Schweizer Bahnen

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Schweizer Bahnen
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Hans-Peter Bärtschi

Schweizer Bahnen 1844–2024

Mythos, Geschichte, Politik

Mit 202 Abbildungen

Orell Füssli Verlag, www.ofv.ch

© 2019 Orell Füssli Sicherheitsdruck AG, Zürich

Alle Rechte vorbehalten

Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt. Dadurch begründete Rechte, insbesondere der Übersetzung, des Nachdrucks, des Vortrags, der Entnahme von Abbildungen und Tabellen, der Funksendung, der Mikroverfilmung oder der Vervielfältigung auf andern Wegen und der Speicherung in Datenverarbeitungsanlagen, bleiben, auch bei nur auszugsweiser Verwertung, vorbehalten. Vervielfältigungen des Werkes oder von Teilen des Werkes sind auch im Einzelfall nur in den Grenzen der gesetzlichen Bestimmungen des Urheberrechtsgesetzes in der jeweils geltenden Fassung zulässig. Sie sind grundsätzlich vergütungspflichtig.

Umschlaggestaltung: Hauptmann & Kompanie Werbeagentur, Zürich, unter Verwendung eines Fotos von © swim ink 2 llc / Kontributor / Getty Images

ISBN 978-3-280-05691-2

eISBN 978-3-280-09077-0


Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet unter www.dnb.de abrufbar.

Inhalt

Einleitung

Zeitabschnitt 1844–1903: Privatbahnen für Privatbanken

Bundes- oder Privatbahnen? Alfred Escher setzt sich – vorerst – durch

Börsenspekulationen, Privatbahnkonzerne und der Eisenbahnkrach

Grossartige Tiefbauten der Haupt- und Nebenbahnen, sparsam erstellte Hochbauten

Die Abhängigkeit von importierten Energieressourcen

Katastrophen verhindern mit Unterhalt und Mechanik

Das Rollmaterial: von der Ausland- zur Inlandherstellung

Arbeiten für die Bahn: 110-Stunden-Wochen und monatlich anderthalb freie Tage

Immer mehr Güterverkehr, immer schnellerer Personenverkehr

Wasserwege und Strassen – die Eisenbahn im Rahmen des Gesamtverkehrs

Zeitabschnitt 1904–1963: Staatliche Bahnen für Industrie-Investitionen

Verstaatlichung, Politik und Gesetze in Kriegs- und Krisenzeiten

Verschuldung und Staatskapital für Modernisierungen

Bahnvollendungen, Infrastrukturausbau und Strassenbahn-Stilllegungen

Weltweit einzigartig: die hundertprozentige Elektrifizierung

Elektrifizierung auch der Eisenbahnsicherungstechnik

Die stärkste Lokomotive, die modernsten Wagen der Welt

Die Werktätigen im Krisen- und Kriegszustand

60 Jahre Personen- und Güterverkehr unter Bundesdominanz

Die Bahnen im Rahmen der gescheiterten Gesamtverkehrskoordination

Zeitabschnitt 1964–2023: Bahnen subventionieren die Bau- und Ausrüstungswirtschaft

Von der Expo 64 zur Bahnreform im globalen Spannungsfeld

Investitionen für eine Renaissance des Schienenverkehrs

Bahn 2000 und Alptransit: Baumilliarden für den Regional- und den Transitverkehr

Die SBB behalten ihre Kraftwerke

Teure Bahnsicherheit, unsichere Öffentlichkeit

Globalisierung der Rollmaterialindustrie, Vereinsaktivitäten für Nostalgiefahrzeuge

