Wohltöter

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Die Pathologin runzelte die Stirn und schüttelte ärgerlich den Kopf. »So klar ist das leider nicht, wie vieles in unserem Rechtssystem. 1997 wurde die ›UK Xenotransplantation Interim Regulatory Authority‹, kurz UKXIRA, gegründet. Dieses übergeordnete und unabhängige Gremium sollte alle Aspekte und Aktivitäten im Zusammenhang mit der Verpflanzung von tierischem Gewebe und tierischen Organen auf den Menschen untersuchen und koordinieren. Die UKXIRA hatte das letzte Wort bei Forschungsprojekten und Transplantationen. Das Gremium wurde allerdings im Dezember 2006 stillschweigend aufgelöst. Seither ist es praktisch den einzelnen Forschungseinrichtungen überlassen, an welche ethischen und medizinischen Richtlinien sie sich bezüglich Xenotransplantation halten wollen.«

»Mit andern Worten, jeder macht, was er will«, schnaubte Rutherford.

Chris wollte nicht glauben, was sie hörte. »Sie sprachen von Forschungseinrichtungen«, sagte sie unsicher. »Was bedeutet das aber für Spitäler und Kliniken? Führen die solche Transplantationen tatsächlich durch?«

»Mir ist bisher nur ein Fall bekannt«, lächelte die Ärztin mit einem Blick auf den Toten. »Und der war nicht sehr erfolgreich. Nein, die klinische Anwendung ist nicht erlaubt. Wer diese Schweineniere einem ursprünglich gesunden jungen Mann eingepflanzt hat, gehört hinter Gitter, wenn Sie mich fragen.«

Die Pathologin bedeckte den Toten wieder, warf die Gummihandschuhe in den Abfalleimer und packte Chris plötzlich am Arm. »Gilt unsere Verabredung noch?«, fragte sie lauernd.

Der unerwartete Angriff warf Chris völlig aus dem Gleichgewicht, schnürte ihr die Kehle zu. »Welche Verabredung?«, wollte sie fragen, doch sie sah die Ärztin nur entgeistert an.

»Sie wollten mir alles über sich erzählen«, flüsterte die Frau nahe an ihrem Ohr, bevor sie den Arm losließ.

Der DCI wandte sich zum Gehen. »Wenn das alles ist, wir haben zu tun. Kommen Sie Sergeant.«

Chris zwang sich, nicht aus dem Saal zu rennen. Draußen bedankte sie sich hastig bei ihrem Vorgesetzten. »Ich weiß nicht, was in sie gefahren ist«, murmelte sie errötend. »Wir haben keine …«

Rutherford lachte. »Vergessen Sie’s. Die spinnt, wenn Sie meine bescheidene Meinung hören wollen. ›Mad‹ Barclay verdient ihren Spitznamen zu Recht. Hat Detective Cornwallis Sie nicht gewarnt?«

»Er hat etwas angedeutet. Mad also. Ich weiß nicht. Für mich sieht es eher aus wie der verzweifelte Versuch, der Einsamkeit der Leichenhalle zu entfliehen.«

Der DCI schüttelte den Kopf. »Pathologen haben grundsätzlich nicht alle Tassen im Schrank«, grinste er. »Ich wundere mich, dass es stets genügend von der Sorte gibt.«

Das verstand sie auch nicht. Pathologen wie Mad Barclay mussten ausgesprochene Materialisten sein. Für sie war ein toter Körper nichts weiter als eine schier unerschöpfliche Experimentiermasse. Aber vielleicht galt das auch für andere Mediziner und lebende Körper. Die Besprechung in Dr. Barclays Totenreich hatte jedenfalls eines deutlich gemacht: Sie konnten den Fall des Toten vom Hampton Pier nicht einfach als unaufgeklärten Unfall zu den Akten legen. Zurück im Büro besprach sie die Obduktionsergebnisse mit Ron. Sie hatte eine neue Aufgabe für ihren Partner.

»Wir müssen die Transplantationszentren befragen. Können Sie das machen?«

»Klar. Die Suche in der Vermissten-Datenbank hat bisher nichts ergeben, und bis die Resultate aus Canterbury vorliegen, wird es noch eine Weile dauern. Womit vertreiben Sie sich die Zeit, Sergeant, wenn ich fragen darf?«

»Ich helfe der Kriminaltechnik«, schmunzelte sie. Auf den Sergeant würde er nicht so schnell verzichten.

Der DCI saß in seinem Terrarium am Schreibtisch. Sie benutzte die Gelegenheit, klopfte an die Glastür und trat ein. Er schob den Bericht beiseite, an dem er gearbeitet hatte, und blickte sie fragend an.

