Zwei gegen Ragnarøk

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Alvitur nickte nachdenklich, legte seine Hand auf Fifillas Arm und übernahm das Reden.

„Meine gute Fifilla, ja wir sind ein besonderes Dorf, zumindest, seit diesem Tag, vor vierzehn Jahren. Wir sollten uns dieser Tatsache immer bewusst sein und dieses Kind immer im Auge behalten. Das wurde mir damals, nach diesen deutlichen Zeichen klar.“

Fifilla räusperte sich. „Ja, Hilda, so war das damals als du auf die Welt kamst. Deutlichere Zeichen für die Anteilnahme der Götter gibt es wohl nicht. Ich habe darum aus den Zeichen dieses Morgens ein kleines Amulett für dich gemacht. Hier, nimm es. Alvitur sagte mir, dass ich es dir geben soll, wenn du zur Frau gereift bist.“

Fifilla gab ihr ein ganz kleines Beutelchen. „Schau nur hinein, es sieht ganz unscheinbar aus, dennoch sind es die Zeichen dafür, dass du unter dem Schutz von Odin und Freya stehst.“

Neugierig geworden, öffnete Hilda, vorsichtig und fast andächtig, den kleinen Beutel. Zwei daumenlange, schwarze Federn und ein kleines Stück von feinem Stoff, auf den ein Gänseblümchen gestickt war, lagen nun auf ihrer Hand.

Alvitur bewegte eine Hand zum Zeichen, dass er sprechen wollte. „Hilda, ich hatte lange vor deiner Geburt einen sehr merkwürdigen Traum und ein sehr drastisches Erlebnis. Mit der Zeit wurde mir beides verständlicher.“

Er nahm einen langen Schluck von seinem Tee, lehnte sich zurück und schloss sein Auge, so als ob er sich erinnern wollte.

Alle drei schauten auf Alvitur und bemerkten, dass es nicht das Nachdenken war, was den Alten zögern ließ. Alvitur schien bewegt zu sein; um seinen Mund zuckte es und auf seiner Stirn erschienen Sorgenfalten.

Er nahm beide Hände vor sein Gesicht und man konnte hören, wie er heftig atmete und dann schluckte. Sein Gefühlsausbruch war nur kurz, dann schaute er wieder ernst und konzentriert in die Runde.

„Die Zeit meiner Reisen war zu Ende und so kehrte ich nach vielen Abenteuern zurück nach Hause, heim, nach Björkendal. Damals nannte man mich noch Djarfur und fast wäre ich der glücklichste Mann der Welt geworden. Meine Reisen waren erfolgreich. Ich hatte unendlich viel nützliches Wissen, als Heiler erworbenen, hatte die wunderbaren Apfelsetzlinge in der Schiffsladung und ich hatte bescheidenen Reichtum erlangt. An meiner Seite war die schönste Frau der Welt, meine geliebte Saida. Sie war vom Volk der Umayyaden. Unser Glück schien vollkommen zu sein, denn wir hatten auch eine süße, kleine Tochter. Leider endete mein Glück mit dieser Fahrt. Als wir schon fast zu Hause waren, wurde Saida sehr krank. Selbst mein umfangreiches Wissen über so viele Erkrankungen und über Arzneimittel, halfen ihr nicht mehr. Sie wurde von Tag zu Tag weniger. Wie eine Blume welkte sie dahin und verdorrte. Ich konnte einfach nichts für sie tun.“

Alvitur stockte einen Moment und man sah, dass diese Erinnerung ihn peinigte.

