Digital_Pausen

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Hans Ulrich Gumbrecht, Jahrgang 1948, studierte Romanistik, Germanistik, Philosophie und Soziologie. Er lehrte an den Universitäten Konstanz, Bochum und Siegen. Seit 1989 ist er »Albert Guérard Professor in Literature« an der Stanford University. Zuletzt sind von ihm erschienen »Unsere breite Gegenwart«. (2010), »Stimmungen lesen. Über eine verdeckte Wirklichkeit der Literatur«. (2011) und »Nach 1945. Latenz als Ursprung der Gegenwart«. (2012).

Hans Ulrich Gumbrecht

Digital_Pausen

Konturen einer flüchtigen Gegenwart


zu Klampen

Inhalt

Cover

Über den Autor

Titel

Widmung

Unverhoffte Umrisse

Das größere Ganze

Nach dem Ort des Menschen im Kosmos fragen, heute

Michael Schumacher und Malaysian Air 370: Überleben als Signatur der Gegenwart

Schicksal – gibt es das noch?

»Gott ist tot.« – Was können wir mit Nietzsches Feststellung heute anfangen?

Unsterblichkeit, Glück – und Vitalität?

Das eigenartig Politische

Sozialdemokratie als europäisches Schicksal?

Die Armut der allernächsten Zukunft

Eliten von morgen: ein letztes Mal Utopie

Kann es noch ein Recht des Stärkeren geben?

Ob man »unpolitisch« sein darf?

Ethik im Namen der Tiere?

Ästhetik der grünen Bewegung?

Nation aus Provinzen

Was Deutschland so anders macht oder: Dr. Klöbners »Herkunftsabhängigkeit«

Ist die Provinz bedroht – und mit ihr das Denken?

Hölderlins Sprache und Heidelberg – strophenweise

Ist Bochum besser, als man denkt?

Hartz-IV-Provinz, Niedergang und stumpfe Melancholie

Jetzt ist Zeit für Grunewald

Schönheit aus Momenten

Die Sehnsucht nach dem Schönen der Gegenwart

Gibt es noch Anmut?

Piercings, Narben, Schmisse – von innen und außen

Zeit ohne Leidenschaft/Zeit für Balzac

Lyrik als Form für die Gegenwart

Der Herbst vom Ende der Welt

Philosophie des leeren Stadions

Impressum

Für meine Freunde

Jan Söffner und Miguel Tamen,

mit Dank für

wöchentliche Zuwendung

Unverhoffte Umrisse

Die Begrüßung an der Rezeption des schönen Kölner Hotels, in dem am letzten März-Wochenende 2011 für mich ein Zimmer reserviert war, hätte bedeutungsvoller und prägnanter nicht ausfallen können: »Frank Schirrmacher, der Herausgeber der ›Frankfurter Allgemeinen Zeitung‹, erbittet Ihren Rückruf baldestmöglich, es gehe um eine äußerst wichtige, persönlich folgenreiche Entscheidung.« Mit Mühe und Konzentration konnte ich gerade noch die insistierenden Angebote abwehren, doch sofort von der Rezeption aus Schirrmachers Nummer zu wählen. Ich wusste ja, wie unverrückbar effizient er seinen Willen auch anlässlich ganz durchschnittlicher Situationen deutlich machte. Und dass fast jede Äußerung in seinem kurzen Leben auf Hochfrequenz geschaltet war, widersprach nicht meiner – in unserer gemeinsamen Eile bis zum Ende immer zu vagen – Erfahrung, dass Frank ein guter, ohne Ausnahme verlässlicher, sorgender, auf seine Weise ganz und gar zugewandter Mensch war.

