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Harald Schneider

Wassergeld

Palzkis vierter Fall

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LAND UNTER Weihnachtszeit in der Vorderpfalz. Ausgerechnet während der Weihnachtsfeier der Kriminalinspektion Schifferstadt wird Katastrophenalarm ausgelöst: Bei Altrip wurde der schmale Deich durch eine Explosion beschädigt. Teile des riesigen, direkt am Rhein gelegenen Campingplatzes „Auf der Au“ sind überflutet. Glücklicherweise gibt es nur wenige Verletzte, da sich kurz vor Weihnachten kaum noch Menschen auf dem Platz befinden.

Doch dann kündigt ein Erpresserbrief mit einer Forderung in Millionenhöhe weitere Attentate an. Und als Kommissar Reiner Palzki auch noch ein toter Schiffsführer auf dem Gelände der Schifffahrtsgesellschaft Rheingüter GmbH im Ludwigshafener Kaiserwörthhafen gemeldet wird, droht die Lage zu eskalieren. Ein Wettlauf gegen die Zeit beginnt …

Harald Schneider, Jahrgang 1962, lebt in Schifferstadt in der Metropolregion Rhein-Neckar. Der Betriebswirt arbeitet in einem Medienkonzern im Bereich Strategieplanung. Bekannt geworden ist er als Autor von Rätselkrimis und Detektivgeschichten für Kinder und Jugendliche. Seit 2008 veröffentlicht er auch Kriminalromane für Erwachsene. „Wassergeld“ ist der vierte Band seiner Serie um den beliebten Schifferstadter Kommissar Reiner Palzki.

Impressum

Die Kartendaten sind dem OpenStreetMap-Projekt entnommen und stehen unter der Creative Commons Attribution Share Alike-Lizenz 2.0.

Personen und Handlung sind frei erfunden.

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Alle Rechte vorbehalten

Lektorat: Claudia Senghaas, Kirchardt

Herstellung / Korrekturen: Daniela Hönig /

Doreen Fröhlich, Katja Ernst

E-Book: Mirjam Hecht

Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart

unter Verwendung eines Fotos von: aboutpixel.de /

hitzacker XI © Sven Brentrup

ISBN 978-3-8392-3492-1

Karte


Vorbemerkung

Du glaubst die ganze Welt ist dein,

Es lacht der Mund zu jeder Stund,

das kranke Herz, es wird gesund;

Komm, ich lade dich ein:

Einmal zum Rhein!

Willi Ostermann

*

Für die Mitarbeiter der Wasserschutzpolizei Ludwigshafen

*

Im Anhang befinden sich die vier Gewinnergeschichten des Rheinpfalz-Leo-Sommerkrimiwettbewerbs 2009.

1. Die Weihnachtsfeier

Es hätte so ein schöner Tag werden können.

Meine letzten irdischen Atemzüge hatte ich mir angenehmer vorgestellt. Seit Minuten rang ich verzweifelt um eine lebensnotwendige Mindestmenge an Sauerstoffmolekülen. Mein Röcheln und Stöhnen schien niemand zu bemerken. Trotz winterlicher Temperaturen lief mir der Schweiß in Bahnen über die Schläfen. Mit letzter Kraft konnte ich meinen Kopf nach rechts drehen: Würde sie sich erbarmen und mich vor dem Erstickungstod bewahren? Hatte sie überhaupt begriffen, dass ich gerade eine Nahtoderfahrung durchmachte? Verzweiflung stieg in mir hoch, als sie nur ärgerlich den Kopf schüttelte.

»Mensch, Reiner«, knurrte meine Frau Stefanie. »Einmal im Jahr werde ich wohl von dir verlangen dürfen, dass du eine Krawatte anziehst.«

Mit meinem linken Zeigefinger versuchte ich, meinen Kehlkopf von dem unsagbaren Druck zu befreien und keuchte ihr entgegen: »Bei Pauls Taufe wäre ich fast über den Jordan gegangen!«

Stefanie schüttelte erneut, immer noch recht verärgert, den Kopf. »Paul ist inzwischen sieben, falls du das vergessen hast. Es ist beschämend, dass man einem Mann, der bald 50 Jahre alt wird, die Krawatte binden muss, weil er das nicht selbst fertigbringt.«

Aufgebracht erwiderte ich: »Jetzt übertreib mal nicht so schamlos. Bis zu meinem 50. dauert es noch eine Weile. Außerdem werden Männer nicht alt, sondern nur reif.«