Kulturrevolution in den Chefetagen, Gürtel-enger-schnallen beim Personal

Zusammenschluss und Aufsplitterung des öffentlichen Verkehrs

Grenzenlose Mobilität auf Kosten der Umwelt und der Steuerzahler

Anhang

Beteiligte

Anmerkungen

Ausgewählte Quellen

Einleitung

Schweizer Bahnen – ein Mythos? Die vorliegende Geschichte zeigt in drei Teilen von je sechzig Jahren das Entstehen, die Höhepunkte und das Verharren des Mythos: die Finanzierung und den Bau der längsten Tunnel der Welt, die Planung der ersten Zahnradbahn, der höchsten Bergbahn und der höchsten Alpenquerung Europas, die Pionierwerke der frühen Elektrifizierung mit ihren leistungsfähigsten Kraftwerken, höchsten Staumauern und stärksten Lokomotiven der Welt. Und nun, gefördert durch die Umweltproblematik, sind die Schweizerinnen und Schweizer Weltmeister im Bahnfahren. Ein Mythos birgt auch die Gefahr, unfassbar mystisch zu werden, zur Mystifizierung zu verkommen, also zur Täuschung, zur Vorspiegelung und zur Irreführung. Solch glorifizierende Werke zur Geschichte der Schweizer Bahnen gibt es zuhauf. Um das Thema zu verankern, ist jeder Zeitabschnitt in neun Kapitel gegliedert: 1. Politik, 2. Finanzierung, 3. Bau, 4. Energie, 5. Sicherheit, 6. Rollmaterial, 7. Personal, 8. Betrieb und 9. Gesamtverkehr.


Die Rheinbrücke bei Etzwilen ermöglicht der Winterthurer Nationalbahn einen Anschluss nach Deutschland, nachdem die Zürcher Nordostbahn bereits Schienenverbindungen in Schaffhausen und Koblenz erstellt hat. Die teuren Brückenbauten sind ein Grund für den Konkurs der Bahn.

H. P. Bärtschi 1977

Zeitabschnitt 1844–1903: Privatbahnen für Privatbanken
Bundes- oder Privatbahnen? Alfred Escher setzt sich – vorerst – durch

Die Verkehrsgeschichte zwischen der Eröffnung der ersten Eisenbahn auf Schweizer Boden am 15. Juni 1844 und der Verstaatlichung der Hauptbahnen in den Jahren 1901 bis 1909 ist geprägt von der Expansion und den Krisen von fünf privaten Bahnkonzernen. Sie gruppieren sich um die alten Machtzentren Basel, Zürich, St. Gallen, Bern und Luzern.

Kleinere Bahngesellschaften saugen sie auf oder sie belassen sie als Nebenbahnen. Sie schaffen weitgehende regionale Transportmonopole und übertragen die Anstossfinanzierung und die Krisenfolgen der öffentlichen Hand.

Die Dampflok Limmat in voller Fahrt: Die Rekonstruktion zum 100. Geburtsjahr von 1947 dient der nationalen Eisenbahn-Identität.

Flughafenbahn-Einweihung, H. P. Bärtschi 1980.

Erste Eisenbahnprojekte scheitern am Kantönligeist

Schienenbahnen sind seit dem späten Mittelalter auch in der Schweiz bekannt.1 Um 1800 kommen in England, Frankreich und Russland «Dampfkraftwagen» auf. 1825 weiht George Stephenson mit seiner «Locomotion» zwischen Stockton und Darlington die erste öffentliche Dampfeisenbahn ein. 1829 führt die Liverpool and Manchester Railway nach der Ausschreibung eines Wettbewerbs ein Wettrennen bei Rainhill durch, das Stephenson mit seiner Dampflok «Rocket» gewinnt.2 20 Jahre später sollte sein Sohn Robert Experte für den Bahnbau in der Schweiz sein. Bereits 1835 drängen Zürcher Unternehmer auf den Bau von Eisenbahnen. Am 11. März 1836 verlangt die kantonale Handelskammer den Zusammenschluss der projektierten Bahnen von Strassburg nach Basel und von Augsburg nach Lindau – natürlich über Zürich. Die Regierung soll mit öffentlichen Geldern eine der wichtigsten Erfindungen der neueren Zeit, die Eisenbahn, fördern, damit die Schweiz nicht zurückbleibe. Private Handelsleute rechnen sich mit ihren Eisenbahninvestitionen hohe Dividenden aus, appellieren aber an den Staat, dass «ohne die thätige Mitwirkung sämmtlicher Cantonsregierungen eine blosse Privatgesellschaft mit den sich entgegenstellenden Hindernissen nie ferotig werden könne».3 In Zürich sind die Liberal-Radikalen seit der Pariser Julirevolution von 1830 an der Macht. Sie vollenden die 1798 begonnene Privatisierung des Grundeigentums und fördern mit den Erlösen die Verkehrs- und Industriefinanzierung: Gemeinden, Kantone und Private verlieren die jährlichen Einnahmen aus Zehntenabgaben und Grundzinsen, erhalten aber die einmaligen Loskaufsummen von den Bauern. Vor allem Kleinbauern müssen sich privat verschulden und sich über Wasser halten mit Landverkäufen, mit Milchwirtschaft anstelle des Ackerbaus und als Rucksackbauern mit Fabrikarbeit. Im schweizerischen Vergleich setzen die Zürcher Liberalen mit dem Ablösungsgesetz von 1831 das kapitalistische Privateigentum besonders radikal durch. Die öffentliche Hand, bisher zu rund der Hälfte von Grundeigentumseinnahmen finanziert, führt neue Steuern ein, unter Schonung der Privatvermögen und der hohen Einkommen. Die neuen Finanzmittel ermöglichen den Ausbau eines Netzes von guten Fahrstrassen. Die allgemeine Schulpflicht kommt, Kantonsschule, Kantonsspital und die Universität werden neu eingerichtet.4