Also rief ich von dem Upgrade-Zimmer mit Domblick gleich zurück, zuerst die Nummer, die man mir an der Rezeption gegeben hatte, dann all die anderen Schirrmacher-Nummern, die in meinem Notizbuch standen, traf wie immer bei solchen Gelegenheiten auf viele freundliche Sekretärinnen, FAZ-Mitarbeiter und Anrufbeantworter und dachte mir, auch wie immer und etwas ungeduldig, dass dies wohl eine lächerliche Strafaktion sei für einen Rückruf, der nicht unmittelbar gekommen war, bis sich dann, unerwartet schon, die lebendige Stimme meldete: »Es hängt sehr viel davon ab, dass du einen Blog für unsere Online-Ausgabe schreibst, wöchentlich, ab nächsten Monat, absolut freie Themenwahl.« Damals, vor weniger als fünf Jahren, standen den großen Zeitungen ihre finanziell und inhaltlich enttäuschenden Erfahrungen mit den elektronischen Ausgaben noch bevor, und außerdem verstand es Frank Schirrmacher wie wirklich kein anderer, seinen Gesprächspartnern für entscheidende Sekunden eine scharfe Gewissheit von der eigenen Bedeutung einzureden (das Wort »Alleinstellung« fiel). Für einen kleinen Moment aber noch hielt ich dagegen: Nichts liege mir ferner, bei meiner Phobie gegen alle elektronischen Kommunikationsformen und bei dem würdig-langsamen Rhythmus meiner Professoren Arbeit, als ein wöchentlicher Online-Blog, »vielen Dank natürlich, aber keinesfalls«. Dann kam, statt Gegenargumenten, ein finanzielles Angebot, das selbst mit einigen Revisionen nach unten während der folgenden Tage zu gut blieb, als dass ich mir ein »Nein« leisten wollte. Mit den technischen Anforderungen würde ich schon zurechtkommen, sagte der Herausgeber, da gebe es viele kompetente Mitarbeiter in Frankfurt, und, ja, die Leser-Antwortfunktion könnte, ausnahmsweise in dieser Gattung, für mich abgestellt werden, wenn ich denn so sehr um mein Zeit-Budget besorgt sei: »Wichtig ist nur, dass du einmal in der Woche schreibst, egal wie kurz oder lang, egal worüber.«

Zweihundert Wochen und 190 Blog-Einträge später (wir haben seit Oktober 2014 einvernehmlich auf einen 2-Wochen-Rhythmus umgestellt), fast sieben Monate nach dem jähen Tod von Frank Schirrmacher, der sich dann nur noch wenige Male, jeweils unverhofft, gemeldet hatte zu der entstehenden Blog-Reihe, immer mit irgendeinem Wort, das mir wieder diese unangemessene Gewissheit von der eigenen Bedeutung gab, dreieinhalb Jahre nach jenem Kölner Gespräch am Telefon, bin ich dem jetzt in meinem Leben fehlenden Freund dankbar für die Schreibaufgabe des Blogs, die er in meine Zeit und meine Arbeit rammte – ohne dass ich leicht und genau sagen könnte, was mir neben der zugesagten monatlichen Überweisung diese Texte eigentlich eingebracht haben. Auf geschätzte achthundert Manuskriptseiten haben sie sich angehäuft, also auf den Umfang eines quantitativ respektablen Buchs, das ich nun nicht geschrieben habe und das mir (eher als den potentiellen Lesern) fehlt. Einen Rhythmus habe ich gefunden, ziemlich unabhängig von den anderen Arbeiten, die ich zu erledigen habe: Bis Sonntagabend fällt die Entscheidung für ein Thema; bis Montagabend notiere ich, was mir zu diesem Thema einfällt und vor allem wichtig ist; ich schreibe dann, oft in kurzen Fragmenten und sehr früh am Morgen, zwischen Dienstag und Donnerstag, einen Text von zwischen vier und fünf Seiten; und richte am Freitag das Erscheinen des Blogs in der Online-Ausgabe der »Frankfurter Allgemeinen Zeitung« ein, für Samstagmorgen um 10.30 Uhr. Entscheidend verändert hat sich mein Schreiben dabei wohl nicht, anders gesagt: Ich habe sicher keine Blog-Variante für einen ohnehin wenig differenzierten Stil erfunden, wahrscheinlich war ich dafür auch schon zu alt, als ich mit beinahe dreiundsechzig Jahren das Bloggen anfing.