„Dann gerieten wir auch noch in einen Sturm, der uns auf dieser verdammten Insel stranden ließ. Wenn ich es nicht besser gewusst hätte, hätte ich diese Nebelinsel Hel genannt. Diese verdammte Insel, es gibt sie gar nicht. Niemand, der sie sucht, wird sie jemals finden. Sie ist wie das Schicksal. Man landet durch das Schicksal auf ihr oder nicht. Wir saßen also dort fest und Saida, vom Sturm vollends geschwächt, starb dort, in meinen Armen. Bis zum letzten Moment sah ich in ihren Augen ihre unvergleichliche Liebe. Ganz still schlief sie in meinen Armen ein, um nie mehr zu erwachen. Ich baute ihr auf der Insel ein Schiff aus Steinen und legte sie dort zu Ruhe. Was konnte ich sonst noch tun? Danach war ich wie tot. Wenn unsere Tochter nicht gewesen wäre, hätte ich sterben wollen, so öde und leer, wie diese Insel, war mit einem mal das ganze Leben für mich geworden. Mein einziger Gefährte, Leif, setzte sich zu mir und sah mir tief in die Augen. Seine Worte waren es, die mir damals die Kraft gaben, weiterleben zu wollen. Er saß neben mir, zeigte auf Einurd und sagte nur: „Dafür musst du weiterleben. Es lohnt sich.“

„Ja, er hatte wirklich Recht. Das einzig Tröstliche an dieser elenden Insel war, das Einurd unser Elend nicht zu sehen schien. Sie verzweifelte nicht und gab mir die Kraft, die ich zum Weiterleben brauchte.“

Hilda platzte dazwischen: „Das war Einurd?“

„Ja, das war Einurd, Alfgers Mutter, mein größter Schatz, aber das war mir in dem Moment der Trauer nicht so bewusst. Heute gleicht sie im Aussehen ihrer Mutter so sehr, dass ich manchmal glaube, zu träumen.“

Alvitur lächelte bei diesen Worten, aber man konnte sehen, dass er eine Träne im Auge hatte.

Er zwinkerte und fuhr fort: „Ich gab Leif meine Tochter in Obhut und bat ihn, mir etwas Zeit zum Trauern zu geben. Ich begrub Saida auf dieser Nebelinsel und trank soviel Bier, dass ich irgendwann einschlief. Bis zu diesem Punkt hatte ich nicht viel über diese merkwürdige Insel nachgedacht, auch nicht, als mir Leif sagte, dass hier eigentlich gar keine Insel liegen dürfte. Leif kannte ja diese Gewässer so gut wie ich, denn er fuhr früher hier so oft, dass er den Kurs schon im Gefühl hatte. Wir fuhren ja auch eine bekannte Rute von Haithabu nach Hause. Vom vielen Bier benebelt, schlief ich also über meine Trauer ein. Als ich irgendwann erwachte, stand ich plötzlich mutterseelenallein auf dieser verfluchten Insel; kein Leif war mehr da und mein Töchterchen war auch weg. Nur diese elende Hütte stand noch dort in der Ödnis. Vermutlich steht sie heute immer noch dort. So stand ich also auf einer leeren Insel, auf der nicht mal das Meeresrauschen zu hören war, kein Möwenschrei, kein Wind – nichts – Totenstille. Dann erschienen diese drei Frauen vor der Hütte. Wie aus dem Boden gewachsen standen sie plötzlich dort, drei Frauen ohne Alter, ohne ein wirkliches Gesicht, dunkle Tücher über den Köpfen. Mir wurde es unheimlich, wie noch nie in meinem Leben und ich war doch nie ein Angsthase gewesen.“

Bei Alvitur letzten Worten wurde es so leise in der Hütte, dass Hilda das Holz der Wände knacken hörte. Wie gebannt hing sie an Alviturs Mund. Es ging ja auch um ihr Schicksal.

Alvitur fuhr fort: „Plötzlich begannen die Drei Weiber zu wispern. Sie sprachen, ohne den Mund aufzumachen und da wusste ich, wer sie waren.“

Hilda und Sölvi vergaßen fast das Atmen und warteten mit, vor Neugier geweiteten Augen, auf Alviturs nächste Worte.

Jedes seiner Worte klang wie ein dumpfer Hammerschlag in Hildas Seele. Jetzt war es ihr auch klar, dass das alles für sie wichtig war. Sölvi schaute drein, als ob er eine anstrengende Arbeit verrichtete und Fifilla nickte wissend.