»Dann lerne endlich Krawatten zu binden, das hat nämlich auch etwas mit Reife zu tun«, konterte sie bissig. »Du hast deine Krawatte jetzt seit zehn Minuten an, andere Männer tragen sie den ganzen Tag.«

Schicksalsergeben konzentrierte ich mich wieder auf den Straßenverkehr. Meine Frau und ich waren unterwegs zur Weihnachtsfeier der Schifferstadter Kriminalinspektion. Die Feiern in den vergangenen Jahren waren immer recht ausgelassen gewesen. Nicht selten zogen wir zu später Stunde, tanzend auf den Bierzelttischen, in unserem Sozialraum eine wilde AC/DC-Party ab. Seit diesem Jahr war damit Schluss. Als ehemaliger kommissarischer Dienststellenleiter habe ich ungefragt einen neuen Chef vor die Nase gesetzt bekommen. Kriminaloberrat Klaus Pierre Diefenbach, der wegen seiner Initialen von allen nur KPD genannt wurde, war wegen einiger Verfehlungen vom Ludwigshafener Präsidium nach Schifferstadt aufs Land strafversetzt worden. Seit er das Regiment übernommen hatte, ist nichts mehr, wie es war. Sein Leitspruch war ›Ein Chef, der bewundert wird, ist ein guter Chef‹. Er wurde zwar mit Sicherheit von niemandem bewundert, bildete sich allerdings stets das Gegenteil ein. Zum Fiasko entwickelte es sich, als bekannt wurde, dass KPD ein wahrhaftiger Gourmet war und eine Haute Cuisine für ihn Mindeststandard bedeutete. So kam es, dass alle seine Untergebenen einen Knigge- und Kochkurs aufgebrummt bekamen, damit auf KPDs Weihnachtsfeier nichts schiefging. Sämtliche Bürgermeister des Landkreises, den Landrat und ein halbes Heer an Journalisten hatte er in das Dreisternerestaurant Tullas Erben nach Limburgerhof eingeladen. Für uns bedeutete das neben der mörderischen Anzug- und Krawattenpflicht eine mindestens zweistündige Selbstbeweihräucherungsrede von KPD.

Selbstverständlich freute ich mich, dass Stefanie neben mir saß. Heute Mittag hatte meine Schwiegermutter unsere beiden Kinder Paul und Melanie mit zu sich nach Frankfurt genommen. Erst übermorgen, am Sonntag, wird sie die beiden zurückbringen. Stefanie, die seit zwei Jahren von mir getrennt lebte, blieb dieses Wochenende bei mir. Wir freuten uns auf zwei ruhige und entspannte Tage. Es galt, Zukunftspläne zu schmieden. Kurzfristige – denn in einer knappen Woche begannen die Weihnachtsferien, sowie mittelfristige – denn Stefanie war im fünften Monat schwanger. Ich war mindestens so glücklich wie Stefanie. Selbst die mangelhafte Sauerstoffzufuhr konnte daran nichts ändern. Im neuen Jahr würde Stefanie wieder nach Schifferstadt ziehen. Der genaue Zeitpunkt war noch unklar, denn für Paul und Melanie war der Umzug mit einem Schulwechsel verbunden. Ins Auge gefasst hatten wir im Moment Anfang Februar, unmittelbar nach den Halbjahreszeugnissen.

Das Restaurant, das ich in meinem bisherigen Leben noch nie betreten hatte, tauchte im diffusen Scheinwerferlicht auf. Es war kurz vor 19 Uhr und fast stockdunkel. Ein feiner Nieselregen hing seit Stunden in der Luft und dämpfte das Licht der wenigen Straßenlaternen. Dieses ungemütliche Bild entsprach dem typischen Winter in der Rheinebene: nass, matschig, eklig. Wer hier kein Rheuma bekam, dem war nicht mehr zu helfen.

Als hätte ich es im Kniggekurs gelernt, hob ich den Regenschirm über meine Frau, während wir durch eine Pfützenlandschaft auf das Restaurant zugingen. Stefanie überprüfte nochmals den Sitz meines Anzugs und meinte süffisant: »Bis auf den Taillenbereich passt der noch ganz gut!«

Glücklicherweise erspähte ich in diesem Augenblick meinen Lieblingskollegen Gerhard Steinbeißer. Seine weibliche Begleitung stellte er uns als Katharina vor. Stefanie und ich waren uns mit einem Blick einig, dass wir diesen Namen nicht in unserem Langzeitgedächtnis abspeichern bräuchten. Gerhard genoss sein Leben und seine Lebensabschnittsgefährtinnen wechselten regelmäßig.