Doch manchmal glaube ich, dass mir die Übung geholfen hat, mittlerweile jedes halbwegs zugängliche Thema (nicht nur schriftlich) knapp und vergleichsweise transparent vorstellen zu können – so als stünden mir in allen Situationen vier bis fünf Seiten zur Verfügung. Weiterentwickelt hat sich mit dem Blog wohl auch eine spezifische Fähigkeit, auf die ich schon früh stolz war: nämlich die, auch unter ungünstigsten Umständen volle Konzentration finden und schreiben zu können. Der erste Text in dieser Sammlung ist entstanden während eines Flugs von San Francisco nach Mexiko-Stadt, auf einem wirklich engen Mittelplatz in der Economy-Klasse und hinter einem Passagier, der sich nicht entscheiden konnte, ob er schlafen (liegen) oder wach sein (sitzen) wollte; der letzte Text beschreibt das Morgenlicht in Santiago de Chile beim Warten auf das Taxi zum Flughafen, und der vorletzte geht auf Notizen zurück, die ich unmittelbar nach dem Abpfiff eines Bundesligaspiels noch im (Dortmunder) Stadion gemacht habe.

 

So etwas wie eine »Gattung«, wenigstens eine »private Gattung«, ist aus all diesen Regelmäßigkeiten und gelegentlichen Exzentrizitäten aber nicht geworden, was mir wohl über eine Art athletische Flexibilität die kleine Freude am Bloggen erhalten hat, selbst und gerade unter ungünstigsten Verhältnissen – Schlimmst- und Bestfall: Schreiben im Hotelzimmer auf der Hawaii-Insel Maui, mit der Familie unter dem Regenbogen am Strand. Schreiben im voraus ist jedenfalls ganz unmöglich, weil mit dem Eindruck verbunden, aus dem Rhythmus zu fallen und damit einen spezifischen Kontakt mit den Lesern zu verlieren, der eigenartig prekär und gerade deshalb ausschlaggebend ist – nur so kommt es zu Kakophonien der Stimmung wie der von Maui. Neben meinen Freunden Miguel (in Lissabon und manchmal Chicago), Jan (meistens in Köln) und Klaus (in Basel oder München), die meine Blog-Beiträge regelmäßig bekommen, noch bevor sie im Web erscheinen, schnell lesen und so genau kommentieren, dass ihre Reaktionen für mich längst mit den eigenen Texten zusammengewachsen sind, weiß ich von »der Publikumsreaktion« – bei ausgeblendeter direkter Antwortmöglichkeit – ausschließlich über die Klick-Zahlen, die sich beliebig oft und im Hinblick auf alle geposteten Texte abrufen lassen. (Übrigens ist mir die Niedlichkeit des Worts »Klick« im Vergleich zur beinahe brutalen Nüchternheit des amerikanischen Worts »Hit« immer etwas peinlich.) Individuelle Fragen, Proteste, Informationen und Freundlichkeiten erreichen mich zwar auch ab und an über E-Mail, aber sie gehören nicht in den Einzugsbereich einer besonderen, schnell zur Obsession gewordenen Faszination, den die Klick- und Leser-Statistik hat.