Alvitur fuhr fort: „Da wusste ich wer diese Frauen waren, die mich, unter ihren schwarzen Tüchern hervor, mit Fischglotzaugen ansahen und zu mir sprachen, ohne den Mund zu bewegen. Alle drei sangen sie einen monotonen Singsang. Es waren die drei Nornen, die Schicksalsfrauen. Ihre Namen sind Urd, Verdandi und Skuld22. Ihr kennt sie aus unseren alten Geschichten, aber ich weiß jetzt, dass es sie wirklich gibt. Ihr Singsang ging mir direkt in den Kopf und irgendwann verstand ich ihre Worte, aber sie waren in so merkwürdiger Aussprache, dass ich Mühe hatte, ihren Sinn zu begreifen. Sie malten mit ihren Händen Figuren in die Luft und dann hatten sie plötzlich wieder dicke Stricke in den Händen, die sie gemeinsam verflochten. Es war einfach so absonderlich, dass mir ein Schauer nach dem anderen über den Rücken jagte. Aus all ihrem Singsang verstand ich folgendes“ – und Alvitur nahm eine, in Runenschrift geschriebene, Schriftrolle zur Hand:

„Djarfur, Djarfur,

sei Alvitur,

zeige Zweien einen Weg,

unendlich Zeit, ihr Privileg.

Für die Götter 1000 Jahre

begleiten sie drei Augenpaare.

Der Erste ihnen Zeit bemisst,

damit ihn Fenriswolf nicht frisst.

Kraft schöpfen aus dem eignen Blut.

Es stirbt zu viel ohn’ der zwei Mut.

Mit gleichem Namen sei ein Kind,

das sie zu ihrem Ende find’.“

Im Halbschlaf gingen mir immer wider die Worte dieses Singsangs durch den Kopf, doch dann wurde alles verdrängt von einem Wort: Ragnarök!

Als ich erwachte, wusste nicht mehr wo ich war, bis Leif mich rüttelte und mir Einurd in die Arme schob.“ ‚Mach ihr etwas zum Essen‚ sagte er und schaute mich dabei sehr merkwürdig an. Ich nahm Einurd in die Arme und wusste plötzlich wieder, dass ich lebte, leben wollte und dass sie mich brauchte. Es war schon merkwürdig, aber als ihre Hände mein Gesicht streichelten und sie mich mit dem Worten, Papa, ich habe Hunger, ansprach, da durchfuhr mich wieder Liebe und Lebenskraft mit so ungeheurer Wucht, dass ich erschauerte. Ja, für sie lohnte es sich zu leben; leben wir doch in unseren Kindern fort. Aber Leifs Gesicht war mir ein Rätsel. Er stand vor mir, schaute mich an, als ob ich zwei Köpfe hätte, und ich fragte, warum er mich so entgeistert ansieht. Er antwortete zögernd, dass er einen seltsamen Traum hatte und schilderte mir fast das Gleiche, das ich geträumt hatte. Als ich Leif sagte, dass sein Traum dem meinen aufs Haar gleichen würde, schaute er noch entsetzter drein und flüsterte: ‚Wo sind wir denn hier gelandet? Ist das Hel? Ich wollte von Leif wissen, was die Frauen zu ihm gesagt hätten. Er meinte, dass er sie schlecht verstehen konnte, aber glaubte, dann doch etwas vom Sinn ihrer Worte verstanden zu haben; wir sollen wieder wegfahren, nach Hause und er hätte die Pflicht jemanden zu bringen, oder so ähnlich. Wir saßen beide noch eine Weile herum und hingen unseren Gedanken nach, bis Leif sagte, dass er einen Raben krächzen gehört hatte. Was denn, ein Rabe so weit vom Land entfernt, das konnte ja nicht sein. Leif dreht nach dem Traum noch durch, dachte ich bei mir. Doch dann hörte ich auch einen Vogelschrei, aber es war diesmal eine Möwe und ich sprang auf, ließ Einurd stehen und rannte hinaus. Keine gewöhnliche Möwe, ein großer Eissturmvogel kreiste zwischen der Hütte und dem Ufer. Ich rief Leif, der schon wieder ein Gesicht machte, als ob die Welt ins Meer stürzen würde: „Kommt, packt alles zusammen! Der Eissturmvogel, das ist ein Zeichen zum Aufbruch, schnell, lass uns fahren!“ Wir stiegen Hals über Kopf in unser Boot und das Segel fasste sogar gleich Wind, der plötzlich aus dem Nichts da war. Als wir eine kurze Strecke durch den Nebel zurückgelegt hatten, war er hinter uns einfach verschwunden und mit ihm auch die Insel. Ich dachte noch, ob mir das jemals jemand glauben würde? Dann hatten wir aber günstigen Wind und weil wir nur schnell weg wollten, ruderten wir noch zusätzlich, als wenn ein Feuer speiender Drache hinter uns her wäre. Das Schiff flog nur so über die Wellen und gegen Abend sahen wir unseren Fjord und das Ufer von Björkendal.“

