.

„ ‚Nun, wie auch immer. Eigentlich hätte es mit dem Mann schon vor Wochen ein qualvolles Ende nehmen müssen. Und doch wurde er vorgestern vor den Augen der verwunderten Ärzte aus dem Krankenhaus entlassen. Und das, meine Freunde, ist der Grund, aus dem ich noch ein bisschen Zeit gewinnen wollte. Bevor ich mit der Wahrheit rausrücken muss, meine ich. Ich brauche noch mehr Resultate.‘

„ ‚Was, du brauchst noch mehr Versuchskaninchen?‘, erwiderte der Professor empört.

„ ‚Nein, ich möchte nur noch meinen letzten Versuch abwarten“, entgegnete dein Vater. ‚Ich habe vor einer Woche einen Schimpansen mit einer beachtlichen Dosis H21 injiziert. Wie ihr alle wisst, beschleunigt H21 den Alterungsprozess der Zellen um ein Vielfaches. Danach habe ich dem Tier ACTIVUS X verabreicht. Ich erwartete, nun eine weitere Beschleunigung des Alterungsprozesses beobachten zu können. Eigentlich müsste das Tier jetzt bereits Alterungserscheinungen zeigen, aber es sitzt immer noch gemütlich in seinem Käfig, und alle Messwerte sind völlig normal.‘

 

„Es herrschte eine kurze Stille, denn das war wirklich ungeheuerlich. Aber dann sagte Professor Karimi plötzlich: ‚Und wenn schon. Das ist nicht unsere Aufgabe. Versuchst du etwa, hier Gott zu spielen? Einen todkranken Mann lässt du wiederauferstehen, und mit einem Nadelstich sorgst du dafür, dass Affen nicht mehr altern! Na und? Wenn das Activus X solche Eigenschaften besitzt, wie du es hier herausposaunst, dann hätten wir das mit der Zeit schon herausgefunden. Aber wir suchen doch hier nicht nach der Unsterblichkeit oder nach einem Mittel für die ewige Jugend. Wir suchen nach alternativen Lebensräumen für die Menschheit und nach Hilfsmitteln, die es uns ermöglichen können, solche zu schaffen. Selbst wenn wir unsterblich wären, was hilft uns das denn? Unser Problem ist nicht, dass die Menschen auf der Welt sterben, unser Problem ist es, dass der Planet stirbt.‘

„Da erwiderte dein Vater: ‚Aber Professor, genau diese Zeit, von der Sie sprechen, macht uns doch zu schaffen. Wir haben sie gar nicht. Wir können nun mal keine zwanzig Jahre mehr warten, bis Phase 3 erreicht ist, um dann den Menschen mit unseren Entdeckungen zu helfen.

„ ‚Übrigens habe ich niemals behauptet, hier den heiligen Gral gefunden zu haben. Aber meine Entdeckung könnte uns dabei helfen, resistente Menschen zu erschaffen, die nach alternativen Lebensräumen suchen können.

„ ‚Aber nichtsdestotrotz: Ich muss mich für mein Verhalten entschuldigen, bei euch allen, aber am meisten bei meiner Frau, die wirklich von all dem nichts wusste. Es tut mir leid. Doch ich wollte genau diese Diskussionen, die wir hier jetzt führen, vermeiden.

„ ‚Ich habe vorhergesehen, dass es dazu kommen würde, und ich sage euch eines: Wenn wir jetzt die Alarmglocken läuten und der Zentrale von unseren Entdeckungen berichten, dann setzen sie uns alle vor die Tür, sobald sie uns nicht mehr brauchen. Unsere jahrelangen Forschungen wären dann umsonst, und ACTIVUS X wäre nicht mehr in unseren Händen. Wir hätten keine Kontrolle mehr, und die Substanz könnte für sehr schlimme Dinge missbraucht werden. Ich wage es nicht einmal auszusprechen.‘

„ ‚Ich bezweifle, dass irgendein anderer je so weit gegangen wäre wie du und mehr Schaden angerichtet hätte‘, gab Professor Karimi zurück. ‚Du hast nicht nur das Vertrauen missbraucht, das wir in dich gesetzt haben, du hast auch unsere jahrelange Freundschaft missbraucht. Ich glaube nicht, dass ich dir je wieder vertrauen kann. ‚Und du, Abigail?‘, wandte er sich an deine Mutter. ‚Hast du wirklich nichts davon gewusst? Er ist schließlich dein Ehemann.‘

„Sie sagte sofort: ‚Ich schwöre, Professor, ich wusste von nichts. Er hat zwar die letzten Wochen viele Nächte durchgearbeitet, aber aufgrund meiner Schwangerschaft war ich die ganze Zeit mit mir selbst beschäftigt. Und ich war ja auch die letzten Wochen kaum noch im Labor.‘

„ ‚Ich verstehe“, meinte Professor Karimi. Dann sah er sich in der Runde um und fragte: ‚Was sollen wir jetzt bloß tun?‘

„Wir wechselten alle ratlose Blicke. Schließlich ergriff ich das Wort und meinte: ‚Unter diesen Umständen können wir auf keinen Fall die kompletten Informationen an die Zentrale weitergeben. Fakt ist: Wenn wir erzählen, was passiert ist, setzen die uns alle vor die Tür. Dann können wir unsere Kittel wortwörtlich an den Nagel hängen. Und zwar für immer.