Der große Nebensaal des Restaurants war weihnachtlich geschmückt. Sicherlich hatte KPD bei der Auswahl der Accessoires lange geplant. Mich berührten solche Details nicht im Geringsten, nur durch deren immense Vielfalt fielen sie mir heute überhaupt auf. Für mich lautete die wichtigste Frage des Abends: ›Wird es Bier geben oder nur Wein?‹

»Wollen wir wetten, wie lange KPDs Rede dauern wird?«, unterbrach mich Gerhard bei meinen existenziellen Gedankengängen.

»Ich habe gedacht, dass aus unserer Dienststelle niemand mehr mit mir wetten will, hat sich daran etwas geändert?«

Während Gerhard laut herausprustete, sah mich Stefanie fragend an. »Warum will niemand mehr mit dir wetten?«

»Also, das ist so, Stefanie. Auf der Dienststelle werden bei wichtigen Ereignissen wie zum Beispiel Fußball-Länderspielen kleine Einsätze verwettet. Und du weißt ja, dass ich es mit Fußball nicht so habe. Jedenfalls war es bei der letzten Europameisterschaft. Jeder setzte einen Euro auf seinen persönlichen Titelfavoriten. Na ja, ich habe halt auf Brasilien als Titelgewinner gesetzt.«

»Auf Brasilien?«, unterbrach mich Stefanie verwundert.

»Ja ja, genau. Als Begründung gab ich an, dass man auch mal einem Außenseiter eine Chance geben sollte.«

Als Stefanie mich sprachlos anstarrte, ergänzte ich: »Seitdem habe ich bei meinen Kollegen Ruhe mit dem ganzen Fußballzeug.«

»Er hat sich damit als erstklassiger Fußball- und Geografiespezialist geoutet«, warf Gerhard ein. »Wir haben ziemlich lange darüber gelacht.«

Ein zartes Glöckchenbimmeln ließ uns aufhorchen. Erst jetzt in der eintretenden Stille überflog ich die anwesenden Personen. In der vorderen Hälfte des Saales mit direkter Anbindung an das gewaltigste Buffet, das ich je gesehen habe, saß die geladene Prominenz. Personenmäßig schien sie mächtiger zu sein als die Gruppe der Beamten, die an den hinteren Tischen Platz genommen hatte.

Das Glöckchen bimmelte ein zweites Mal. KPD, dessen Anzug wahrscheinlich mehr gekostet hatte als mein letzter Urlaub, stand auf. Zwei Restaurantmitarbeiter schleppten ein Stehpult herbei. Unser Dienststellenleiter beugte sich etwas vor und wuchtete einen schweren Packen Papier aufs Pult. Den vorderen Teil der Anwesenden, der gerade begonnen hatte, zu applaudieren, schien das Redemanuskript zu schockieren: Der Applaus erstarb binnen einer Zehntelsekunde. Das nicht Beifall klatschende Fußvolk, zu dem ich selbst zählte, dachte geschlossen an Fahnenflucht.

Unser Chef hatte davon nichts bemerkt. Er zelebrierte ein Lächeln, das sogar seine Weisheitszähne freilegte.

»Liebe Anwesende«, begann er seine Ansprache. »Bevor ich im ersten Teil meiner Rede die geladenen Gäste kurz vorstelle, möchte ich mich für Ihr zahlreiches Kommen bedanken. Wie Sie bestimmt …«

Weiter kam er nicht. Direkt vor dem Restaurant hatte irgendjemand ein Sondersignal eingeschaltet. Das Martinshorn übertönte KPDs Rede mit Leichtigkeit. Mein Kollege Gerhard schaute mich feixend an, so als wäre ich der Urheber dieses Coups. Alle Kollegen amüsierten sich nach Kräften, nur unser lieber Vorgesetzter war außer sich. Er tobte mit hochrotem Kopf. Eines stand fest: Für dieses Attentat würde mindestens ein Kopf rollen.