 

Die Schweiz als weisser Fleck (unten): Verkehrskarte von Mitteleuropa 1847 mit Fahrzeiten für Bahnen und Postkutschen.

Bildarchiv MTV Berlin 1937.

Betreffend den Eisenbahnbau bilden die Behörden wie so oft bei schwierigen Aufgaben eine Kommission. Sie beauftragen den vielseitigen österreichischen Techniker Alois Negrelli, zusammen mit den einheimischen Ingenieuren Sulzberger und Eschmann, die Strecke Bodensee—Zürich—Basel zu begehen, die Baukosten zu schätzen und eine Rentabilitätsrechnung zusammenzustellen. Der Expertenbericht vom 12. Juni 1836 hält fest, die Strecke der Limmat und dem Rhein entlang nach Basel könne günstig gebaut werden und weise wenig Gefälle auf. Für den Bahnbau Richtung Bodensee beginnen die Schwierigkeiten schon bei der Überwindung der Höhendifferenz zwischen Zürich und Oberstrass. Zudem quert die Bahn je nach Linienführung zwischen dem Bodensee und Basel sechs Kantone. Und wenn nicht bald ein einheimisches Kohlenlager ausfindig gemacht werde, müssten die Dampfwagen mit Rohstoff aus dem Elsass oder aus entfernteren Gebieten beheizt werden. Trotzdem verspricht die für den Bahnbau gegründete anonyme Aktiengesellschaft für das Teilstück Zürich—Basel eine Dividende von 12,25 Prozent. Leider zeigen die Zürcher und die benachbarten Aargauer und Thurgauer wenig Interesse: Italienische Investoren übernehmen fast die Hälfte, Deutsche gut einen Viertel. Gleichzeitig lancieren beide nunmehr getrennten Basler Halbkantone ihr Hauensteinprojekt, und die St. Galler möchten unter Auslassung von Zürich eine Ostalpenbahn.

Eisenbahngegner und ihr Delirium furiosum

Zwar ist das Privateigentum heilig, doch seit dem 11. März 1838 gilt im Kanton Zürich das Landenteignungsgesetz «zum Zwecke des öffentlichen Wohls», die Konzession für den Bahnbau kann erteilt werden. Doch nun wächst eine breite Opposition gegen die Liberal-Radikalen. Am Bodensee sind wegen der neuen Dampfschiffe Schiffsleute brotlos geworden. Verelendete Textilheimarbeiter und ihre Zulieferer, die Fergger, haben bereits Ende 1832 in Oberuster jene Satansfabrik niedergebrannt, in der nach Spinnmaschinen auch Webmaschinen eingerichtet worden sind.5 Und nun noch die Eisenbahn! Sie würde die Nahrungsmitteleinfuhr verbilligen und die Bauern ruinieren, den Gemeinden und Kantonen Land-, Geleit-, Weg- und Brückenzölle wegnehmen, allein im Kanton Aargau umgerechnet eine Million Franken. Ein ärztliches Gutachten beweist nach der Eröffnung der Nürnberg—Fürth-Bahn Ende 1835 wissenschaftlich, dass die Ortsveränderung mittels irgendeiner Art von Dampfmaschine die geistige Unruhe, das Delirium furiosum, hervorrufe. Zudem schwärzt das gottlose Feuerross das Korn, macht Pferde störrisch und hält Hühner vom Eierlegen und Kühe vom Milchgeben ab. Und schliesslich hat die Aktienzeichnung gezeigt, dass die Schweiz zum ökonomischen Vasallen fremder Geldtyrannen wird.6


Festliche Eröffnung der französischen Bahn in Basel, links das für die Bahn erweiterte Stadttor.

Stahlstich L’illustration Paris 1844.