»Sir, Detective Cornwallis wird die 25 Kliniken befragen, die Nierentransplantationen durchführen.«

»Wird zwar nichts bringen, aber es muss sein«, meinte er stirnrunzelnd.

»Das fürchte ich auch. Ich war übrigens heute Morgen bei der Kriminaltechnik. War – ziemlich enttäuschend.«

»Kein Vergleich mit dem BKA?«

»Das habe ich nicht gemeint, Sir.«

»Wollte ich Ihnen auch nicht raten«, grinste er. »Jonathan ist ein alter Freund von mir. Ich halte große Stücke auf ihn. Übrigens versteht er etwas von Kakteen.«

»Was natürlich nicht zu unterschätzen ist«, spottete sie. »Verstehen Sie mich nicht falsch: Ich zweifle nicht im Geringsten an der Kompetenz von Dr. Powers oder an der Qualität der Arbeit in seinem Labor. Das Problem ist, dass er zurzeit ein scheinbar unlösbares Problem hat.«

Um Rutherfords Augen bildeten sich Lachfältchen. »Haben wir das nicht alle?«

»Im Ernst, Sir. Seit dem Umzug funktionieren wichtige Apparate nicht mehr oder noch nicht. Das Labor verfügt nicht einmal mehr über ein Massenspektro …«

»O. K., O. K.«, winkte er ab. »Was wollen Sie mir eigentlich sagen?«

»Wir müssen die Materialproben extern untersuchen lassen, wenn wir in unserm Fall weiterkommen wollen. In diesem Zustand kann uns Dr. Powers Labor nicht weiterhelfen.«

Rutherfords Reaktion überraschte sie völlig. »Warum sagt mir das der alte Bock nicht selbst?«, brauste er auf. »Scotland Yard ohne Kriminaltechnik. Das darf nicht wahr sein.« Er starrte eine Weile missmutig durch sie hindurch, dann begann er plötzlich zu schmunzeln. »Das scheint mir eine ideale Aufgabe für unsern Chief zu sein, meinen Sie nicht auch?«

Sie hütete sich, zu antworten, obwohl sie ihm zustimmen musste. Für eine funktionierende Infrastruktur und reibungslose Abläufe zu sorgen, war eine ebenso edle Aufgabe des Managements, wie Beförderungsanträge abzulehnen.

»Mager, in der Tat«, kommentierte er ihre Schilderung der Ergebnisse der kriminaltechnischen Untersuchung.

»Eben. Ich meine, wir sollten wenigstens versuchen, die Herkunft der Kleidung und der Rost- und Lackspuren genauer einzugrenzen. Mit den geeigneten Geräten hätten wir in kurzer Zeit Gewissheit, nichts zu übersehen.«

»Spart im Endeffekt Kosten«, nickte der DCI. »Auch das müsste der Chief einsehen.«

Er hatte seinen Entschluss gefasst, gab ihr das O. K. für die externe Untersuchung und griff zum Telefon.

Imperial College, London

Das physikalisch-chemische Labor am Imperial College, das Dr. Powers empfohlen hatte, wirkte auf den ersten Blick nicht sehr vertrauenerweckend. Der Raum war zu klein und vollgestopft mit Instrumenten, deren Zweck Chris nur erraten konnte. Aber Gaschromatograph und Massenspektrometer funktionierten, wie ihr Powers Tochter Janice erfolgreich demonstrierte.

»Wundert mich, dass Dad nicht dabei ist«, bemerkte Janice, während sie auf die Ergebnisse der ersten Probe warteten. »Sonst lässt er keine Gelegenheit aus, mich zu kontrollieren, wissen Sie.«

Genau um dieses Vorurteil zu entkräften, hatte Powers sie allein geschickt. Vielleicht sollten die beiden öfter miteinander reden. Während sie Janice insgeheim beobachtete, bereitete sie die zweite Probe vor, ein handtellergroßes Stück der Jacke des Toten. Janice hatte sofort begriffen, was sie mit der Analyse erreichen wollte. Sie arbeitete schnell und konzentriert, beherrschte ihren Stoff und die Hightech-Werkzeuge. Dr. Powers brauchte sich wirklich keine Sorgen um seine Tochter zu machen. Der Apparat begann, das Ergebnis der Analyse auszudrucken. Chris atmete auf, als sie die ersten ›Peaks‹ sah, deutliche Ausschläge des Detektors. Entgegen ihren Befürchtungen war die Kurve, die das Spektrogramm darstellte, alles andere als flach. Janice hatte nicht zuviel versprochen. Ihr Gerät der neusten Generation vermochte auch metallische und metallorganische Atome und Verbindungen zu entdecken. Das war wichtig für die Untersuchung der Rost- und Farbspuren.