»Da hat einer vom Schichtdienst eine wirklich klasse Idee gehabt«, brüllte Gerhard zum Nachbartisch. »Der hat jedenfalls einen Orden verdient.«

Was jetzt passierte, war fast unglaublich. Zwei Kollegen in Uniform – zur Fraktion der wenigen Glücklichen gehörend, die von der Teilnahme an der Weihnachtsfeier befreit waren – stürmten in den Saal. Der Chef persönlich stapfte auf sie zu, als wollte er sie allein mit der Kraft seiner Gedanken ungespitzt ins Parkett hauen. Es dauerte eine gewisse Zeit, bis die beiden armen Beamten zu Wort kamen. KPDs Gesichtsausdruck änderte sich blitzartig in eine Schreckensmiene. Er stand wie versteinert, unfähig zu reagieren. Die zwei Kollegen, im Umgang mit spontanen, polizeilichen Aktionen trainiert, übernahmen das Kommando. Einer schrie, um gegen das immer noch aktive Sondersignal anzukommen, in den Saal: »Alle Beamten haben sich sofort in der Dienststelle einzufinden. Vor ein paar Minuten wurde Katastrophenalarm ausgelöst. Südlich von Altrip ist der Deich gebrochen. Feuerwehr, Technischer Hilfsdienst, Sanitätsdienst und andere Organisationen sind ebenfalls alarmiert. In unserer Dienststelle in Schifferstadt wird die zentrale Einsatzleitung installiert. Alles Weitere erfahren Sie dort in 20 Minuten. Bitte beachten Sie: Hier handelt es sich nicht um die versteckte Kamera!«

Die beiden Beamten verließen den Saal und wenig später wurde das Sondersignal leiser. KPD stand immer noch mit offenem Mund da, während mehrere der prominenten Gäste, vermutlich die Bürgermeister aus

Altrip und den umliegenden Gemeinden teils mit, teils ohne Partner, aus dem Saal stürmten. Und auch wir, die eben in Dienst gesetzten Beamten, liefen bereits, jedoch ohne eine Panikstimmung zu verbreiten oder den schmalen Ausgang zu verstopfen, zu unseren Wagen. Gerhard hatte mir sofort angeboten, bei ihm mitzufahren, wenn Stefanie seine Katharina zu Hause abliefern würde. Meine Frau nickte zustimmend. Nach einem kurzen Abschiedskuss war die Weihnachtsfeier Vergangenheit. Und noch bevor wir den Parkplatz erreicht hatten, gehörte dieser auch meine Krawatte an.

2. Poldergeist

Das Wetter war noch unangenehmer geworden, da der Nieselregen in einen heftigen Graupelschauer übergegangen war. Diese angefrorenen Wassertröpfchen, die es bei uns in der Rheinebene bei Temperaturen knapp über dem Gefrierpunkt recht häufig gab, raubten jedem recht schnell die Orientierung. Mir war es egal, Gerhard fuhr.

Mein Kollege trommelte nervös auf dem Lenkrad herum. »Das hatte ja irgendwann einmal passieren müssen.«

»Was hätte irgendwann einmal passieren müssen?«, wiederholte ich fragend.

»Na, dass ein Deich bricht. Rund um Altrip gibt’s immerhin ein paar Kilometer von diesen Dingern. Und wie du wissen solltest, haben wir seit zwei Wochen steigendes Hochwasser, die Hochwassermarke 1 wurde gestern erreicht. Wenn das so weitergeht, und danach sieht es aus, wird in den nächsten Tagen auf dem Rhein die Schifffahrt eingestellt.«

»Das verstehe ich nicht. Die Deiche sind doch für das Hochwasser da. Oder habe ich in der Schule etwas verpasst?«

Gerhard zog sich seine Krawatte ebenfalls aus. »Ja, das stimmt schon. Aber eine Kette ist nur so stark wie ihr schwächstes Glied. Gerade die Altriper Gegend bis hin nach Waldsee und Rheingönheim ist bei Hochwasser immer potenziell gefährdet. Denke nur an das Jahr 1999. Da waren wir nahe dran, große Teile des Gebietes zu evakuieren, weil das Hochwasser an mehreren Stellen überschwappte, beziehungsweise von unten das Druckwasser in die niedrig gelegenen Felder drückte. Und das sogar ohne einen Deichbruch.«

Ich konnte mich gut daran erinnern. Äcker und Waldgebiete waren teilweise nur noch per Boot zu erreichen. Altrip, das im Innern eines Rheinknicks lag, war fast komplett von Wasser umgeben. Südlich und westlich von Altrip lagen mehrere Campingplätze von gigantischen Ausmaßen, zehntausende Camper konnte man hier jeden Sommer zählen. Aus polizeistatistischer Sicht waren diese Leute eine Katastrophe. Nicht nur, dass sich durch sie die Einwohnerzahl des Landkreises im Sommer beträchtlich erhöhte, es wurden hier stets überproportional viele Straftaten von Eigentumsdelikten bis hin zur Körperverletzung aktenkundig. Im Grunde müssten wir in der warmen Jahreszeit mehrere Beamte vor Ort nur für diese Camper abstellen, was personalpolitisch nicht durchzusetzen war.