Denn diese Zahlen ohne individuelles Profil sind auch nach gut dreieinhalb Jahren in ihrer Disparität nur schwer zu interpretieren, daher auch kaum prognostizierbar und also von deutlich begrenztem Orientierungswert (der Eindruck wird von den Blogerfahrenen Mitarbeitern der FAZ bestätigt) – obwohl ich ihnen hartnäckig solche Orientierung abzugewinnen versuche. Der Text mit den meisten Klicks (er erscheint gedruckt in diesem Buch) ist zum Beispiel inzwischen um die fünfzigtausend Mal elektronisch geöffnet worden (wieviel Leser er wirklich gefunden hat, werde ich selbstredend nie wissen), während der quantitativ am wenigsten erfolgreiche Text (auch er ist hier zu finden) kaum mehr als tausend Mal besucht wurde (was gegen die angenehme Vermutung spricht, dass ich je einen »Leserstamm« gefunden hätte); meine Bemühungen, an jeweils in Deutschland laufende politische oder kulturelle Diskussionen anzuschließen, produzieren eher enttäuschende statistische Mittelwerte, und das gilt auch für vermeintlich aktuelle Themen aus dem Sport (was mit meiner chronisch verspäteten kalifornischen Perspektive zu tun haben mag). Themen zum literarischen und ästhetischen Kanon finden mehr Leser, aber regelmäßig weniger als vergleichsweise komplizierte philosophische Probleme (mit Höchstwerten für Einträge, in denen die Namen Nietzsche und Heidegger erscheinen). An jedem Wochenende aber kann sich dieses sehr langsam eine Form entwickelnde Profil der Leserinteressen etwa aufgrund der deutschen Wetterlage (im ganz unmetaphorischen Sinn) verschieben und entdifferenzieren. Konstant ist allein die permanente Überraschung – gerahmt von der Gewissheit, dass einer wie ich mit keiner anderen Publikationsform ähnlich viele Leser erreichen kann. Für mich selbst ist die Unvorhersehbarkeit der Statistiken zu einer zentralen Schreibmotivation geworden. Dabei dominiert längst nicht mehr der Ehrgeiz, möglichst viele Leser zu finden, sondern die regelmäßig erneut aufkommende Frage nach der momentanen Resonanz spezifischer Themen.

Vielleicht erklärt diese positive Irritation der Leserresonanz auch, warum der Blog selbst nach fast zweihundert Versuchen nicht das geworden ist, worauf ich heimlich gehofft hatte – weil ich darum viele Kollegen schon seit meiner Studentenzeit beneide: nämlich ein hochindividuelles intellektuelles Tage- oder Notizbuch, in dem sich nie versiegende Ideen und brillante Intuitionen (Intuitionen rangieren stets am höchsten in der Ästhetik des intellektuellen Daseins) zu einem Schatz fürs Leben anhäufen. Statt dessen lebe ich weiter von der schreibenden Hand in den Mund der Wörter- und Gedankenproduktion, wenn man so sagen kann, und der Blog hat natürlich in dieser Hinsicht eine lebenslang existierende Hektik nur verschärft. Mit der Hektik aber ist – paradoxalerweise – für mich der Hauptgewinn des Blogs verbunden, auf den inzwischen sein Titel »Digital_Pausen« anspielt (obwohl er – auch unter Zeitdruck – erfunden wurde, noch bevor der erste Text der Serie entstanden war und ich also mit Blog-Wirkungen vertraut sein konnte). Ich schreibe viel (im Vergleich zu anderen Akademikern jedenfalls), aber ich schreibe nicht schnell – und nur selten schreibe ich »leicht«. (wobei ein erstes Gefühl, »leicht« zu schreiben, fast immer Ergebnisse zeitigt, mit denen ich dann nicht zufrieden bin). Für die erste Version eines Blog-Eintrags von fünf Manuskriptseiten brauche ich um die fünf Stunden, dazu kommen im Durchschnitt zwei bis drei Stunden an Vorbereitung (Nachlesen von mir schon bekannten Texten, handgeschriebene Anmerkungen auf weißen Karteikarten) und dieselbe Zeit zur definitiven Textüberarbeitung.

Die Blog-Aufgabe verpflichtet mich also pro Folge zu etwa zehn Stunden Konzentration auf Themen, die sich nur selten mit meinen laufenden Seminaren oder langfristigen Schreibprojekten überschneiden (obwohl ich mir gerade das aus Ökonomiegründen immer wieder vornehme). So werden die Blog-Einträge innerhalb der Hektik des digitalen Alltags – und erzwungen durch sie – oft zu kompakten Inseln intellektueller Intensität, die mich bei Laune halten, bei Laune für mich selbst, für meine Studenten – und manchmal sogar für meine Familie. Auch die komplementäre Ökonomiebemühung, solche Inseln der Konzentration funktional werden zu lassen, als »Vorlauf« für Buchprojekte zum Beispiel, ist nie recht gelungen (wohl auch weil ich mir so immer gleich sehr geizig vorkomme in den statistisch neutralen Augen der Leser). Vor allem entwickelt der Blog als Serie Energie in einem Zweitakt von zeitlicher Expansion und Kompression, dessen Spannung sich mit der Publikation am Samstagmorgen entlädt. Und genau im Sinn dieses regelmäßigen Ablaufs verstehe ich jetzt das Wort »Digital_Pausen«.

