Kjeld und die Verschwörung des Baal

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Kjeld und die Verschwörung des Baal
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Hartmut DyckKjeld und dieVerschwdes Baal

Ich danke meinem Neffen Paul für das Titelbild

Für Birte

1. Kapitel
Das Urteil

Das kleine Ubierdorf lag in einer tiefen Talmulde, welche die überschaubare Ansammlung von Langhäusern vor den kalten Ostwinden schützte. In der Nähe des Weilers floss ein schmaler Bach, der die Dorfbewohner immer ausreichend mit frischem Trinkwasser versorgte und in dem die Kinder des Dorfes an den heißen Sommertagen planschten und durch das Wasser tobten. Aber jetzt war Winter und kleine, in der Sonne glitzernde Eiskristalle, sammelten sich an den in das Wasser ragenden Grasbüscheln. Teilweise war der kleine Bach vollkommen zugefroren, sodass die Dorfbewohner erst einmal die dicke Eisschicht durchbrechen mussten, um an das lebenswichtige Wasser zu kommen. Die Dorfbewohner sprachen bereits von einem Hungerwinter, denn die Vorräte des Herbstes waren nahezu aufgebraucht und man sehnte die ersten warmen Frühlingstage herbei. Heute war das kleine Dorf nahezu ausgestorben und nur die Alten, Kranken und Kinder sammelten sich um die Herdfeuer, an dem sie ihre karge Mahlzeit zu sich nahmen. Die erwachsenen Männer und Frauen des Dorfes hatten sich unter der jetzt im Winter kahlen Eiche versammelt, um über einen Mann zu urteilen, der Lebensmittel von der Gemeinschaft gestohlen hatte. Baldur, so hieß der Mann, hatte in seiner Verzweiflung eine kleine Menge Getreide, kaum mehr als eine winzige Schüssel voll, aus dem Vorratshaus genommen, um damit seiner todkranken Frau eine nahrhafte Mahlzeit zu kochen. Er war bei diesem Diebstahl beobachtet worden und nun sollte darüber abgestimmt werden, ob Baldur die Dorfgemeinschaft verlassen musste, was seinen sicheren Tod bedeutet hätte, denn ohne die Sicherheit der kleinen Gemeinschaft war man verloren. Diese Versammlung der Dorfbewohner unter der Eiche wurde Thing genannt. Kjeld hatte sich, entgegen der Anweisung seines Vaters, aus dem Haus davongeschlichen und lag nun gut versteckt hinter einem dichten Gestrüpp, um dem Prozess gegen den verzweifelten Mann, der nur seiner kranken Frau helfen wollte, beizuwohnen. Direkt hinter dem Versammlungsplatz des Dorfes begannen die Sümpfe, ein Ort, zu dem sich niemand hinwagte, denn hier waren die Wassergeister und Dämonen zu Hause und ab und zu sah man geheimnisvolle mattgrüne Lichter durch den wabernden Nebel der Sümpfe scheinen, - es waren die verlorenen Seelen, die den Weg aus dem Moor heraus suchten, jedoch nicht fanden. Kein Dorfbewohner würde sich jemals an diesen Ort trauen; zu groß war die Angst, für immer dort bleiben zu müssen. Mörder wurden gebunden und als Strafe für ihre Taten lebendig in das Moor gestoßen, wo sie langsam einsanken und qualvoll starben.

Die Dorfbewohner hatten ein großes Feuer entfacht, das gespenstische Schatten warf und den Versammlungsplatz in ein geheimnisvolles Licht tauchte. Männer und Frauen standen um das Feuer herum und Baldur war an die Eiche angebunden worden, wo er auf den Richterspruch wartete.

Sein Gesichtsausdruck und auch seine Körperhaltung zeigten seine Angst und Ungewissheit, verzweifelt versuchte er, sich vergeblich von seinen Fesseln zu befreien. „Wir müssen hart gegen Baldur vorgehen. Wir sollten ihn aus unserer Gemeinschaft ausschließen, denn er hat gegen unsere Regeln verstoßen!“, sprach der Druide des Dorfes zu den um das Feuer versammelten Erwachsenen. Einige der Anwesenden murmelten zustimmend. „Denkt daran, dass Baldur immer ein wichtiges Mitglied unseres Dorfes war, er war für jeden von uns da und hat immer geholfen, wo er nur konnte!“, entgegnete Kjelds Vater Wisgard, der Schmied des Dorfes.