Die Basel—Zürich-Eisenbahngesellschaft publiziert in der «Zeitschrift für das gesamte Bauwesen» ab 1837 Pläne für eine Linienführung mit weiten Kurvenradien und geringen Steigungen. Uneinig ist man sich noch über den Standort des Kopfbahnhofs in Zürich. Soll er im Talacker auf Stadtgebiet sein oder ohne Brücke über der Sihl auf Aussersihler Gemeindeboden? Die Bahngesellschaft findet über den berühmten George Stephenson einen Bahnbauingenieur: John Locke leitet mit dem einheimischen Vermesser Johann Wild das Geniekorps. Dieses sieht sich im Kanton Aargau behindert und angegriffen: Nivellierungsarbeiten werden lokal verweigert, bei Klingnau und im ganzen Siggental verschwinden nachts Vermessungspfähle und Signaltafeln.

Am 5. September 1839 kommt es zum «heiligen Kampf für Gott und das Vaterland», ausgerufen von konservativ-kirchlichen Führern. Am Landsturm auf Zürich nehmen 4000 Personen teil, die Hälfte mit Gewehren und Sensen. Beim Münsterhof schiesst das Militär, 15 Menschen sterben, ein liberal-radikaler Politiker flieht in Frauenkleidern, die Regierung löst sich auf.

Der «Züriputsch» bringt wieder die Konservativen an die Macht. John Locke reist nach England zurück. Nach einem vergeblichen Hilferuf an die konservative Regierung liquidiert sich die erste schweizerische Bahngesellschaft Ende 1841 und erstattet die schon einbezahlten Aktienanteile weitgehend zurück. Der Bahninitiator Martin Escher-Hess glaubt weiterhin, das neue Verkehrsmittel fördere die Volkswohlfahrt und die Bildung. Er erwirbt die Baupläne und kann sie dann mit Regierungsbeteiligung einer Interessengemeinschaft verkaufen.

Basel kommt zum ersten Schienenstrang auf Schweizer Boden

Eisenbahnen sind keine Verkehrsträger, die an Regionsgrenzen Halt machen können. Während in der föderalistischen Schweiz die politischen und juristischen Grundlagen für den Bahnbau fehlen, fördert Frankreich das neue Verkehrsmittel zentralistisch. Seit 1832 fahren dort Dampflokomotiven, seit 1839 auch nordwestlich von Basel zwischen der Industriestadt Mulhouse und dem Textilfabrikdorf Thann. Initiantin der Strasbourg—Bâle-Bahn ist die Textilindustriellenfamilie Koechlin. Sie stammt ursprünglich aus der Ostschweiz und spielt in Basel und Mulhouse eine wichtige Rolle, später in der Basler Handelsbank, in der Chemiefabrik Geigy und in Ostfrankreich in der Maschinen- und Lokomotivfabrik SACM, die im Alstom-Konzern weiterlebt. Nach der Vollendung der Bahnlinie nach Mulhouse nimmt Nicolas Koechlin die Erweiterung seines Bahnnetzes in Angriff. Bei Kilometer 137,6 ab Strassburg bleibt der Bau allerdings 1840 an der Haltestelle Rhin bei St. Louis vor der Schweizer Grenze stecken. Die Basler Regierung sollte sich entschliessen, für die Bahn einen Durchbruch in der Stadtmauer zu bewilligen. Dieser soll mit einem Fallgitter ausgerüstet werden und nachts die Sicherheit der Stadt gewährleisten. So wird es Mitte Juni 1844, bis der erste französische Zug fast nach Basel fahren kann – zum Bahnhofprovisorium ausserhalb der Mauer. Ende 1845 ist dann das definitive Gebäude für die Aufnahme von Personen bereit, dort, wo nach dem Zusammenschluss mit der Schweizerischen Centralbahn ab 1860 das Kantonsspital entstehen kann. Koechlins Linie ermöglicht schon 1852 internationale Bahnverbindungen aus der Schweiz nach Paris, sie geht 1857 in der «Chemins de fer de l’Est» auf.7


Dampflok mit Blasbalgantrieb, Tender zum Geldverlochen, dicht gedrängte Personen im offenen Güterwagen, im Schlepptau ein Dampfschiff: Karikatur für den Fritschi-Umzug in Luzern am 28. Februar 1838.

aus Oskar Welti, Zürich – Baden, Zürich 1946.