»Unverhofft« ist das andere Wort, das ich am ehesten mit den Wirkungen des Blog-Schreibens verbinde. Mit der Faszination der Klick-Statistik und dem Rhythmus der Konzentrationspausen inmitten digitaler Hektik – und nun auch mit einem inhaltlichen Umriss, seit das Gespräch mit Anne Hamilton über dieses kleine Blog-Buch angefangen hat. Sie hat fünfundzwanzig aus etwas weniger als zweihundert Texten ausgesucht und in vier Blöcke gepackt, die mir gleich unheimlich vertraut vorkamen. »Unheimlich vertraut«, weil ich einerseits keine Begriffe für diesen Umriss einer Inhaltsform hatte und ihn schon gar nicht mit irgendeinem intellektuellen Plan der Vergangenheit oder Gegenwart verbinden konnte, »unheimlich vertraut« aber andererseits auch und vor allem, weil ich mir gleich sicher war, schon einmal an diesem Umriss einer Landschaft von Themen, Ideen und Intuitionen (!) entlanggegangen zu sein, Schritt für Schritt wohl, ohne Landkarte und Orientierung zwar, doch nicht ganz verloren.

Dann gab ich den vier Blöcken Namen: »Das größere Ganze« für die Unruhe, so etwas wie einen Rahmen denken zu können, der die Gestalt der menschlichen Existenz umgibt (»eine Heimat«, sagte Martin Heidegger 1929 in einer Vorlesung), einen Rahmen, der, wenn möglich, weder von Göttern bewohnt (»religiös«) noch von Menschen projiziert (»konstruktivistisch«) sein sollte, einen Rahmen, in dem auch das Glück als Erfüllung Platz haben soll. »Das eigenartig Politische« benennt eine Außenwahrnehmung von mehreren Gesellschaften in der Europäischen Union, vor allem eine Außenwahrnehmung der deutschen Gesellschaft, wo »Gleichheit« in den vergangenen Jahrzehnten zum zentralen und absoluten Wert geworden ist, der eine bedrängende Form moralischer Vigilanz aktiviert hat. »Nation aus Provinzen« steht für den nostalgischen Blick eines unmittelbar vor der Wiedervereinigung ausgewanderten Deutschen, der sich ein Bild von der »Berliner Republik« ohne ihre heißgeliebte (und wohl etwas überschätzte) Hauptstadt machen möchte. »Schönheit aus Momenten« schließlich spricht von einer Einstellung ästhetischen Erlebens, die vielfache Intensitäten im Alltag entdeckt und es zugleich da, wo das Erleben zur Erfahrung wird, vermisst, von der plötzlichen Kraft des Erhabenen überwältigt zu werden.

Diese vier Blöcke fügen sich nicht zu einer kohärenten oder gar systematisch zu begründenden philosophischen Position zusammen, die bestimmte Prämissen zum Fundament hätte und so die Ableitung von Folgen und Schlüssen ermöglichte. Bestenfalls kommen also die Blöcke zusammen in einem aus dem Rhythmus der »Digital_Pausen« entstehenden Umriss, der sich nachzeichnend und verstärkend vielleicht zu einem intellektuellen Profil konturieren ließe. Doch ein Umriss, das ist gar nicht so wenig in unserer breiten Gegenwart der Simultanitäten, wo alle Vergangenheiten zugänglich bleiben oder wieder zugänglich werden und alle denkbaren Zukünfte via Simulation in das Jetzt geholt werden können. Diese Gegenwart erleben wir nun schon seit Jahrzehnten als ein Feld der Kontingenz, wo sich jeder Schritt im Bewusstsein von zahlreichen Alternativen vollzieht, die die Urteilskraft zu eliminieren und zu neutralisieren hat, als ein Feld der Kontingenz auch, das begrenzt ist von den Margen dessen, was uns notwendig erscheint oder unmöglich.