„Bernward, denke nur daran, wie Baldur deine Kuh gerettet hat als sie die Schwierigkeiten bei der Geburt ihres Kalbes hatte. Ohne Baldur wären die Kuh und auch das Kalb verloren gewesen."

Nervös wischte sich der Schmied ein paar letzte, noch nicht durch das warme Feuer geschmolzene Eiskristalle, aus seinem blonden Bart. Kjeld wusste, dass sein Vater einen großen Einfluss auf die Dorfbewohner hatte und sie großen Wert auf seine Meinung legten und so wartete Kjeld aufgeregt auf den Fortgang des Prozesses.

„Lasst uns abstimmen!“, sagte der Druide, „jeder von euch hat eine Eichel. Werft sie in den braunen oder weißen Tontopf.“ Kjeld sah die zwei Tontöpfe, die über das Leben oder den Tod Baldurs entscheiden sollten, je nachdem wie viele Eicheln am Ende der Abstimmung im jeweiligen Topf lagen. Sollten am Ende mehr Eicheln im weißen Topf sein, würde Baldur das Dorf verlassen müssen und sein Glück in der Fremde suchen. Jeder Dorfbewohner ging zu den Töpfen und warf seine Eichel hinein. Nachdem die letzte hineingeworfen worden war, ging der Druide nach vorne, zählte die Eicheln im jeweiligen Topf und gab dann das Ergebnis der Abstimmung bekannt. „Das Urteil der Dorfbewohner ist eindeutig, Baldur muss die Gemeinschaft verlassen. Wir können hier keinen Dieb gebrauchen!“, sagte der Druide zufrieden. Er hatte sein Ziel erreicht. Baldur wurde losgebunden, man gab ihm Wasser und Proviant für drei Tage und schickte ihn anschließend in die Dunkelheit hinaus. Niemand sagte etwas, auch Kjelds Vater Wisgard schwieg betroffen, denn das Urteil war für alle bindend.

Kjeld kroch rasch aus dem Gebüsch heraus, um schnell nach Hause zu eilen, denn er wollte noch vor seinem Vater das Langhaus erreicht haben. Auf einmal schob sich eine dunkle Wolke vor den Mond, - es wurde plötzlich stockdunkel und Kjeld verlor jegliche Orientierung. Er lief desorientiert in eine andere Richtung, entfernte sich dabei vom Dorf, direkt auf die Sümpfe zu. Der Schnee knirschte unter seinen Füßen und in dem Glauben, bald das Dorf erreicht zu haben, beschleunigte Kjeld seine Schritte. Er fror und eine unheimliche Angst machte ihm das Atmen schwer. Da gab plötzlich der Schnee unter seinen Füßen nach und Kjeld brach bis zu den Knien in eine dunkle, klebrige Masse ein, die ihn langsam immer tiefer zog. „Vater, bitte hilf mir, ich bin in den Sumpf eingebrochen!“, schrie der verzweifelte Junge. Aber niemand war in der Nähe, der ihn hätte hören können. Kjeld sah in der Ferne gespenstische grünliche Lichter über das Moor huschen, der Nebel kroch langsam an ihm hoch und hüllte seinen Körper in einen kalten, feuchten Umhang. Immer tiefer sank er ein, es war, als würden zwei starke Arme an seinen Füßen ziehen. Verzweifelt versuchte der Junge sich zu befreien, aber seine Bewegungen ließen ihn immer schneller sinken. Als das kalte, modrig riechende Wasser über im zusammenschlug, wusste Kjeld, dass er für immer im Reich der Nixen und Walküren verloren war.

2. Kapitel
Ugerit, der Hohepriester des Baal

Ugerit stand vor dem bronzenen Spiegel und betrachtete seinen kahlen Schädel.