»Ich kopiere das Ergebnis jetzt auf Ihren USB-Stick, ist das in Ordnung?«

Chris nickte. »Ja, bitte. Den Abgleich mit den Referenzdaten muss ich im Büro machen.«

Die Kurve des Spektrogramms war eine verwirrende Folge unterschiedlich hoher und breiter Spitzen, jede charakteristisch für die Häufigkeit eines chemischen Elements oder Moleküls. Der Computer im Yard würde diesen ›Fingerabdruck‹ mit dem Spektrogramm bekannter Substanzen vergleichen. So hoffte sie, mehr über die Art der Umgebung herauszufinden, wo sich der junge Mann vor seinem Tod aufgehalten hatte.

Die zweite Probe enthielt keine sichtbaren Verunreinigungen. Mit ihr suchte sie nach Hinweisen über die Atmosphäre, die Luft, in der das Opfer seine letzten Stunden verbrachte. Die Kleider nahmen Gerüche auf, die mit diesen empfindlichen Geräten auch nach Stunden im Seewasser nachzuweisen waren. Nach einer Stunde steckte sie die Ergebnisse beider Proben in die Aktentasche. Mehr war aus den Stofffetzen nicht herauszuholen, war sie überzeugt.

Janice schaute befremdet zu, wie sie zusammenpackte. »Was ist mit den andern Tests?«

Dr. Powers Liste! Die Checkliste mit seinen genauen Anweisungen lag unbenutzt auf Janices Schreibtisch. Chris hatte sie sofort nach ihrer Ankunft in diesem fantastischen Labor verdrängt. »Ach – richtig«, murmelte sie verlegen, »wir sollten Ihren Vater nicht enttäuschen.«

»Nein, sollten wir nicht«, lachte Janice.

»Wäre es möglich, mir die restlichen Resultate zu mailen? Ich möchte mich so schnell wie möglich um diese Auswertungen kümmern.«

»Kein Problem. Die Rechnung schicke ich dann Dad.«

Scotland Yard, London

Chris’ Augen schmerzten von der stundenlangen Arbeit am Bildschirm. Die Auswertung der Spektrogramme war schwieriger, als sie angenommen hatte, doch allmählich ergab sich ein zusammenhängendes Bild. Sie erhob sich, um die verkrampften Muskeln zu dehnen. Sofort stand Ron neben ihr.

 

»Kaffee?«

»Ein Schokoladeriegel wäre mir lieber, ehrlich gesagt.« Sie hatte den ganzen Tag nichts gegessen, brauchte dringend Zucker.

»Ihr Wunsch ist mir Befehl«, grinste Ron. Er ging zu seinem Schreibtisch, durchwühlte mehrere Schubladen und kehrte schließlich mit einer Auswahl von Süßigkeiten zurück. »Alles originalverpackt«, versicherte er triumphierend.

Sie betrachtete erst ihn, dann seine Riegel misstrauisch. Die Kandidaten hatten teilweise ihre Form verloren. Sie sahen alle nicht sehr vertrauenerweckend aus. Aber der Hunger siegte. Sie zog einen heraus. »Wusste nicht, dass die noch hergestellt werden«, wunderte sie sich, bevor sie ihn in den Mund schob.

»Werden sie auch nicht. Das Ding hat Seltenheitswert.«

Die Kollegen ringsum brachen in lautes Gelächter aus, was Ron die Zornesröte ins Gesicht trieb.

»Ehrlich, das war einer der Letzten weltweit«, verteidigte er sich.

Chris schluckte die antiken Kohlenhydrate in einem Kraftakt hinunter. »Ein Kaffee wäre jetzt doch nicht schlecht«, meinte sie dann. Sie zupfte den verstörten Detective am Ärmel, um ihn zum Automaten zu lotsen.

»Pass auf, sie ist scharf auf deine Sammlung«, war das Letzte, was sie verstand, bevor Ron die Tür hinter ihnen zuschlug.

»Idioten«, zischte er wütend.

Nur mit Mühe verbarg sie ihre Heiterkeit. Um die Klippe zu umschiffen, fragte sie ihn nach seinen Ermittlungsergebnissen.