Mittlerweile ist dieses – immer noch begrenzte – Feld der Kontingenz offenbar dabei, sich in ein Universum der Kontingenz zu verwandeln, weil einerseits die bisher verbliebenen Bestände des Notwendigen zum bloß Möglichen werden (das Geschlecht zum Beispiel, in das man geboren wird, hat nicht mehr den universalen Status, Schicksal zu sein), während andererseits alles bisher Unmögliche konkret möglich werden soll (etwa ist biologische Unsterblichkeit als maximale Herausforderung zu einer Aufgabe medizinischer Forschung geworden). Diese Entgrenzung des Felds der Kontingenz zum Universum der Kontingenz, wo ohne Ausnahme jeder Gegenstand der Wahrnehmung und der Erfahrung in den Status des Möglichen rückt, diese flüchtige Gegenwart lässt sich als kollektiver und individueller Freiheitsgewinn feiern – oder als Überlastung der Urteilskraft fürchten. In Reaktion auf die Überforderung der Urteilskraft wird – möglicherweise – eine Zeit der Heilslehren heraufkommen, und vielleicht ist ja der allenthalben zu vernehmende Ton der »Self Help«-Ermutigungen schon eine erste, noch harmlose Ouvertüre in dieser Hinsicht.

Auf solche »Self Help«-Ermutigung oder gar auf ethische Handreichungen habe ich mich noch nie eingelassen – vor allem wohl, weil ich den Eindruck habe, den je nächsten eigenen Schritt viel häufiger zu stolpern, als im hehren Bewusstsein seiner Richtigkeit zu vollziehen. Entlang dem Rhythmus konzentrierter Pausen mir eine Kontur erschrieben zu haben, anscheinend, fasse ich deshalb als Ermutigung auf. Für Frank Schirrmacher, der mich auf diese Bahn bugsiert hat, klänge dies vielleicht zu bescheiden – aber leider ist es ja zu spät geworden, um auf seine Reaktion zu warten.

Stanford, Kalifornien, im Januar 2015

Das größere Ganze

Nach dem Ort des Menschen im Kosmos fragen, heute

Eine komplexere, anspruchsvollere, aber zugleich weniger vermeidliche und hilflosere Frage kann man gar nicht stellen als die nach dem Stellenwert des »Menschen« im Universum. Sie ist auf der einen Seite und im konkreten Sinn eine unmögliche Frage, weil wir trotz aller naturwissenschaftlichen Fortschritte nicht genug über das Universum wissen, um auch bloß dessen Form (gibt es ein Außen zum Universum?) und grundlegende Bewegung (befindet es sich in einer Phase der Expansion oder der Kontraktion?) als Vorgaben zur einer Antwort voraussetzen zu können. Auf der anderen Seite existiert die – nicht in empirische Gewissheit zu überführende – Tradition, das Bewusstsein als jenes Merkmal anzusehen, durch das die Menschen von allen anderen Gattungen des Lebens unterschieden sein sollen (»ungewiss«, weil wir nie definitiv wissen werden, ob anderen Gattungen Funktionsäquivalente oder wenigstens strukturelle Ähnlichkeiten zu jenem Phänomen gegeben sind, das wir »Bewusstsein« nennen).

 