Ich winkte ab. »Solange es nur Sachschaden gibt, ist mir der Deichbruch allemal lieber als die Weihnachtsfeier. Ein Abend ohne KPD ist ein guter Abend.«

Der Parkplatz unserer Inspektion war bereits gut gefüllt. Der Sozialraum noch viel mehr. In der Eile hatte man einfach die Stühle an der Rückseite gestapelt, um mehr Personen stehend in dem Raum unterbringen zu können. Hier trafen wir auch auf unsere Kollegin Jutta Wagner. Jutta war unser guter Geist, der alle Besprechungen organisierte und Protokoll führte. Ihr Organisationstalent war fulminant. Auch sie war eine der Glücklichen, die von der Weihnachtsfeier befreit war. Von KPD selbst wurde sie für diese Schicht zum Polizeiführer vom Dienst der Schifferstadter Kriminalinspektion befördert. Er hätte keine bessere Wahl treffen können. Jutta schien Frau der Lage zu sein. Die komplette Vorderfront inklusive der Fensterscheiben des Sozialraums war mit Flipchartpapier beklebt. Als sie uns erkannte, winkte sie kurz. Mehr Zeit blieb ihr nicht, da mehrere Personen gleichzeitig auf sie einredeten.

Es war chaotisch. Zwischen den Polizeibeamten der Kripo und unseren Kollegen von der Schutzpolizei wuselten leitende Rettungssanitäter, Feuerwehrleute und Leute von der Katastrophenschutzbehörde herum. Gerhard und ich hatten uns ins hintere Eck verdrückt. Dort gab es einen kleinen Nebenraum mit einer eingerichteten Teeküche. Mein Kollege hätte am liebsten sofort seinen geliebten Sekundentod angerührt, der sich aus annähernd 100 Prozent Kaffeepulver und einer homöopathischen Dosis Wasser zusammensetzte. Zu meinem Glück waren andere Kollegen schneller gewesen und hatten einen normalen Kaffee gekocht.

»Meine Damen und Herren«, vernahmen wir aus dem Sozialraum die Stimme unserer Jutta. Wir verließen die Küche und sahen, dass inzwischen per Beamer ein Luftbild der Altriper Region auf eine Leinwand übertragen wurde.

»Bevor wir zu den Einzelheiten kommen«, begann Jutta ohne Begrüßung, »zeige ich Ihnen zunächst die räumlichen Gegebenheiten auf dem Luftbild.« Mit einem Laserpointer deutete sie auf Altrip. »Sie sehen hier den Rhein, der von Süden kommend direkt hinter dem ufernahen linksrheinischen Altrip um 90 Grad nach Westen abknickt. Altrip ist über zwei Kreisstraßen zu erreichen. Einmal ist es die Kreisstraße 7 von Ludwigshafen, die in West-Ost-Richtung verläuft, zum anderen ist es die Kreisstraße 13, die vom südlich gelegenen Waldsee nördlich nach Altrip führt. Beide Straßen verlaufen mehr oder weniger parallel zum Rhein.«

Unsere Kollegin fuhr die Kreisstraßen mit ihrem Laserpointer nach. Das ganze Gebiet hatte etwa die Ausmaße eines Quadrates mit sechs Kilometer Kantenlänge. Nördlich und östlich bildete der Rhein die Grenze, im Süden lag Waldsee, im Westen Neuhofen und im Nordwesten der Ludwigshafener Stadtteil Rheingönheim. Das Ganze war ein großes Naturschutzgebiet, zumindest wenn man die hohe Besiedlungsdichte der Rheinebene als Maßstab berücksichtigte.

»Auf halber Strecke zwischen Waldsee und Altrip befindet sich der Campingplatz ›Auf der Au‹. Er liegt fast komplett westlich der K13. Östlich der K13, also auf der anderen Straßenseite, befinden sich ein paar weitere Parzellen sowie der einen Kilometer lange Marx’sche Weiher. Dieser Weiher ist im Osten durch einen Deich vom Otterstadter Altrhein beziehungsweise dem Rhein getrennt.«

Selbst von hinten konnten wir gut erkennen, dass der Otterstadter Altrheinarm just an dieser Stelle in den Rhein mündete.