Sorgfältig zog er mit schwarzem Kajal seine Augenlider nach, sein feistes Gesicht machte im flackernden Licht des kleinen Öllichtes einen furchterregenden, unheimlichen Eindruck. Sein Körper war massig und wirkte im schwachen Schein des Öllichtes dick und aufgedunsen, was durch die blasse Farbe seiner Haut noch hervorgehoben wurde. Er war ein hässlicher Mann, weich und schwammig, der dennoch über enorme Körperkräfte verfügte. Zufrieden betrachtete Ugarit sein Spiegelbild und hängte eine Bernsteinkette um, an deren Ende ein großes, herzförmiges Stück Bernstein hing, in dem ein Insekt eingeschlossen war. Jene besondere Art von veredeltem Baumharz wurde „Tränen der Götter“ genannt und Ugerit fand, dass die Kette der passende Schmuck für diesen besonderen Abend war. Es war der Abend, an dem er seinen Anhängern eine ganz besondere Botschaft zu überbringen hatte, die Botschaft, auf die er sein Leben lang gewartet hatte und die ihn zum mächtigsten Mann der Stadt, vielleicht sogar zum mächtigsten Mann des Reiches machen sollte. Sorgfältig setzte er die Krone des Harthors auf und zog seinen mit Sternen bestickten Mantel an, der seine Nacktheit nur unzureichend bedeckte. „Meister, komme in den Thronsaal, deine Anhänger erwarten dich!“, sagte der Diener zu Ugerit. Der kleine rattenköpfige Mann, der seinem Meister schon viele Jahre treu ergeben war, verbeugte sich tief vor Ugerit und öffnete ihm demütig die Tür. Der Hohepriester betrat den geheimen Versammlungsraum, der durch große Ölfeuer beleuchtet wurde, die dunkle Schatten an die Wände warfen. Die Fenster waren mit Vorhängen abgedunkelt und in der Mitte des mit Steinplatten ausgelegten Raumes stand ein großer Altar. Dieser Altar bestand aus schwarzem Granit, den man als großen, zusammenhängenden Block aus einem Steinbruch gebrochen hatte. Man hatte ihn grob zurechtgeschlagen und bearbeitet, jetzt stand er hier und wurde als Opferaltar genutzt. Auf ihm standen zwei Wachskerzen, welche die Abflussrinne beleuchteten, die für das Abfließen des Blutes der geopferten Tiere in den Block geschlagen worden war. Auf dem Altar blökte ängstlich ein kleines, angebundenes Lämmchen, das kaum älter als vier Wochen war. Dieses Tier sollte heute dem Gott dieser Gemeinschaft, Baal, geopfert werden. Langsam und hoheitsvoll schritt Ugerit auf den Altar zu, seine Anhänger begleiteten seinen Einzug mit einem leisen Singen, das immer lauter wurde und seinen Höhepunkt erreichte, als Ugerit die letzte Stufe zum Altar betreten hatte. „Freunde, in den nächsten Wochen wird in dieser Stadt ein Mädchen geboren werden, es wird die Tochter eines großen Feldherrn sein. Ich werde das Kind entführen und unserem Gott Baal opfern, der durch den Tod des Kindes auferstehen und uns für unsere Treue zu den mächtigsten Menschen des Reiches werden lässt!“, hallte seine Stimme laut und kraftvoll durch den geheimen Raum. „Es wird ein neues Zeitalter beginnen, das Zeitalter des Baal!“ Lauter Jubel unterbrach ihn, denn schon viele Jahre warteten seine Anhänger auf die Menschwerdung ihres Gottes. Langsam nahm der Priester ein langes Bronzemesser, das mit merkwürdigen Verzierungen geschmückt war, vom Altar. Er hob es ehrfurchtsvoll mit beiden Händen in die Höhe und rief: „Heiliger Baal, segne dieses Messer und wohne der Zeremonie deiner demütigen Jünger bei. Komme in unsere Mitte!“ Dann tötete er mit einem schnellen kurzen Schnitt das kleine Lämmlein. Langsam floss das Blut des jungen Schafes die Rinne hinab und sammelte sich an deren Ende in einem kleinen Tontopf. Alle anwesenden Jünger Baals fielen ergriffen auf die Knie und berührten mit ihrer Stirn den Boden. Mittlerweile war der kleine tönerne Topf voller Blut des getöteten Tieres. Ugerit nahm ihn hoch, kniete sich noch einmal vor den Altar und hob den Topf mit beiden Händen an den Mund und trank begierig einen großen Schluck des Blutes. Anschließend wurde der Topf von Hand zu Hand weitergereicht. Jeder Jünger nahm einen großen Schluck und legte sich anschließend auf den Bauch, ehrfürchtig auf den Segen Baals wartend.