Es mag mit der Selbstbeobachtung als einer zentralen Struktur und Möglichkeit des Bewusstseins zu tun haben, dass man das Problem und die Frage nach seinem grundlegenden Ort nicht aufschieben oder gar abstellen kann, obwohl doch in aller Prägnanz deutlich ist, dass elementare Voraussetzungen zu ihrer Lösung fehlen. Am Horizont unserer institutionalisierten Wissensstrukturen oszillieren deshalb die Intuitionen und Reflexionen, welche jene Frage anstößt, in spezifischer Weise zwischen naturwissenschaftlichem und philosophischem Denkstil, wie rasch vorbeiziehende, aber uns nie ganz verlassende Wolken des Denkens. Wir sind zum Beispiel immer wieder fasziniert von Statistiken, welche die Wahrscheinlichkeit oder Unwahrscheinlichkeit der Existenz menschenähnlicher Lebensformen im Universum hochrechnen (mein Eindruck ist, dass sie am Ende immer – überraschend und enttäuschend – unschlüssig bleiben); zum naturwissenschaftlichen Denkstil gehören natürlich auch seit zwei Jahrhunderten all die vielfältigen Bemühungen, das menschliche Leben und in seinem Zentrum das Bewusstsein als ein Produkt der Evolution in den Blick zu bringen. Die von der Frage nach dem Ort des Bewusstseins im Universum ausgelösten philosophischen Spekulationen hingegen sind eher durch eine Nähe zu theologischen Denk-Traditionen gekennzeichnet: etwa im Nachdenken über eine dem Bewusstsein vielleicht zukommende besondere Bestimmung im Rahmen des Universums und seiner eigenen Zeit oder – begrifflich grober und psychisch erfahrungsgemäß beunruhigender – als Motivation der elementarsten philosophischen Frage, wie nämlich zu erklären sei, dass es etwas gibt – und nicht nichts.

Vor kurzem hat der prominente analytische Philosoph Thomas Nagel von der New York University ein Buch unter dem Titel »Mind and Cosmos« veröffentlicht, in dem er eine seit geraumer Zeit grassierende Skepsis gegenüber evolutionären Erklärungen zur Genese des menschlichen Bewusstseins entscheidend verstärkt (für philosophisch weniger interessierte Leser: Der heute »analytisch« genannte Gestus der Philosophie ist durch die Bemühung gekennzeichnet, seine Argumentationen unter Berücksichtigung formaler Kriterien aus der Logik und sogar aus der Mathematik zu entwickeln). Wir können voraussetzen, schreibt Nagel, dass man weiß, »was es ist, ein Mensch zu sein«: Noch vor aller Individualisierung setzt der Gebrauch des Personalpronomens »Ich« eine Grundstruktur und Grunderfahrung voraus, in der psychische wie physische Elemente des Selbst-Erlebens untrennbar verknüpft sind, und zwar unter einer Konfiguration, die wir alle erleben und kennen, ohne dass wir sie ohne weiteres beschreiben könnten. Dieses zugleich psychische und physische Grunderleben des »Ich«, fährt Nagel – für mich überzeugend – fort, ist für den auf organische Entwicklungen konzentrierten Diskurs der Evolution nicht erreichbar (und aufgrund seiner Zweidimensionalität ebensowenig für ausschließlich psychische Erklärungen). Anders gesagt: Jede ausschließlich auf der einen oder der anderen Ebene entwickelte »Erklärung« des menschlichen Bewusstseins muss als reduktionistisch kritisiert werden. Ein Diskurs oder eine Perspektive aber, welche beide Ebenen ungetrennt vereinte, ist in unseren begrifflichen Traditionen nicht vorgegeben (und steht deshalb – vorerst wenigstens – auch nicht zur Verfügung).

Deshalb hat sich eine Diskontinuität zwischen dem naturwissenschaftlichen Diskurs der Evolution und dem Phänomen unseres Bewusstseins eröffnet, in der eine seit Darwin weitervererbte Gewissheit über den Ort des Menschen im Kosmos verlorengeht – was erhebliche existentielle Folgen haben könnte. Dass der Diskurs von der Evolution des Menschen keinesfalls die einzige narrativ verfahrende Erklärung ist, welche derzeit in den Schatten destruktiver Skepsis gerät, steht auf einem anderen faszinierenden Blatt aus der Gegenwart der Wissensgeschichte. Um jedenfalls die Lücke zwischen der Evolutionsgeschichte des menschlichen Körpers und unserem Erleben des Mensch-Seins als Bewusstsein füllen zu können, bedürfte es eines Paradigmas, das zu liefern derzeit weder die Naturwissenschaften noch die Philosophie imstande sind. Natürlich bleibt es weiter möglich, auf religiöse, mythologische und im weitesten Sinn literarische Erklärungs- und Vermittlungsangebote zurückzugreifen, doch ich glaube, dass sie selbst bei Gläubigen unserer Gegenwart den verlorengegangenen Effekt nicht vollständig ersetzen würden.