Jutta sprach weiter. »Dieser Deich ist an drei Stellen gebrochen. Das Rheinwasser strömt seit etwa einer Stunde direkt in das Gebiet des Marx’schen Weihers. Das Tragische dabei ist Folgendes: Durch Druckwasser hat der oberirdisch autarke Weiher nach ein paar Tagen annähernd den gleichen Wasserstand wie der Rhein. Aus diesem Grund sind seit drei Wochen die etwa 100 Campingplätze rund um den Marx’schen Weiher geräumt. Doch das reicht nicht mehr. Die K13, die den Marx’schen Weiher von der großen Campingplatzanlage trennt, liegt geringfügig tiefer als der Deich und ist in der Stabilität nicht mit einem solchen vergleichbar. Das bedeutet, bedingt durch den plötzlichen Wasserdruck, ist jederzeit damit zu rechnen, dass der Campingplatz mit seinen 3.600 Parzellen überschwemmt wird. Unsere erste Aufgabe ist daher, die Anlage zu evakuieren. Wir rechnen zu dieser Jahreszeit mit höchstens 1.000 Bewohnern. Allerdings werden einige dieser Zeitgenossen und auch die, die gerade nicht dort wohnen, versuchen, ihre Campingwagen in Sicherheit zu bringen. Sie werden unseren Rettungskräften die Evakuierungswege verstopfen. Es ist folglich mit aggressivem Verhalten zu rechnen. Ein Notlager für die Camper wird zurzeit in der Sommerfesthalle Waldsee errichtet, die technische Einsatzleitung wird bei uns in Schifferstadt installiert. Der Landrat als erster Ansprechpartner für Katastrophen-Notfälle hat dafür grünes Licht gegeben. Funk für alle beteiligten Dienste wird in einer Stunde zur Verfügung stehen, die Relais werden gerade geschaltet. Von der Situation an den Deichbruchstellen liegen uns keine verwertbaren Informationen vor. Ob es Verletzte gibt, wissen wir auch noch nicht. Es ist bei den momentanen Licht- und Wetterverhältnissen sehr schwierig, an die betreffenden Stellen zu kommen.«

Jutta hatte die Situation im Griff. Fast so, als hätte sie Wochen Zeit gehabt, alles zu planen. Nachdem sämtliche Schritte für die Evakuierung besprochen waren, strömten die operativen Einsatzleiter der verschiedenen Organisationen zu ihren Einsatzorten und den dort wartenden Mitarbeitern in das Katastrophengebiet. Es waren jetzt noch etwa 20 Personen anwesend, für die in aller Eile Schreibtische, Computer und weitere Hilfsmittel angefahren wurden. Für Katastrophenfälle wurden in fast jedem Landkreis für die zentrale Kommunikation und Abstimmung die entsprechenden Geräte und Utensilien bereitgehalten. Da die Lagerung sowie weitere Details dieser vorbeugenden Maßnahme als VS-nfD, also als ›Verschlusssache – nur für den Dienstgebrauch‹, galten, darf ich die Einzelheiten nicht näher beschreiben.

Als stellvertretender Dienststellenleiter der Kriminalpolizei und aufgrund der Tatsache, dass KPD mutmaßlich noch weinend vor seinem Buffet in dem Restaurant stand, wäre es meine Aufgabe gewesen, die Kollegen zu koordinieren und in den Kampf mit den Campern zu schicken. Auch wenn für diese Dinge normalerweise die Schutzpolizei zuständig war, in solchen Notsituationen galt die Trennung als aufgehoben. Jeder Mann und auch jede Frau konnte gebraucht werden.

Ich kann meine Kollegin Jutta nicht häufig genug loben. Trotz des unsäglichen Stresses, den sie in der letzten Stunde erlitten hatte, kam sie lächelnd auf mich zu. »Ich denke, dir ist es nicht unangenehm, dass ich Jürgen beauftragt habe, die Koordination mit uns und der Schutzpolizei zu regeln. Du kannst folglich direkt mit Gerhard losfahren und dir ein Bild von der Lage vor Ort machen. Es wäre gut, wenn ihr beide euch zu den Stellen der Deichbrüche begeben könntet, wir haben zur Stunde immer noch kein klares Bild, wie es dort aussieht. Der Bagger, der als Erstes losgeschickt wurde, ist im Schlamm stecken geblieben. Das THW ist unterwegs, um das Gebiet auszuleuchten. Leider ist die Funkverbindung abgebrochen. Irgendwie scheint dort der Wurm drin zu sein.«