 

Dort lagen die Männer und Frauen und warteten schweigend, ekstatisch und voller Freude auf die Zukunft und das Ende der Zeremonie, um anschließend in ihr normales alltägliches Leben zurückzukehren. Niemand von ihnen bemerkte den kleinen Schatten, der still und heimlich zur Tür hinaushuschte. Und auch der neugierige Beobachter hatte in seiner Aufregung nicht gemerkt, dass er einen Teil seiner Kleidung verloren hatte.

3. Kapitel
Eine besondere Begegnung

Immer tiefer wurde Kjeld herabgezogen, er hatte vollkommen die Orientierung verloren. Aber das Moor fühlte sich seltsamerweise gar nicht mehr feucht und modrig an, es erschien Kjeld so, als hätte es seine Konsistenz verändert und es umhüllte ihn jetzt wie ein weicher Stoff, der ihn schützte und seinen Sturz in das Reich der Nixen und Walküren möglichst sanft abfedern sollte. Langsam nahm der Sog ab, Kjeld hatte den Grund erreicht. Erstaunt schaute sich der Junge um. Eine weite Höhle öffnete sich vor ihm, dieses war nicht das feuchte, kalte Grab, das er erwartet hatte. Die Höhle war schwach erleuchtet - ein rotes, wärmendes Licht breitete sich wohltuend aus. Wo war Kjeld gelandet? War dieser Ort das sagenhafte Walhall, von dem ihm seine Großmutter so oft erzählt hatte? War dies der Ort, an dem die sagenhaften Walküren zu Hause waren? Am Ende der Höhle erschien ein weißes, strahlendes Licht, das sich zu einer Person manifestierte, die aber nicht Angst einflößend und grausam wirkte, sondern eine freundliche, liebevolle Aura um sich herum verbreitete. Langsam trat aus dem Licht eine Person heraus, die Kjeld sofort erkannte. Es war seine Großmutter Adelgard, die im letzten Herbst nach einer schweren Krankheit gestorben war. Kjeld hatte seine Großmutter sehr geliebt, sie hatte Kjeld an den langen Winterabenden alles über Wotan, den mächtigen Gott der Germanen, der stets in Begleitung seiner zwei Raben Hugin und Munin war, erzählt. Adelgard hatte als junges Mädchen lange Zeit bei einem reichen, römischen Händler gearbeitet, sie hatte viel von der Welt gesehen und war eine kluge, gebildete Frau gewesen. Sie hatte Kjeld sogar Vulgärlatein beigebracht, das Latein, das auch in Rom und in den besetzten Gebieten gesprochen wurde und zur damaligen Zeit eine Sprache war, mit der man sich in der damals bekannten Welt überall verständigen konnte. „Kjeld, hab keine Angst, sei nicht voller Furcht, du bist hier in Sicherheit, ich achte auf dich.“ „Großmutter, wo bin ich hier, ich habe dich doch zu Grabe getragen, wo bin ich hier?“ „Du bist in einem Zwischenreich, in der Sphäre zwischen den Lebenden und den Toten, du bist im Reich Wotans und seiner Walküren, du bist in Ragnarök." Ängstlich fragte Kjeld:

„Großmutter, bist du gekommen, um mich mit in das Totenreich zu nehmen, ist mein Leben beendet?“ „Nein, Kjeld, dein Leben ist noch lange nicht vorbei, ich habe die Aufgabe, dich zu den Lebenden zurückzubringen, du wirst noch viele Jahre auf der Erde haben.“ Kjeld wusste, dass er von seiner Großmutter eine ganz besondere Gabe geerbt hatte. Diese Gabe wurde immer von der Großmutter auf den Enkel weitergegeben: Kjeld konnte in die Zukunft sehen. Er hatte unbewusste, plötzliche Visionen, sie kamen sporadisch und unerwartet und verwirrten den Jungen. „Großmutter, bleibe bei mir, nimm mich mit in dein Reich, ich möchte bei dir bleiben!“ „Nein, Kjeld, wir müssen Abschied nehmen, ich bringe dich zurück zu den Lebenden.“ Mit diesen Worten wurde die Erscheinung immer blasser, sie löste sich auf und war schließlich ganz verschwunden. „Er wird langsam wach, er hat es geschafft!“, rief Landerut glücklich und fiel ihrem Mann Wisgard um den Hals. Sie hatte den vollkommen erschöpften und unterkühlten Jungen vor der Haustüre gefunden, niemand wusste, wer ihn dort abgelegt hatte. Viele Wochen lag Kjeld auf seinem Bett in der Nähe des Feuers und wurde von seiner Mutter Landerut liebevoll gepflegt. Immer wieder wusch sie ihm den Schweiß von seinem Körper und streichelte ihn sanft und beruhigend, wenn er diese schrecklichen Träume hatte. Seine kleine Schwester Birte hatte ihm ihre Strohpuppe in den Arm gelegt, sie sollte ihn nachts vor bösen Geistern schützen. Wisgard war für drei Tage verschwunden gewesen. Ganz alleine war er in die Sümpfe gegangen und hatte den Göttern sein bestes Schaf geopfert. Anschließend war er bei der Hexe Kriemhild gewesen, die ganz allein in einem kleinen, baufälligen Haus abseits aller Menschen lebte. Kriemhild hatte als Kind Lepra gehabt, ihr Körper und das ganze Gesicht waren von knotigen Geschwüren übersäht. Die Menschen fürchteten sich vor ihr und gingen ihr aus dem Weg. Sie hatte Wisgard eine Medizin gegeben, die Kjeld helfen sollte und das hatte sie auch. Mittlerweile war es Frühling geworden und die ersten warmen Strahlen der Sonne erwärmten den Boden und auch die Herzen der Menschen, die so lange Zeit gefroren und gehungert hatten. „Vater, Mutter wie schön, euch zu sehen! Ich war lange fort.“ Ja, Kjeld war lange fort gewesen, aber jetzt wurde er von Tag zu Tag gesünder und kräftiger und schon bald konnte er das erste Mal das Haus verlassen.