Denn es scheint eine Art von existentiellem Bedürfnis nach intellektueller Sicherheit zu geben, das heute allein die Wissenschaft bedienen kann. Vor einem guten Vierteljahrhundert hatte Thomas Nagel die – grundlegend andere – Frage gestellt, ob wir je wissen werden, »was es ist, eine Fledermaus zu sein«. (oder irgendein anderes Tier), und nachgewiesen, dass solche Introspektion zwischen Gattungen undenkbar ist. Gewiss, wir haben ein Überangebot von literarischen Texten, deren Autoren sich in die Perspektive von Tieren »hineingedacht« haben – doch kaum jemand wird sie heute als im Ernst befriedigende Antworten auf jene Art von Frage akzeptieren.

Die vorerst jedenfalls offen bleibende Lücke zwischen organischer Evolution und Erleben des Bewusstseins aber versucht Nagel in für mich überraschender Weise zu füllen. Offenbar als abstrakte Vorgabe für neue wissenschaftliche Bemühungen der Zukunft postuliert er einen Diskurs, der physische wie organische Elemente und Entwicklungsstufen in einer »integrierten Konzeption« vereinigen und als zielgerichteten (»teleologischen«) Prozess beschreiben soll. Nur so, scheint Nagel zu argumentieren, halten wir uns die Möglichkeit offen, ausgehend von einem evolutionär fundierten Begriff des Bewusstseins eines Tages Werte annehmen und voraussetzen zu können, die sich nicht als »subjektiv« relativieren und schließlich einklammern lassen. In dieser philosophischen Bewegung sehe ich ein Symptom für die – selbstverständlich nachvollziehbare – Hoffnung, eine kosmische Ordnung als Prämisse unserer individuellen und kollektiven Existenz voraussetzen zu dürfen.

Nicht allein für mich scheint freilich eine Reaktion auf die identifizierte evolutionsgeschichtliche Lücke denkbar und der Ordnungsprämisse vorzuziehen – welche Thomas Nagel vielleicht etwas vorschnell ausblendet. Es ist die Möglichkeit, die Entstehung unseres Bewusstseins als kosmologisch kontingent anzusehen, das heißt als weder notwendig (wie die Evolutionisten unterstellten und auch Nagel wieder unterstellen möchte) noch unmöglich (so unwahrscheinlich sie auch in der Retrospektive aussehen mag). Wir wissen, dass das existiert, was wir »Bewusstsein« nennen – aber setzen anstelle eines Notwendigkeitsanspruchs voraus, dass es auch nicht hätte entstehen können und sich vielleicht in einer (nach evolutionären Kriterien) nahen Zukunft als kosmische Einbahnstraße oder sogar als kosmischer Irrweg erweisen und verschwinden wird.

Dieser Horizont-Gedanke von der Möglichkeit der Unmöglichkeit menschlicher Existenz (genau so ist es gemeint: als die Möglichkeit einer Unmöglichkeit) löst natürlich die für Nagel offenbar so wichtige Chance auf, Werte kosmologisch abzuleiten und zu fundieren. Doch derselbe Gedanke kann auf der anderen Seite durchaus ein lebensbejahendes Gefühl intensivieren, das Philosophen vor gut einem halben Jahrhundert »Existenzfreude« nannten. Diese Existenzfreude lässt sich dann noch einmal steigern durch den – bereits erwähnten – weiteren Horizont-Gedanken, dass das Universum, so wie es existiert, auch nicht existieren könnte. Beide Schritte, sowohl die Perspektive auf die Emergenz unseres Bewusstseins aus Kontingenz wie der Gedanke an die Möglichkeit einer Nicht-Existenz des Kosmos, schließen das Sein eines Gottes zwar nicht aus, doch sie haben es andererseits nicht nötig, dieses Sein als Gewissheit anzunehmen. Auch darin, in der Möglichkeit, unsere menschliche Existenz ohne Gott zu denken, liegt für mich Potential ihrer Affirmation. Doch an dieser Stelle fällt ein fast bekenntnishafter Tau über meine Argumentation – und es wird Zeit aufzuhören.