Gerhard und ich machten uns auf den Weg. Wir fuhren direkt in den Weltuntergang hinein. Zu dem Graupelregen war inzwischen ein ziemlich starker Wind gekommen. Das Mondlicht hatte nicht den Hauch einer Chance. Waldsee war wie ausgestorben. Das einzige Lebenszeichen waren die Glockenschläge einer Kirche, die martialisch verstärkt durch die Dunkelheit bellten. Am Ortsausgang wurde es plötzlich hell. Das Technische Hilfswerk hatte schnell reagiert und auf dem großen Parkplatz vor der Sommerfesthalle eine Flutlichtanlage installiert. Wir fuhren ohne anzuhalten weiter. Ein paar Meter weiter war die Straße gesperrt. Gerhard ließ seine Scheibe herunter. Bevor er etwas sagen konnte, wurde er bereits angeschnauzt: »Können Sie nicht lesen? Die Straße ist gesperrt. Sie dürfen hier nicht weiter.«

Dem Kollegen von der Schutzpolizei war deutlich seine Frustration anzumerken, bei diesem Wetter auf Posten stehen zu müssen. Wahrscheinlich musste er alle paar Minuten Camper zum Umdrehen bewegen, die noch schnell ihren Wagen von der Parzelle retten wollten. Gerhard zeigte ihm den Dienstausweis und der Kollege von der Straßensperre ließ uns passieren.

Die kurvenreiche Strecke war nicht angenehm zu befahren. Als wir in die Nähe des Campingplatzes kamen, ließ der Graupel etwas nach. Dadurch erhöhte sich die Sichtweite auf mindestens 50 Meter.

»Halt an«, sagte ich hastig zu Gerhard. »Schau mal nach links, da bewegt sich etwas.«

Unsere Augen benötigten einen Augenblick, um das Wohnmobil auszumachen, das kurz vor der Mündung zur Kreisstraße diagonal in einem Nebenweg festzustecken schien. Eine Person, eingehüllt in einen fledermausartigen Regenumhang, machte sich an einem der Vorderräder zu schaffen.

Gerhard parkte am Straßenrand, um die Rettungs- und Evakuierungskräfte nicht zu behindern. Bevor wir ausstiegen, schaltete er das Warnblinklicht ein. Unsere Neugier wurde sofort bestraft. Bereits mit dem ersten Schritt auf den nicht befestigten Nebenweg sanken wir knöcheltief ein. Die Situation erinnerte mich an den Schlamm im Rheingönheimer Wildschweingehege, in dem wir im Sommer einen toten Erntehelfer fanden. Die unbekannte Person im Fledermaus­cape war dabei, Fußmatten unter die Vorderräder zu legen, um ein Durchdrehen der Antriebsachse zu vermeiden. Sie bemerkte uns erst, als wir unmittelbar vor ihr standen. Mit der Taschenlampe, die ich aus Gerhards Dienstwagen mitgenommen hatte, leuchtete ich in das wild zuckende Gesicht von Doktor Metzger. Ausgerechnet hier musste uns dieser Notarzt über den Weg laufen.

»Was soll das?«, maulte er uns an. Seine langen feuerroten Haare fielen seitlich aus dem Regenumhang. »Nehmen Sie die Lampe weg, Sie blenden mich.«

»Guten Abend, Herr Doktor Metzger. Was machen Sie denn hier?«

Metzger schaute mich verwirrt von oben bis unten an. »Ach, Sie sind’s, Herr Palzki. Kommen Sie gerade von einem Kostümfest? Ich habe Sie noch nie in einem Anzug gesehen. Denken Sie, dass dies das richtige Outfit bei dieser Witterung ist?« Er stimmte in sein mir hinlänglich bekanntes Frankensteinlachen ein. »Was ist eigentlich da drüben los?« Er zeigte in Richtung Marx’scher Weiher, der allerdings von unserem Standort aus nicht zu sehen war. »Zuerst diese Explosionen, dann jede Menge Feuerwehr und der THW, jetzt sogar Sie. Ist mal wieder jemand über die Wupper gegangen? Ich meine natürlich über den Rhein!« Wieder dieses unmenschliche Lachen.

»Welche Explosionen?«, riefen Gerhard und ich fast synchron.