»Enttäuschend«, antwortete er. »Die Kliniken weisen jeden Verdacht auf Xenotransplantation weit von sich. Ich habe trotzdem die Operationsprotokolle der letzten zwei Monate verlangt. Die schriftlichen Unterlagen werden morgen oder übermorgen eintreffen. Ich nehme allerdings nicht an, dass wir darin etwas Neues finden werden.«

Sie nickte. »Keine Überraschung. Das bestätigt nur unsere Vermutung: Die Transplantation wurde illegal, ohne offiziellen Nachweis, durchgeführt. Was wiederum ganz gut zu meinen Resultaten passt.«

Das Mahlwerk des Kaffeeautomaten verhinderte jede weitere Unterhaltung. Sie wartete, bis der Apparat die braune Brühe ausspuckte, dann fasste sie zusammen, was die Analyse der Kleiderproben aufgedeckt hatte:

»Ich habe Rückstände von Peroxiden gefunden. Das sind Sauerstoffverbindungen, die vor allem in aggressiven Reinigungsmitteln vorkommen, wie man sie in Kliniken verwendet. Typische Komponenten solcher Spitalreiniger sind PES, Peroxiessigsäure, und Wasserstoffperoxid, wie man es auch zum Bleichen verwendet. Zudem gibt es Spuren von Chlor, was auf Ammoniumchlorid oder Salmiak hindeutet, auch eine häufige Komponente in Spital-Reinigungsmitteln. Die Waschmittelrückstände sind nicht aussagekräftig. Übliche Waschmittel eben, wie man sie überall findet. Soweit deckt sich das Ergebnis mit den Spuren, die man von einer Klinik erwartet.«

»Aber?«, drängte Ron, als sie eine Kunstpause einlegte.

»Jetzt kommt die Überraschung. Die Umgebung, in der sich der Mann vor seinem Tod aufgehalten hat, weist geringste Spuren metallorganischer Farbe auf, wie man sie benutzt, um Eisen zu färben – oder zu tarnen.«

»Ein Container?«, rief Ron verblüfft.

Sie schmunzelte. »Dachte ich zuerst auch, bis ich noch etwas herausfand.«

»Jesus, Sergeant. Machen Sie’s nicht so spannend. Ich fange gleich wieder zu rauchen an.«

»Das würde ich mir nie verzeihen«, lachte sie. »Dieser Typ Farben wird seit 1945 nicht mehr benutzt.«

»Ein alter Container.«

Sie schüttelte den Kopf. »Unmöglich. Die ersten Container tauchten in der US-Armee 1948 auf.«

»Ein Schiff? Die Navy?«

»Könnte sein. Ich habe auch deutliche Spuren von Dieselkraftstoff entdeckt. Allerdings …«

Ron zerknüllte den Becher in schierer Verzweiflung, als sie innehielt. »Mensch!«

»Zuviel ›GtL‹«, grinste sie. »Anteile, die aus Synthesegas hergestellt werden. Dieses Gemisch verbrennt sauberer, wird aber kaum auf Schiffen verwendet.«

Er schnaubte verächtlich. »Großartig. Die Wissenschaft gibt uns mehr verfluchte Rätsel auf, als sie löst.«

»Ein wahres Wort, Ron. Immerhin wissen wir jetzt, dass sich das Opfer vor seinem Tod mit hoher Wahrscheinlichkeit nicht in einer normalen Klinik aufgehalten hat. Wir suchen nach einem alten Gebäude, dessen Wände vermutlich aus Stahl bestehen oder mit Stahlplatten verstärkt sind. Mindestens Teile davon müssen mit grauer Tarnfarbe bestrichen sein, wie man sie von alten Kriegsschiffen kennt. Und das Gebäude ist nicht am Stromnetz angeschlossen.«

»Wie kommen Sie darauf?«

»Der Dieselkraftstoff. Ich nehme an, die Spuren stammen von einem Generator.«

Ihre Geschichte gefiel dem DCI gar nicht, als sie eine Stunde später den Bericht ablieferte. Die Andeutung, es könnte sich um eine Einrichtung der Navy handeln, bedeutete Ärger. Gewaltigen Ärger.

»Und Powers stützt diese Hypothese?«, wollte er wissen. »Ich habe seinen Bericht noch nicht gesehen.«

Sie nickte. »Er bestätigt die Ergebnisse der Untersuchung, obwohl er die Navy nicht explizit erwähnt.«

»Wenn die etwas beherrschen, ist es dichtzuhalten«, schnaubte er. »Die Militärköpfe werden uns gar keine Informationen liefern. Sie werden ihre eigene Untersuchung durchführen, ohne Ergebnis. Das ist so sicher, wie ich hier sitze und mich blau ärgere.«

Er meinte es keineswegs ironisch, sprach offenbar aus Erfahrung.