4. Kapitel
Die Strafarbeit

Aigidios lief schnell durch die engen Straßen der ehemaligen Militärstadt Oppidum Ubiorum. Die Stadt hatte sich von einem reinen Militärstandort zu einer florierenden Handelsstadt entwickelt, die ihre Waren in das ganze römische Imperium exportierte. Nur durch Zufall war Aigidios in die Versammlung der Sekte geraten und jetzt hatte er es sehr eilig, nach Hause zu kommen. Er passierte den Sklavenmarkt, auf dem während des Tages Sklaven aus dem ganzen Imperium verkauft wurden. Aber jetzt stand der Mond am Himmel und der Markt war verlassen, nur einige auffällig geschminkte Frauen boten ihre nächtlichen Dienste an. In der Ferne sah man die fast fertige Wasserleitung, welche die schnell wachsende Stadt mit frischem Eifelwasser versorgen sollte. Aigidios erreichte das Haus seines Herren Flavius, das erst vor Kurzem fertigstellt worden war. Flavius war früher selbst Sklave gewesen, der seinen Lebensunterhalt als Gladiator verdient hatte. Nach fünfundsechzig gewonnen Kämpfen wurde ihm die Freiheit geschenkt. Flavius betrieb nun in der aufblühenden Stadt eine erfolgreiche Gladiatorenschule und zusätzlich handelte er mit Bernstein, den er von dem Meer im Norden geliefert bekam und bis nach Ägypten weiterverkaufte. Dort wurde der Bernstein den Pharaonen mit in das Grab gelegt. Die Priester nannten den honigfarbenen Stein ehrfurchtsvoll, Tränen der Götter. Bei einem seiner Kämpfe hatte der bärenstarke Mann ein Auge verloren, dass er jetzt durch einen wertvoll geschliffenen Bernstein ersetzt hatte. Flavius hatte Aigidios in Griechenland gekauft und mit in die Provinz Germanien genommen, der gebildete Grieche kümmerte sich um Flavius Buchführung, denn der ehemalige Gladiator konnte nicht schreiben. Flavius war bärenstark, hatte aber ein weiches, gutes Herz und liebte den jungen Sklaven Aigidios, der immer wieder über die Stränge schlug, wie seinen eigenen Sohn. Schnell lief Aigidios durch die Gartenpforte zum Haus und fiel plötzlich und unerwartet der Länge nach hin. Irgendjemand hatte einen Draht über den Weg gespannt, den Aigidios in seiner Eile nicht gesehen hatte. Laut ertönte eine kleine Glocke, die am Ende des Drahtes angebunden war und schnell kam der Hausverwalter Lucullus herbei geeilt. „Ach, Aigidios, kommst du auch noch einmal nach Hause, hast du dich wieder ohne Erlaubnis in der Stadt herumgetrieben? Du weißt doch, dass du Hausarrest hast!“ Aigidios hatte am frühen Morgen zwei Schinken aus der Speisekammer gestohlen, die er unter den Armen verteilen wollte, leider war er dabei erwischt worden und hatte nun Hausarrest. „Ich werde mir die richtige Strafe für dich und dein freches Verhalten ausdenken.“ Aigidios wurde angst und bange, denn er wusste, dass Lucullus ihn nicht mochte und jede Gelegenheit nutzte, um ihn zu bestrafen, aber jetzt hatte Aigidios Angst, dass er Stockhiebe bekommen würde. Bedrückt ging der junge Grieche zu Bett. „Ich bin es ja selber schuld, warum kann ich nicht einmal gehorchen?!“, dachte Aigidios, „jetzt wird mich selbst der Herr nicht mehr beschützen und morgen wird Lucullus meinen Rücken grün und blau schlagen.“ Beunruhigt versuchte der Junge, einzuschlafen. Zwei Stunden wälzte er sich immer noch unruhig hin und her, aber der Schlaf wollte nicht kommen. Immer wieder dachte er an Lucullus und die zu erwartende Strafe. Es war dumm gewesen, das Haus gegen das Verbot seines Herren zu verlassen, aber eine innere Unruhe trieb den Jungen immer wieder zu neuen Abenteuern. Es war nur Zufall gewesen, dass er dem fremden, seltsamen Mann gefolgt war, - Aigidios war einfach nur neugierig und gespannt gewesen, wohin der Fremde wohl ging. Erschreckt hatte er der Zeremonie gefolgt und fragte sich ratlos, was er tun konnte, um das Kind zu schützen. Leider wusste er ja noch nicht einmal, wer dieses Kind überhaupt war, das getötet werden sollte. Ratlos drehte sich Aigidios zur Seite und schlief endlich ein.

„Guten Morgen Herr, hast du gehört, dass die Aquädukte bald fertig sein werden und dass dann alle Häuser der Reichen an die Wasserversorgung angeschlossen werden sollen?“, fragte Lucullus seinen Herren, „Wir müssen zusehen, dass wir unsere Sickergrube noch einmal leeren, damit wir dann gleichzeitig an den Abwasserkanal angeschlossen werden können.“ Lucullus warf einen schadenfrohen Blick auf Aigidios, der gerade mit einem Stapel Dokumenten in den Armen den Raum betrat. „Ich glaube, dass Aigidios diese Aufgabe sehr gerne übernimmt.“ Wenn sein Vergehen vom Vortag nicht ans Licht kommen sollte, müsste Aigidios schweigen, denn er wusste, dass Flavius Ungehorsam nicht duldete. Flavius wunderte sich ein wenig über die Arbeitsbereitschaft und Schweigsamkeit seines jungen Sklaven, denn so sehr er ihn auch mochte, wusste er doch, dass Aigidios nicht der fleißigste war und auch dazu neigte, seinen Anweisungen nicht zu gehorchen. „Natürlich werde ich die Sickergrube gerne säubern“, bestätigte Aigidios und verließ mit einem zerknirschten Gesicht den Raum. Ein wenig hilflos und verlassen stand Aigidios vor der großen Sickergrube, in der neben den Abwassern des Hauses auch die Küchenabfälle entsorgt wurden. Ein ekliger, widerlicher Geruch stieg aus dem Loch heraus und der Junge wusste, dass er nach getaner Arbeit noch drei Tage stinken würde. Etwas unsicher und ohne große Lust stand Aigidios mit einem Eimer in der Hand da, als der Nachbarsjunge Silvius Plutus fröhlich kauend um die Ecke kam. „Guten Morgen, Aigidios, was hast du denn heute vor, hat man dich zum Kloreiniger befördert?", lachte Silvius, „Aigidios, bist du unter die Straßenkehrer gegangen, pass auf, dass deine Kleidung nicht schmutzig wird, du stinkst sonst wie ein Schwein!" Schon wollte Silvius weitergehen, um den anderen Jungen zu erzählen, was Aigidios für eine üble, schmutzige Tätigkeit zu verrichten hatte, als Aigidios ihn fröhlich ansprach: „Guten Morgen Silvius, meinem Herren ist gestern Abend nach dem Besuch in der Taverne ein Beutel mit einhundert Sesterzen in die Sickergrube gefallen, ich habe jetzt die Aufgabe, den Beutel zu suchen. Wenn ich ihn wiederfinde, darf ich die Hälfte behalten, ich finde, dafür kann man ruhig ein paar Tage streng riechen. Pecunia non volet! Geld stinkt nicht!"