 

Alvitur schnaufte leise und schaute plötzlich traurig drein: „Wisst ihr, was das für ein Gefühl ist, nach so vielen Jahren die Heimat wieder zu sehen? Als ich die Füße auf den Strand setzte, bekam ich weiche Knie. Hätte ich nicht Einurd an der Hand gehabt, ich hätte mich der Länge nach auf den Strand geworfen, aber sie gab mir Kraft, aufrecht zu bleiben. Ich sog meine Lungen voll Luft und atmete unseren Fjord regelrecht ein. Ein paar Schritte weiter griff ich in den Boden, nahm eine Handvoll Erde, roch daran und ich spürte — Glück. Mein Herz pochte, wie im Pferdegalopp. Ich war wieder zu Hause, nach so langer Reise durch eine faszinierende Welt, die aber so ganz anders war, als unsere. Leute waren plötzlich um mich, alte Bekannte, die damals junge Fifilla, Sigudur und viele neue, junge Gesichter, wie deine Eltern, Hilda. Sie waren noch Kinder, als ich wegfuhr, nun waren sie ein Paar. So, nun wisst ihr alles, und ihr seid die Ersten, denen ich diese Geschichte vollständig erzählt habe. Ich erzählte sie euch, weil ich so viel von der Welt außerhalb unseres Lebens gesehen habe und weiß, dass diese andere Welt unerbittlich nach uns greift. Ihr neue Gott und ihre Könige greifen nach uns und durch diese Prophezeiung, die Worte der Nornen, glaube ich, dass wir Ragnarök aufhalten können, nämlich das Sterben unserer Götter und unserer Welt.“

Alvitur machte eine kleine Pause und lächelte Hilda an. „Hilda schau nicht so entgeistert drein. Niemand im Dorf wird dich jetzt anders ansehen. Alles wird so sein, wie es hier jeden Tag ist, nur du wirst in der nächsten Zeit öfter nachdenken müssen, aber das wird für dein späteres Leben nur nützlich sein. Irgendwann wird dir das Schicksal deutlich machen, welche Aufgabe es dir zugedacht hat, damit unsere Welt und unsere Art zu leben erhalten bleiben.“

Alvitur lehnte sich entspannt zurück, griff wieder nach seinem Trinkbecher und nahm genussvoll einen großen Schluck von seinem Lebenselixier.

Bei Hilda merkte man, das sie kurz vor dem Zerplatzen war. „Alvitur, ich verstehe im Moment nur wenig von dieser Prophezeiung der Nornen, aber ist das alles wirklich war und für mich wichtig? Was ist, wenn ich das nicht wissen will und einfach so tue, als ob ich es nicht wüsste? Dann ist da noch etwas Komisches. Wie soll man aus dem eigenen Blut Kraft schöpfen? Das Blut ist doch immer in mir, ob ich will oder nicht und was hat der Fenriswolf mit mir zu tun? Das ist doch eine alte Legende. Wieso schützen uns unsere Götter nicht vor dem anderen Gott und dieser anderen Welt?“

Sölvi drehte aufgeregt seinen Trinkbecher in den Händen hin und her, dann schaute er mit großen Augen auf Hilda und nickte mehrfach. Fifilla hielt ihren Kopf in beide Hände gestützt und grübelte.