»Noch wissen wir nicht, ob die Navy betroffen ist«, betonte sie. »Wir haben nur Hinweise auf die Art des Gebäudes, das wir suchen.«

»Und genau das werden wir tun«, nickte er. »Geben Sie eine neutrale, aber möglichst detaillierte Suchmeldung an die Dienststellen rund um die Themsemündung in Kent und Essex heraus. Keine Aktion, nur Meldung, verstanden?«

Vielleicht handelte es sich doch um eine Abrechnung unter den Clans. Chris zweifelte daran, aber sie konnten bisher keine Möglichkeit ausschließen. Es gab zwar keinen Beweis, dass der junge Pakistani ins Wasser gestoßen worden war, aber gegen die Hypothese eines simplen Unfalls sprach die erste, verschwundene Leiche. Die beiden Fälle hingen mit großer Wahrscheinlichkeit zusammen, aber auch das war nicht sicher. Was allerdings eine Schweineniere mit einer Familienfehde zu tun haben sollte, verstand sie am allerwenigsten.

Sie hatte Rutherfords Glashaus schon verlassen, als er sie zurückrief. Er hielt ihr eine Akte hin. »Der Obduktionsbefund«, murmelte er und widmete sich wieder seiner Arbeit.

Erleichtert nahm sie die Klemmmappe entgegen. Sie hatte schon befürchtet, Mad Barclay würde ihr den Bericht persönlich überbringen. Den ersten Teil des Dokuments überflog sie schnell. Die Beschreibung des Leichnams und der Organe enthielt nichts, was sie nicht schon wusste. Der letzte Teil über die toxikologische Untersuchung interessierte sie mehr. Im Blut des Toten wurden keine Drogen gefunden, wohl aber Rückstände eines Medikaments, dessen Name ihr nichts sagte. Die Pathologin beschränkte sich darauf, diese nüchterne Tatsache festzuhalten, ohne zu erklären, was sie bedeutete.

»Mist«, seufzte sie schwer.

Ron, den Telefonhörer am Ohr, schaute verwundert über den Bildschirmrand. Er bot ihr einen der grasgrünen Äpfel an, die plötzlich wie durch ein Wunder auf seinem Schreibtisch lagen, während er am Telefon die immer gleichen Fragen stellte. Sie betrachtete das Obst misstrauisch, rieb, bis es glänzte, dann biss sie vorsichtig hinein. Die Säure fühlte sich angenehm frisch an. Sie ließ sich Zeit beim Kauen. Zeit, die sie brauchte, um sich auf das unvermeidliche Gespräch mit der gefährlichen Pathologin vorzubereiten.

»DS Hegel!«, freute sich Dr. Barclay mit einer Stimme, als hätte sie eine 0909 Nummer gewählt. »Ich wusste, Sie würden anrufen. Im Augenblick habe ich allerdings sehr wenig Zeit für Sie …«

Chris dankte dem Himmel. »Kein Problem, Doctor«, unterbrach sie schnell. »Ich habe nur eine ganz kurze Frage zu Ihrem Obduktionsbericht.«

Ein langgezogenes »Jaaa?« war die Antwort.

»Der Tote hat das Medikament Thymoglobulin im Blut, und Sie erwähnen explizit, dass kein Tacrolimus nachzuweisen ist. Was bedeutet das?«

»Eine kurze Frage, sagten Sie. Meine Liebe, die Antwort könnte dauern. Wollen Sie nicht lieber …«

»Ein knapper Hinweis würde mir genügen.« Mit der Elektronik der Telefonverbindung zwischen ihnen war es leichter, Abstand zu wahren, fand Chris.

»Wie Sie meinen.« Sie hörte Dr. Barclay die Enttäuschung an. »Also, kurz gesagt geht es um Folgendes: Die Schweineniere wurde dem jungen Mann höchstens zwei Wochen vor dem Tod eingepflanzt. In dieser Phase von Leber- und Nierentransplantationen ist es üblich, Medikamente wie ›Prograf‹, also Tacrolimus, zu verabreichen, ein Immunsuppressivum. Das Immunsystem wird dadurch geschwächt, das fremde Gewebe wird besser angenommen. Dass er kein ›Prograf‹ erhalten hat, ist für mich unverständlich.«

»Thymoglobulin statt ›Prograf‹?«

»Nein, die beiden ergänzen sich. Thymoglobulin wird verwendet, um akute Abwehrreaktionen zu verhindern. Es tötet T-Lymphozyten, weiße Blutkörperchen. Die Behandlung ist sehr heikel, da sich der Patient extrem leicht infizieren kann, weil sein Abwehrsystem nicht mehr funktioniert. Daher die schwere Lungenentzündung. Die Thymoglobulin-Therapie findet deshalb praktisch ausschließlich in keimfreien Klinikräumen statt.«

»Herzlichen Dank, Doctor. Sie haben mir sehr geholfen.«

Sie legte auf, bevor die Pathologin doch noch mehr Zeit für sie erübrigen konnte.