Silvius blieb erstaunt stehen. Fünfzig Sesterzen waren eine Menge Geld, ein einfacher Arbeiter konnte davon mehr als ein Jahr gut leben. Silvius runzelte nachdenklich seine Stirn.

„Hör mal Aigidios, für einen kleinen Anteil an den Sesterzen könnte ich dir doch helfen, zu zweit geht die Arbeit doch viel schneller vorbei!"

„Nein, Silvius, das geht nicht, mein Herr vertraut mir voll uns ganz, ich glaube nicht, dass er es gut finden würde, wenn du mir hilfst“, erklärte der junge Grieche dem kleinen, dicklichen Jungen. „Sei doch nicht so! - Flavius ist doch in seiner Gladiatorenschule, er wird bestimmt nichts merken", bettelte Silvius, „auch Lucullus ist mit der Köchin auf dem Markt, niemand merkt etwas, wenn ich dir helfe." „Na gut, Silvius, du darfst mir helfen, aber du musst alleine arbeiten, ich möchte nicht, dass mein Herr uns zusammen sieht. Ich gehe so lange in die Stadt." Aigidios nahm Silvius das Brot aus der Hand und lief fröhlich kauend davon. Als er sich noch einmal umschaute, sah er, dass der gierige Silvius mit dem Eimer in der Hand hinab in die Jauchegrube stieg. Aigidios wusste, dass der dicke, unbewegliche Silvius mindestens zwei Stunden beschäftigt sein würde, bis die Jauchegrube komplett leer wäre. So hatte es der junge Grieche nicht eilig. Gemütlich schlenderte er durch die schnell wachsende Stadt. Überall wurde gebaut, gerade war ein großes Amphitheater fertiggestellt worden, das direkt an dem großen Fluss, den die Römer Rhenus nannten, lag. Von dort hatte man einen herrlichen Blick über die weitläufige Landschaft.

 

Aigidios sah, dass die öffentlichen Latrinen sehr gut angenommen wurden, viele Menschen saßen auf den Marmorbänken und unterhielten sich angeregt. Nach verrichtetem Geschäft wurden die menschlichen Exkremente einfach in den großen Fluss gespült. „Salve Marius, ich hoffe, es geht dir gut.“ Der angesprochene Junge stand in der Nähe der Latrinen und kippte gerade einen Eimer mit Wasser aus. „Danke Aigidios, ich bin froh, dass die Tage wärmer werden, so wird die Arbeit erträglicher.“ „Ich freue mich für dich.“ Lachend ging Aigidios weiter. Marius war ein sogenannter Warmsitzer. Er hatte die Aufgabe, den Latrinensitz seines Herren am frühen Morgen warm zu sitzen, damit sein Herr sein Geschäft mit einem warmen Hintern verrichten konnte. Für Marius war diese Arbeit gerade im Winter fast unerträglich. Er hatte schon so manche Frostbeule davon getragen. Aber heute war ein warmer, freundlicher Frühlingstag und Marius musste nicht frieren. Aigidios ging weiter und richtete nachdenklich seinen Blick zur Sonne empor. Er schaute, zögerte und erschrak. Langsam schob sich ein dunkler Schatten wie ein Vorhang vor die Sonne.