Alvitur griff nach Hildas Hand: „Hilda, ich kann dir deine Fragen nicht so einfach beantworten, aber du kennst die Geschichten um Ragnarök, und ich möchte nicht mehr Alvitur heißen, wenn das hier nichts damit zu tun hat. Diese andere Welt, mit ihren Königen und ihrer bösartigen Gier, das ist Ragnarök. Geht jetzt nach Hause und lasst euch Zeit zum Nachdenken. Ich bin ja morgen auch noch da und übermorgen und unser Dorf wird dann auch noch da sein. Lasst euch Zeit und wenn ihr etwas herausgefunden habt, lasst es mich wissen. Eines noch, Etwas, das wichtig für uns ist: So wie wir hier sitzen, sollten wir immer aufeinander Acht geben.“

Dann lehnte Alvitur sich zurück und schloss sein Auge. Er sah jetzt sehr erschöpft aus.

Hilda fühlte sich richtig durcheinander. Sie zupfte nervös an ihrer Tunika herum, stand auf und verließ mit zögernden Schritten Alviturs Hütte. Sie wollte nur noch nach Hause, oder in eine dunkle Ecke und Ruhe haben. Alviturs Worte und die rätselhafte Weissagung schwirrten wie hundert Möwen in ihrem Kopf herum.

Während des Laufens kreisten ihren Gedanken um diese kleine und geheimnisvolle Insel. Sie sah sie jetzt vor sich, ganz kahl, mit einer verfallenen Hütte. Sie marterte ihr Gehirn, bis sie auch den verzweifelten Alvitur dort stehen sah. Alles um sie herum wurde immer leiser und kein Geräusch drang mehr an ihr Ohr.

Immer wieder, immer wieder kreisten die Gedanken …, dann sah sie den Nebel und ihr wurde schwindlig im Kopf. Hilda setzte sich ins Gras und stellte fest, dass sie nicht zu Hause gelandet war, sondern zwischen den knospenden Apfelbäumen saß.

Die Nornen, ja, die Schicksalsfrauen, aus den Geschichten, die man sich erzählte, kannte sie auch. Nun sollte ihr Schicksal von diesen Frauen vorherbestimmt sein, oder vorhergesehen?

Die kahle Insel erschien wieder nebelhaft vor Hildas geistigem Auge, sie sah Alvitur und die drei alten Frauen.

Erschöpft hielt sich Hilda die Hände vor das Gesicht und ließ sich rückwärts in Gras fallen. Sie lag ganz still, ausgestreckt, sog den frischen Duft der Wiese tief ein und ließ die nebelhaften Vorstellungen ihrer Fantasie langsam verfliegen.

Korrrr, korrr klang es plötzlich an ihr Ohr, dann flatterte etwas neben ihr zu Boden. Sie spürte den Luftzug der Flügel und dann stupste Skyggis Schnabel sie an.

Hilda brauchte einen Moment, die Wirklichkeit wieder richtig zu empfinden. Dann richtete sie sich auf und streckte die Hand nach ihrem Raben aus.

„Bist du auch ein weiser Rabe Skyggi, so wie Hugin oder Munin? Kannst du mir sagen was ich von all dem halten soll? Mein Blut, was ist da so besonderes dran, das ich Stärke daraus ziehen soll?

Hilda kraulte ihrem Raben den Kopf, machte dabei die Augen zu und begann wieder in die neblige Vorstellungswelt zu gleiten. Sie merkte gar nicht, dass sie sich wieder hinlegte hatte und einschlief.

Skyggi hüpfte um Hilda herum, flog dann in den Apfelbaum und ließ ununterbrochen sein Korrr, korr ertönen.

„Hiiiildaaaaa, aufwachen. Was ist denn mit dir? Geht es dir nicht gut?“

Langsam drang Sölvis Stimme in Hildas nebliges Gedankenchaos. „Sölvi! Sölvi? Wieso, was ist?“

Dann kam sie endlich wirklich zu sich und schaute dem Freund verdutzt in die besorgten Augen.