»Neues von Mad Barclay?«, fragte Ron grinsend.

»Allerdings. Unser Container muss mit ziemlicher Sicherheit auch eine moderne Klinik sein.«

Kapitel 3

South Kensington, London

Wieder hörte Chris das ungewohnte Geräusch. Mit geschlossenen Augen drehte sie sich auf den Rücken. Es war Samstagmorgen. Gab es einen Grund, die Augen aufzuschlagen? Das hartnäckige Geräusch. Sie blinzelte. Es war düster im Zimmer. Die weiße Decke wirkte alt und grau. Das Geräusch kam vom Fenster. Ein steifer Wind schmetterte schwere Tropfen an die Scheibe. Das Trommeln hatte sie geweckt. Mürrisch schaute sie auf die Uhr und sprang mit einem Satz aus dem Bett. Schon nach neun. Sie erinnerte sich plötzlich wieder an den Grund für das Aufstehen am freien Samstag. Die Gründe, um genau zu sein. Während der hektischen ersten Woche beim Yard war so ziemlich alles Private liegen geblieben. Morgens vor sieben ohne Frühstück aus dem Haus, nachts kaum vor Mitternacht ins Bett, todmüde und doch den Kopf voll neuer Eindrücke, Theorien und Zweifel, die sie lange nicht einschlafen ließen. Ihr neues Leben in der City war geprägt von einem eklatanten Mangel an Zeit. Das Apartment brauchte dringend eine Putzfrau, obwohl sie es kaum benutzte. Die Umzugskartons in Flur und Wohnzimmer blickten sie mit jedem Tag vorwurfsvoller an. Sie war weit davon entfernt, den Rhythmus zu finden, den man hier brauchte, um längere Zeit unbeschadet zu überleben. Sie hatte nicht einmal ihre Dreizimmerwohnung im Griff, geschweige denn ihr gesellschaftliches Leben.

»Welches soziale Leben?«, fragte sie die sperrige Schachtel mit dem Aufdruck ›BILLY Bookcase‹.

»Alles braucht seine Zeit«, antwortete die Schachtel.

»Und genau die habe ich nicht.«

Was konnte sie anderes erwarten von einem Stück Pappe. Sie schlurfte lustlos in die Küche. Die stumme Zwiesprache mit dem Kühlschrank blieb kurz und heftig. Nach einem Blick ins leere Eierfach schlug sie ärgerlich die Tür zu. Brot gab es zwar, aber ihr fehlte das Beil. Und draußen regnete es von allen Seiten, als hätte der Himmel beschlossen, die Stadt einmal gründlich zu waschen.

»Das ist gemein, weißt du das?«, schalt sie den Kühlschrank.

Vorsichtig, als dürfte sie nicht stören, prüfte sie die Kaffeemaschine, ihre letzte Hoffnung auf ein menschenwürdiges Erwachen. Bohnen waren da, Wasser auch, mehr brauchte sie nicht. Mit der Belebung ihres Geistes flammte die Erinnerung an ihr fehlendes Sozialleben wieder heftig auf. Überrascht stellte sie fest, dass sie möglicherweise ein Problem hatte. »Du lässt niemanden an dich ran«, hörte sie ihre Mutter händeringend ausrufen. Sie hatte den Vorwurf nie begriffen. Die lange Ausbildung, die ersten, harten Jahre in Wiesbaden, die geschlossene Gesellschaft in Oxford, zwei, drei lockere Affären, an ein anderes Leben hatte sie nie gedacht. Soziale Kontakte musste sie nie suchen, sie waren einfach passiert. Bisher.

 

»Bis jetzt hast du dich auch nie mit Schachteln unterhalten«, sagte ›BILLY‹.

Höchste Zeit, etwas dagegen zu unternehmen. Wozu gab es Nachbarn? Sie duschte, zog dem schlechten Wetter zum Trotz das ärmellose Top zu den engen Jeans an und eilte die Treppe hinunter zu ihrer neuen Bekannten.