Das zweite Scheitern der Zürich—Basel-Bahn

Dass Zürich der industrialisierteste Kanton der Schweiz sei, berichtet John Bowring aus Angst vor kommender Konkurrenz bereits 1837 dem englischen Parlament: «Seit das Stadtmonopol umgestürzt ist, hat vielleicht kein Teil der Welt ein deutlicheres Bild gedeihlicheren Fabrikwesens dargewiesen.»8 Doch ab 1839 sind wieder die Konservativen an der Macht. Sie verpflichten die Volksschullehrer während sechs Jahren zur Frömmigkeit und fördern die Misswirtschaft. 1845 gelingt den Liberalradikalen die erneute Machtergreifung. Sie fordern drei Wochen später eine neue Konzession für die Eisenbahn nach Basel und haben diese einen Monat danach in den Händen. Im revolutionären Aargau scheint das Spiel leicht zu sein, gegen Basel wird es schwieriger: Erst 1833 hat sich der Kanton Baselland nicht ohne vorheriges Blutvergiessen von der alten Stadtherrschaft befreit. Dennoch gründen die Zürcher 1846 die Schweizerische Nordbahn SNB mit dem alten Ziel einer Bodensee—Basel-Verbindung. Der von Fürst Metternich beurlaubte Ingenieur Alois Negrelli arbeitet mit den von Martin Escher-Hess weitergereichten Plänen von 1839 Detailpläne für die Gleis- und Hochbauanlagen zwischen der Limmatstadt und Baden aus. Der Hauptbahnhof Zürich soll in Aussersihl entstehen, das erspart den Bau einer Brücke über die Sihl. Doch die Stadtzürcher wollen den Kopfbahnhof auf eigenem Gemeindegebiet, gerade angrenzend an die ehemaligen Schanzen. Diese sind mit den Stadttoren im Unterschied zu Basel bereits abgebrochen. Die Stadt vermacht der SNB für den Bau des Kopfbahnhofs unentgeltlich das grosse Grundstück gegen die Platzspitz-Promenade. Dort soll das Verkehrszentrum bleiben. Architekt Ferdinand Stadler entwirft auch schon eine Limmatbrücke bei Turgi. Die Vermessungspioniere Wild und Bürkli stecken eine grosszügige Trassierung aus, 23,3 Kilometer bis Baden, doppelspurig mit Gleisradien vom Anderthalbfachen der späteren Gotthardbahn und mit fünf Mal geringeren Steigungen. Über 1000 Arbeiter schütten mit Körben Dämme auf, füllen bis zu 16 Meter tiefe Gräben, bauen die Sihlbrücke und brechen den Badener Schlossbergtunnel aus.9 Doch trotz ihrer Konzessionierung verhindern die Aargauer den Weiterbau ab Baden. Die 350 innerschweizerischen Zollschranken bleiben, und zwischen Katholiken und Reformierten zeichnet sich ein Bürgerkrieg ab. Der Güterverkehr auf der Blinddarmstrecke bleibt unbedeutend. Im Jahr nach der Betriebseröffnung muss die SNB ihren Fahrplan von vier auf drei tägliche Personenzugspaare ausdünnen. Erst ab 1874 entwickelt sich die Legende von der Spanischbrötli-Bahn10: Statt Kohle, Güter und Massen von Menschen transportiere die SNB Hausboten, die von Baden knusprige spanische Brötchen nach Zürich bringen. Ob die Brötchen auf der fünf Wegstunden langen Strecke nach dreiviertelstündiger Dampfwagenfahrt wirklich warm in Zürich ankommen, kann nicht nachgewiesen werden.


Plan der Zürich—Basel-Bahn für die nicht gebauten Teilstücke von Baden nach Turgi und Brugg 1847: Erst die Bundesstaatsgründung macht die Baufortsetzung möglich.

SBB Kreisarchiv III 1980.


Hauptbahnhof Zürich in den Jahren 1847–1867 mit je zwei Empfangs- und Abfahrtsgleisen und einem Durchgangsgleis für die auf der Drehscheibe gewendete Lokomotive.

Modell H. P. Bärtschi.