„ ‚Als Erstes müssen wir also all diese Versuche abbrechen und neu koordinieren. Und das bedeutet, dass du fürs Erste außen vor bleibst‘, sagte ich zu deinem Vater gewandt. ‚Dann müssen wir diesen Patienten ausfindig machen und ihn hier im Labor untersuchen. Vielleicht ist er bereits eine tickende Zeitbombe. Erst, wenn wir das erledigt haben, können wir uns überlegen, wie wir der GLOBEX-Leitung weismachen, dass wir durch einen glücklichen Zufall auf ACTIVUS X gestoßen sind. Das mit den Versuchen bleibt vorerst unser Geheimnis. Wenn wir Glück haben, dann wird man uns sogar als Helden feiern.‘

„Der Professor sah mich an und nickte. ‚Ja, genauso machen wir es‘, sagte er. ‚Ich habe dich nicht um sonst zu meinem Assistenten gemacht.‘

„Dein Vater reagierte natürlich mit gemischten Gefühlen auf die ganze Sache. Einerseits war er erleichtert, aber anderseits auch traurig, dass er mit der Angelegenheit nichts mehr zu tun haben würde. Doch er wehrte sich nicht mehr. Schüchtern versuchte er, die Hand deiner Mutter in die seine zu nehmen, aber sie wies ihn ab.“

„Entschuldigung, darf ich an dieser Stelle mal kurz unterbrechen?“ sagte da Abdullah. „Mir ist etwas aufgefallen. Sie sprechen immer wieder von einer mysteriösen fünften Person im Raum, Dr. Gabriel, aber Sie erzählen nichts über sie. Also, es gibt da das Wissenschaftlerpaar, das sie als meine Eltern bezeichnen, den Professor, Sie und diesen fünften Mann. Wer war er? Hatte denn dieser Fünfte gar nichts zu der ganzen Sache zu sagen?“

„Gratuliere, du hast sehr gut aufgepasst“, grinste Dr. Gabriel. „Aber leider bin ich nicht befugt, dir etwas darüber zu sagen. Du kannst ja den Professor fragen. Vielleicht erzählt er dir mehr über diese mysteriöse Person.“

Diese Worte machten Abdullah nur noch neugieriger. „Das werde ich machen, da können sie Gift drauf nehmen“, verkündete er.

Dr. Gabriel grinste wieder. „Darf ich mit meiner Geschichte fortfahren?“

„Nur zu“, sagte Abdullah, und Dr. Gabriel erzählte weiter: „Wir trieben also den angeblich todkranken Patienten auf, der das ACTIVUS X in sich trug, und untersuchten ihn von Kopf bis Fuß. Die ganze Sache ging über mehrere Wochen.

„Freiwillig gemeldet hatte sich der Mann natürlich nicht, weil er ja von der ganzen Sache nichts wusste. Aber wir ließen ihn in dem Glauben, einen guten Deal mit einem Pharmaunternehmen gemacht zu haben, und so war er zu unserem Glück sehr kooperationsbereit.

„Die Untersuchungsergebnisse erwiesen sich als wahrhaft phänomenal. Das Ganze war wirklich ein Durchbruch, genau wie dein Vater gesagt hatte. Der Patient hatte sich tatsächlich mit dem tödlichen Machupo-Virus angesteckt. Drei verschiedene Ärzte hatten die Krankheit bei ihm diagnostiziert. Nachdem dein Vater ihm aber das ACTIVUS X verabreicht hatte, war wirklich keine Spur mehr von dem Virus festzustellen.

„Alle Werte des Patienten waren normal, bis auf eine winzige Kleinigkeit. Es war nämlich so, dass sich seine Zellen nicht mehr regenerierten. Sie starben aber auch nicht ab. Das bedeutete, dass der Mann nie altern würde. Wir hielten es sogar für möglich, dass er sich nicht einmal dann verändert haben würde, wenn er eines Tages über einhundert Jahre alt sein würde.

„Allerdings reichten unsere Erkenntnisse nicht wirklich aus, um solche Schlussfolgerungen mit Sicherheit zu ziehen, geschweige denn auf mehr zu hoffen. Wir hätten Jahre lang forschen müssen, um gesicherte Aussagen treffen zu können.

„Wir wussten zum Beispiel nicht, wie das Gehirn des Patienten, seine Sinnesorgane oder seine Knochen und inneren Organe im Laufe der Jahre reagieren würden.

„Und was war mit seiner psychischen Konstitution? Würde ein Mensch je mit so etwas klar kommen? Schließlich wurden wir nicht dazu erschaffen, ewig zu leben, zumindest nicht mit diesen Körpern und auf diesem Planeten.

„Das alles waren offene Fragen für uns, und sie mussten es auch bleiben. Dennoch machten wir mit dem ahnungslosen Patienten weitere Versuche. Bei einigen der Tests zeigte der Mann nicht die Reaktion, die wir erhofft hatten. So reagierte er auf ätzende Gase ganz normal menschlich, und selbst die kleinsten Schnittwunden mussten genäht oder verschweißt werden, weil er keine neuen Zellen bilden konnte. Das wiederum hieß, dass der Patient nach einer lebensgefährlichen Schnittverletzung oder durch das Einatmen tödlicher Gase genauso sterben würde wie jeder andere Mensch auch.