»Chris«, rief Kate erfreut. »Guten Morgen. Kommen Sie herein.«

Chris zögerte. »Ich möchte nicht stören. Ich hätte nur eine Bitte. Haben Sie eventuell zwei Eier für mich übrig?«

»Sie haben noch nicht gefrühstückt«, lachte Kate. »Kommen Sie herein, keine Widerrede. Ich habe auch Speck und Bohnen.«

Die Ausrede lag ihr auf der Zunge, aber der Gedanke an ihr Sozialleben ließ sie doch eintreten. Die verspielte Wohnungseinrichtung, die Pastellfarben und Rüschen an den Vorhängen muteten an, als wohnte hier ein romantischer Teenager. Sie schätzte Kates Alter auf etwa 35, ähnlich wie ihres. Auch die äußerliche Ähnlichkeit war erstaunlich. Selbst die Andeutung einer Stupsnase fehlte nicht. Nur im Geschmack unterschieden sie sich fundamental.

Kate stellte ein perfektes Arrangement mit Spiegelei, Speck, weißen Bohnen und gegrillter Tomate vor sie hin. Es duftete zu verführerisch, um zu protestieren. Sie ließ sie eine Weile in Ruhe essen, dann fragte sie unvermittelt:

»Sie arbeiten bei Scotland Yard?«

Chris nickte langsam. »Woher …«

»Im Haus wird getuschelt«, lachte Kate. »Es sind nicht alle so sprachlos, die hier wohnen. Mr. Henderson, der Hausmeister, zum Beispiel. Der redet gerne. Er hat die vertrauliche Information wohl von der Hausverwaltung. Aber ich hab’s nicht weitergesagt.«

Chris zuckte die Achseln. »Es ist kein Geheimnis. Von mir aus darf es jeder wissen.«

»Mein Gott, ich stelle mir das aufregend vor, wie im Fernsehen. Völlig falsch und irre, nicht wahr?«

Chris schmunzelte. »Ich schaue selten Krimis, und wenn, dann alte Filme mit rauen Sitten, wo sich der Gute nur durch den fehlenden Schlips vom Bösen unterscheidet.«

Kate nickte begeistert. »Humphrey Bogart, Michael Caine, Bob Hoskins.«

»Eher den französischen ›Film Noir‹, Delon, Belmondo, die Art. Ich war einmal richtig verknallt in Alain Delon.«

»Oh, kenne ich leider nicht. Na ja, so wie in den Filmen wird’s wohl bei Scotland Yard nicht zugehen. Trotzdem beneide ich sie ein wenig.«

»Wieso das denn?«, wunderte sich Chris. Sie liebte ihren Job, hielt sich aber für eine Ausnahme. Welcher normale Mensch mit hervorragender Ausbildung wollte sich schon freiwillig mit Gewalt, Mord und Totschlag beschäftigen, bei bescheidenem Gehalt und jeder Menge unbezahlter Überstunden. Sie musste eine psychisch gestörte Ausnahme sein, anders konnte sie sich ihr Verhalten selbst nicht erklären.

Kate hatte andere Vorstellungen: »In Ihrem Job blicken Sie hinter die Fassaden, lernen die wahre Natur und die dunklen Geheimnisse der Leute kennen. Das ist doch viel interessanter, als Termine von Patienten und Ärzten zu koordinieren. Ich bin Arztgehilfin, müssen Sie wissen.«

»Ärzte haben manchmal auch ihre dunklen Seiten«, murmelte Chris beim Gedanken an Mad Barclay.

Kate überraschte mit der prompten Antwort: »Oder Ärztinnen.«

Chris’ Telefon piepste. Mit einer Entschuldigung zog sie es aus der Tasche. Der Bildschirm zeigte den Empfang einer neuen E-Mail an. »Letzte Warnung!«, stand im Betreff.

Liebe KollegInnen,

heute Nachmittag ist es soweit. Ich werde euch für zwei Jahre verlassen. Wie schon angekündigt, sind alle, die sich über meinen Abgang freuen oder um mich weinen werden, herzlich eingeladen. Ab 14 Uhr geht’s los im Jazz Keller des Big Bang. Bier und Bangers hat’s, solang’s hat.

Euer Marcus

Sie hatte Marcus’ Ankündigung völlig verdrängt. Auf seine erste Mail vor einem Monat hatte sie mit einem zurückhaltenden »Vielleicht« geantwortet. Damals stand noch nicht fest, wann sie ihren Job in London antreten würde. Der Hauptgrund ihres Zögerns war jedoch die reichlich chaotische und am Ende recht einseitige Affäre, die sie mit dem Abenteurer gehabt hatte.