Die erste demokratische Republik des Kontinents als Chance

Die Eidgenossenschaft hat nun über 50 Jahre Krisen, Kriege und Bürgerkriege mit ausländischer Einmischung hinter sich. Tausende sind an Hunger und Unterernährung gestorben. Erstaunlich sind dabei die Blüte der Fabrikindustrie in den Flusstälern der Nordschweiz und das Gedeihen der Uhrenindustrie im Jura. Sie machen die liberalen und radikalen Kräfte mächtig. Sie sind der Katalysator für den Bahnbau. Die Bewegung für die Reform der Eidgenossenschaft hat zwei Flügel: die Liberalen – der Flügel des alten Besitz- und Bildungsbürgertums – setzen auf Freiheit und Selbstregulierung; das Recht des Volks ist auf die Wahl von Vertretern durch die Wahlberechtigten beschränkt, staatliche Regulierung ist verpönt. Die Radikalen hingegen stützen sich auf das französische Verfassungsrecht von 1793. Sie fordern Volkssouveränität und Demokratie mit direkter und geheimer Wahl der Parlamentarier durch alle erwachsenen Männer; in einzelnen Kantonen sind vom Wahlrecht nicht nur alle Frauen, sondern infolge des Censuswahlrechts auch über die Hälfte der Männer ausgeschlossen. Volksbildung und Wohlfahrt gehören ebenso zum Programm wie die Trennung von Kirche und Staat. Dieses Programm setzen die «Radicaux» 1845 bis 1846 in den Kantonen Bern, Waadt und Genf durch, dort mit Hilfe eines Aufstands. Ihre Medien sind neben Zeitungen die Vereine, von denen es 1850 5000 gibt und 1900 bereits 30000.11 Mit dieser Basis und mit den elitären Gesellschaften der Liberalen wollen sie den handlungsunfähigen Staatenbund der Tagsatzung in einen modernen Bundesstaat umwandeln. Die Gegner der Reformer sehen ihre Basis in den Nachbarländern Österreich und Frankreich und in der katholischen Kirche. Die Auseinandersetzung eskaliert zum Konfessionskrieg. Die Zentralschweiz mit Luzern an der Spitze beruft Jesuiten für die Priesterausbildung, die Radikalen schicken bewaffnete Freischarenzüge gegen Luzern; die Aargauer heben alle Klöster auf. Die Zentralschweizer gründen, gefördert von Österreich, mit Fribourg und dem Wallis den katholischen Sonderbund, die reformierten Reformer fordern dessen Auflösung. Die Sonderbündler mobilisieren 80000 Männer, die Tagsatzung mit ihrem General Dufour 100000. Im Tessin fängt er österreichischen Nachschub ab. Nach 26 Tagen müssen die Sonderbündler im November 1847 kapitulieren. Es hat an der Front um die 100 Tote und 500 Verletzte gegeben, zu Tode gekommene Zivilisten sind nicht erfasst. Liberale und Radikale ergreifen ihre Chance und tagen mit den unterlegenen Tagsatzungskantonen ab dem 17. Februar 1848 in der Verfassungskommission. Fünf Tage später bricht in Paris die Revolution aus. Sie fegt den «Bürgerkönig» und letzten Bourbon Louis-Philippe vom Thron und breitet sich wie ein Steppenbrand über Europa aus. In dieser Atempause erarbeitet die Kommission in nur acht Wochen die neue Bundesverfassung und setzt sie mit einer mehrheitlichen Zustimmung im September 1848 in Kraft. Ein siebenköpfiger Bundesrat, ein Ständerat mit Vertretung aller Kantone und die proportional nach der jeweiligen Bevölkerungszahl gewählten Nationalräte bestimmen nun auf Bundesebene die Politik der öffentlichen Hand.

 

Stephenson und Swinburne empfehlen dem Bundesrat 1850 den planmässigen Bau eines schweizerischen Eisenbahnkreuzes.

Tuschzeichnung H. P. Bärtschi 1980.

In der Bundesverfassung sind das Recht zur Errichtung öffentlicher Werke im nationalen Interesse und zu den dazu notwendigen Enteignungen festgeschrieben. 1849 beauftragen der Stände- und der Nationalrat den Bundesrat, mit neutralen Experten den Plan eines schweizerischen Eisenbahnnetzes auszuarbeiten. Die Connection zu Robert Stephenson funktioniert noch, er kommt mit Henry Swinburne in die Schweiz. Ratsherr Carl Geigy aus Basel und Ingenieur Jakob Melchior Ziegler aus Winterthur erarbeiten das finanzielle Gutachten. Beide warnen 1850 vor unbeschränkter Konkurrenz im Bahnbau. Sie bestätigen das Bodensee—Zürich—Basel-Projekt, führen es allerdings über Olten und über den Hauenstein. Dort sind schiefe Ebenen mit Drahtseilaufzügen vorgesehen. Von Olten führen Linien nach Luzern, Bern, Thun und unter Nutzung der Schifffahrt auf den Jurafuss-Seen nach Genf. Sollte mit ausländischer Hilfe eine Alpenbahn zu Stande kommen, dann vom Bodensee über den Lukmanier nach Locarno und Chiasso.12