»Woher soll ich das wissen? Das ist schon fast zwei Stunden her. Erst dachte ich an ein Feuerwerk. Aber um diese Jahreszeit in dieser Gegend?«

»Was ist genau passiert?«

»Es hat halt gekracht. Mensch, Palzki, irgendetwas hat da fürchterlich geknallt. Zweimal, dreimal, keine Ahnung. Ich konnte nicht nachschauen gehen, ich hatte noch einen Kunden.«

Einen Kunden? Ich erschrak. Mit Kunden meinte Doktor Metzger üblicherweise Patienten. Ich vermutete eher Selbstmordkandidaten.

»Wo waren Sie, als Sie diese Explosionen gehört haben?«

»Na hier, in meiner mobilen Klinik. Bei dem Sauwetter gehe ich doch nicht freiwillig nach draußen.«

Ich starrte das Reisemobil an. »Wie nannten Sie das? Eine mobile Klinik?«

»Ja, ja«, nickte Metzger eifrig. »Wussten Sie nicht, dass ich hier wohne und arbeite?«

»Wie bitte? Sagen Sie jetzt bloß nicht, dass Sie hier Ihren Hauptwohnsitz haben und Ihre sogenannten kleinen Operationen in diesem Gefährt durchführen.«

»Doch, Herr Palzki, Sie haben es schon richtig verstanden. Ist selbstverständlich alles legal. Auch ein Gewerbe habe ich angemeldet. ›Mobile Gesundheitsberatung und Prophylaxe – Doktor Metzger‹. Die Geschäfte laufen gut. Selbst im Winter bin ich so gut wie ausgebucht. Auf dem Campingplatz gibt es immer etwas zu tun. Von kleinen Messerstechereien über Blinddarm bis zum Bypass. Das volle Programm eben.«

Ich musste unbeschreiblich dämlich aus der Wäsche geschaut haben. »Sie wollen doch nicht etwa sagen, dass Sie in diesem Wohnmobil als Arzt praktizieren? Dafür gibt’s doch mit Sicherheit keine Genehmigung!«

»Na ja, wie man es nimmt, Herr Palzki. Eine stationäre Arztpraxis würde hier mit Sicherheit nicht genehmigt werden. Meine mobile Gesundheitsberatung ist eine Marktlücke. Und eine Gesetzeslücke zugleich. Ich gebe Ihnen ein Beispiel. Sie wohnen doch in Schifferstadt im Neubaugebiet. Versuchen Sie dort einmal, eine Baugenehmigung für eine kleine Holzhütte zu bekommen. Das ist fast aussichtslos. Und wenn Sie es dennoch versuchen wollen, dann müssen Sie mithilfe eines Architekten einen förmlichen Bauantrag stellen, selbstverständlich mit Statik und Pipapo. Wenn Sie auf Ihr Grundstück aber einen Bauwagen stellen und ihn als Gartenhaus nutzen, brauchen Sie nichts dergleichen, solange Sie die Räder dranlassen. Dann ist es keine Immobilie, sondern ein Fahrzeug. Genauso ist es hier. Meine mobile Gesundheitsberatung ist genehmigt. Wenn mein Reisemobil an 360 Tagen im Jahr auf meiner Parzelle des Campingplatzes steht, ist das folglich in Ordnung. Ich kann ja, wenn ich will, jederzeit wegfahren. Somit ist das durchaus gesetzeskonform.«

Das war unglaublich harter Tobak für mich. »Sie haben tatsächlich eine Erlaubnis, in Ihrem Fahrzeug Operationen durchzuführen?«

Ich bemerkte, dass ich einen wunden Punkt getroffen hatte. Metzger wandte sich und war verlegen. Schließlich antwortete er: »Ich muss zugeben, manches lege ich durchaus individuell aus. Prophylaxe bedeutet für mich auch so etwas wie Vorbeugung gegen den Tod. Daher sehe ich Operationen als legitime Prophylaxe an. Als ehemals zugelassener Arzt darf ich selbstverständlich in Notfällen operieren. Alles andere wäre ja unterlassene Hilfeleistung. Bisher ging es in den meisten Fällen übrigens gut aus.« Und wieder das eklige Lachen.

Ich konnte es nicht fassen. Während mir das eben Gehörte durch den Kopf ging, erkundigte sich mein Kollege Gerhard: »Herr Doktor Metzger, wohin sind Sie eigentlich unterwegs? Die Evakuierung betrifft nur die sich hier aufhaltenden Menschen, Wohnwagen dürfen nicht mitgenommen werden.«