Sie stand auf, bedankte sich bei Kate und entschuldigte sich: »Ich muss leider wieder.«

»Hab ich’s nicht gesagt? «, lächelte Kate unter der Tür. »Das meinte ich mit ›interessant‹.«

Die ›IKEA‹-Schachtel stand immer noch untätig in ihrer Wohnung herum, aber sie glotzte nicht mehr gar so vorwurfsvoll, und sie schwieg. Beinahe hätte Chris zum Kreuzschraubenzieher gegriffen, den sie am Vorabend bei Wilson gekauft hatte. Den Staubsauger ließ sie ebenso in Ruhe, denn vor dem Fenster zeigte sich der erste blaue Fleck am Himmel. Das Unwetter verzog sich. Es versprach, ein ganz ordentlicher Samstag zu werden. Entschlossen tippte sie ein paar Mal auf ihren Handy-Bildschirm. Wenn sie nicht trödelte, würde sie den 12:21h Zug ab Paddington noch erreichen. Oxford, ich komme. Von wegen kein Sozialleben.

Oxford, UK

Als Chris in Oxford auf den Bahnsteig trat, beschlich sie das angenehme Gefühl, nicht nur an einem andern, ruhigeren Ort, sondern auch in einer andern Zeit angekommen zu sein. Eine Zeit, in der irgendwie alles einfacher war, spontan, unverbindlich und doch berechenbar. Sie beschloss, zu Fuß weiterzugehen, noch einmal durch ein paar Straßenzüge zu schlendern, die sie an ihr Studium am ›CRL‹, dem topmodernen Chemical Research Laboratory, erinnerten. Ihre Hand umschloss den Griff des Saxophonkoffers unwillkürlich fester, als sie in die Museum Road unweit des Labs einbog. Hier hatte sich nichts verändert. Das gelbe Haus mit der karminroten Tür am Anfang der Häuserzeile, eines der wenigen ohne Erker, sah genau so frisch gewaschen aus wie damals, als sie es mit den zwei schweren Koffern verlassen hatte. Selbst die dicht gedrängten Fahrräder am Zaun schienen sich nicht bewegt zu haben.

Sie wagte einen Blick hinauf zum niedrigen Sprossenfenster im zweiten Stock. Ihr Schlafzimmer. Nicht gerade ein Hort der Tugend damals, in ihrer Zeit mit Marcus. Der Kindskopf hätte beinahe ihren Rauswurf provoziert. Kurz und stürmisch war ihre Affäre. Die Letzte übrigens, wie sie mit einem leisen Seufzer feststellte. Mit einem Urknall hatte sie begonnen, mit einem lapidaren »Hat Spaß gemacht« in der Cafeteria geendet. Warum war sie auf den Frauenschwarm hereingefallen wie die andern Tussis? Und warum stellte sie sich jetzt diese Frage? Sie verließ die Straße der Erinnerungen eilig. Erst unter den Platanen der St. Giles Street verlangsamte sie ihre Schritte.

Bei der Abzweigung in die Little Clarendon blieb sie unschlüssig stehen. Am ›Maison Blanc‹ gegenüber war sie noch nie vorbeigegangen, ohne wenigstens ein ›Chocolate Éclair‹ zu kaufen. Die Bäckerei übte früher eine unwiderstehliche Anziehungskraft auf sie aus. Die Kraft spürte sie heute nicht. Kopfschüttelnd schlenderte sie weiter. Wahrscheinlich gehörte sie nicht mehr hierher. Kapitel abgeschlossen. Sie hatte das Gefühl, heute würde nicht nur Marcus seinen Abschied feiern.

Die Jamsession im Keller des ›Big Bang‹ war in vollem Gange, als sie eintraf. Ein Volk füllte den engen Schlauch wie sonst um Mitternacht. Marcus war nirgends zu sehen, so packte sie das Instrument aus und gesellte sich zu Schlagzeug, Bass und Klarinette. Sie hörte ein paar Takte lang zu, dann fiel sie in den Chorus ein. »Baby Please Don’t Go«, wie passend, der Titel des uralten Blues-Standards. Aus Freude über die unerwartete Verstärkung verstieg sich der Holzbläser in eine abenteuerliche Improvisation. Die lebhafte Unterhaltung im Keller verstummte für einen Augenblick. Chris nutzte die Gelegenheit, um mit einem langgezogenen, jaulenden G zu ihrem Solo überzuleiten. Sie interpretierte den Part mit der gleichen flehenden Stimme, wie Muddy Waters ihn gesungen hatte. Ihre Zauberflöte wirkte Wunder. Nach wenigen Takten stand Marcus neben ihr, grinste übers ganze Gesicht und rief in die Menge:

»Ladies and Gentlemen, live from Scotland Yard: die wundervolle Chris!«