„Sölvi, was ist? Nein, ich bin nicht tot und schlecht ist mir auch nicht.“

Dann setzte sie sich auf, nahm Sölvis Hand und schenkte ihm ein dankbares Lächeln.

Sölvi sah sie besorgt an und sagte: „Du wolltest doch nach Hause gehen. Warum bist du dann hier gelandet? Ich wollte dir nachgehen, aber du warst so schnell weg. Dann habe ich aber Skyggi gesehen, wie er hier über dem Baum herumflatterte und so fand dich. Mir ist was Wichtiges eingefallen, was ich dir sagen wollte. Vielleicht ist es ja Quatsch, aber vielleicht auch nicht.“

Nun schaute Hilda interessiert.

„Sag, was dir eingefallen ist, bitte. Ich kann im Moment nicht mehr klar denken. Alles schwirrt in meinem Kopf durcheinander.“

„Hilda, das mit dem eigenen Blut ging mir durch den Kopf. Ich glaube, ich weiß, was die Nornen damit gemeint haben. Die Familie ist doch von einem Blut und sie gibt dir Kraft und da ist einer, genau von deinem Blut, weil er dein Bruder ist. Die Nornen meinten Falki. Falki ist von deinem Blut und er würde, so wie ich ihn kenne, sein ganzes Blut ohne zögern für dich geben.“

Hilda dachte einen Moment lang nach, dann riss sie die Augen auf. „Sölvi, ich glaube, dass du der klügste Junge bei uns bist und dass du Recht hast.“

Sie beugte sich zu Sölvi und drückte ihn fest.

„Wir sollen auch aufeinander acht geben, hat Alvitur auch gesagt. Sölvi, du bist ein guter Freund und ich werde immer auf dich acht geben, das verspreche ich dir“, dann drückte sie ganz fest seine Hand.

Abends gab es zum Essen frischen Fisch. Falki tat aus Scherz ganz betrübt, das er Hildas Wunschfisch, den knurrenden Quallenhai nicht gefangen hatte. Dafür hatte er aber einen Dornenhai mit nach Hause gebracht und sogar einen ziemlich großen. Der Fisch war fast so lang wie er. Falki meinte, dass sie heute gut gefangen hätten, auch viele andere Fische, aber Hilda wollte ja einen Hai und da hat er eben diesen mitgebracht.

Es wurde ein wunderbares Abendessen. Die Mutter hatte sich wirklich viel Mühe gegeben, um alles, Hildas Wunsch entsprechend, zuzubereiten. Doch Hilda saß irgendwie abwesend am Tisch und alle merkten, dass es ihr ziemlich egal war, was sie jetzt zwischen den Zähnen hatte. Sie hätte bestimmt auch alten Trockenfisch gegessen, ohne es zu merken.

Falki schaute nun doch etwas besorgt auf seine Schwester. Er streichelte ihre Hand und fragte: „Was hast du denn? Hat Alvitur etwas Schlimmes erzählt?“

Mutter Hilda legte ihren Finger auf Falkis Mund und flüsterte: „Lass sie, sie wird schon mit dir reden. Ich ahne schon worüber Alvitur mit ihr gesprochen hat. Lass sie das erst mal alles verdauen. Morgen ist auch noch ein Tag.“

„Hmm, na gut“, machte Falki und freute sich, dass er sich den Bauch nun alleine mit dem leckeren Essen voll stopfen konnte.

Später, unter ihren Fellen konnte Hilda lange nicht einschlafen. Immer wieder gingen ihr Alviturs Worte und die Prophezeiung durch den Kopf, aber sie hatte nun keine Angst mehr; sie hatte ja gute Freunde und sie hatte Falki. „Ja, er würde mich beschützen, was immer auch käme“, war ihr letzter Gedanke.

Das gab ihr Ruhe und sie begann dem leisen Rauschen im Rauchabzug des Daches zu lauschen. Sie spürte ganz deutlich Falki neben sich und seine Kraft.