Blutstein

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Hans-Georg Lanzendorfer

Blutstein

Eine mysteriöse Erbschaft

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Inhaltsverzeichnis

Titel

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Impressum neobooks

Kapitel 1

Blutstein

Eine mysteriöse Erbschaft

Hans-Georg Lanzendorfer

So mancher findet im Leben Gold und Edelsteine. Die Wissenden und Weisen sind oft schon mit einem bisschen Schlaf zufrieden.

"Danke dir schön, Susanne. Wow, hübsch wie immer." Schlaftrunken schmeichelte Julian der Postbotin. Mit erhobenem Daumen zeigte er ihr die Bewunderung. Der abgetragene Bademantel war kein mondäner Höhenflug. Belächelnd winkte sie verlegen ab. Julian war ein Charmeur. Gleichwohl freute sich die kleine, etwas untersetzte Brillenträgerin über seine morgendlichen Übertreibungen. Sie schwärmte in offener Heimlichkeit für den blonden Adonis mit den schulterlangen Haaren. Mit einem metallischen Klicken zog er hinter sich die quarrende Wohnungstür ins Schloss.

'Anwaltskanzlei, Svenja Behlendörp Wyk auf Föhr‘. Meine Adresse – handgeschrieben!? Konsterniert und verwundert, betrachtete er kurz das auffällige Couvert. Appenzeller Zeitung, die Schlagzeile vor Augen, schlenderte er barfuss über den knarrenden Holzboden in die enge Küche. Eine online Bestellung war längst überfällig. Er ärgerte sich darüber. Ungeduldig schmiss er die Sendungen auf den Küchentisch und drückte auf die 'ON'-Taste. DAB- Radio. Icehouse - 'Touch the Fire'. Ganz nach seinem Geschmack. Der Tag war gut gestartet.

'Unglaublich diese Werbeflut'. Seit seiner letzten Bestellung bei diesem ‚online‘ Warenhaus wurde er mit Prospekten und Werbung förmlich überflutet. Er hasste die adressierten Werbebriefe. Achtlos warf er den Brief mit den Zeitungen auf die Bar. Die Kaffeemaschine dröhnte laut aber der Espresso schmeckte stimulierend. Geniesserisch schritt er über eine schmale Treppe in den Erker. Die Wohnung war gemütlich und in seinem Sinn bescheiden. Sie lag direkt über der Stadtgasse. Er öffnete die Luke. Die morgendliche Kühle war angenehm. Fremde Stimmen in der nahen Häuserschlucht störten die Stille. Bereits in aller Frühe strömten die Touristen durch die schmalen Gassen. Sie kamen aus aller Herren Länder. Kindergeschrei und fremde Sprachen drangen an seine Ohren. Eine Inderin in farbenprächtigen Gewändern eilte vorbei. Gefolgt von einem adrett gekleideten Mann mit Bart und hellem Turban. Eine Gruppe amerikanischer Jugendlicher sass grölend in einem Café. In der nachbarschaftlichen Bäckerei war bereits der samstägliche Hochbetrieb. Leuchtende Kinderaugen strahlten vor den Süssigkeiten hinter Glas. Das Gebimmel der sanften Eingangsglocke erinnerte Julian an seine eigene Kindheit. Als Dreikäsehoch war er selber unzählige Male davor gestanden. Alle Jahre wieder zur Weihnachtszeit, an der Hand der Grossmutter, Anna Löfstedt. Sie war längst verstorben und er in all den Jahren zu einem stattlichen Mann herangewachsen.

Die herrschaftlich und reich verzierten Häuserzeilen erstrahlten in kunstvollen und farbenprächtigen Motiven der Appenzeller Bauernkunst. Künstlerisch geschmiedete und auf Hochglanz polierte Ladenschilder glänzten golden in der morgendlichen Juni Sonne. Gähnend streckte und dehnte Julian seine Glieder. Aus dem Nachbarfenster kam der Geruch von Zigaretten und Kaffee. Scheppernd schloss er den alten Fensterflügel und genoss für einen kurzen Augenblick die Wärme. Er mied den Gestank von Zigaretten. Regelmässig verfolgte er mit gemischten Gefühlen das samstägliche Treiben in den Gassen seiner kleinen und schmucken Stadt. Julian schaute auf die Armbanduhr. Omega Seamaster Titan-Gold 1993, ein Erbstück seines kürzlich verstorbenen Vaters. Es war Zeit. Der Samstagmorgen Kaffee in der nahen Stammwirtschaft war fast schon Tradition.

Julian Sutter war mit seinen 35 Jahren ein Alteingesessener. Ein Appenzeller seit Generationen. Er war keiner, der sich auf die Nase treten liess. Die Freiheit war ihm heilig, aus alter Väter Sitte. Wenn er etwas wirklich verschmähte, dann waren es absurde Vorschriften, Regelwerke und unleserliche Gebrauchsanweisungen. Die alte Herrschaft der Habsburger war längst gebrochen und seit 1513 auch sein Appenzell ein Teil der Eidgenossenschaft. Als patriotischer Schweizer Bürger war ihm die Rekrutenschule eine Pflicht. Es folgten die üblichen Wiederholungskurse. Er stand Gewehr bei Fuss für Subsidiarität und Vaterland – und für seine schulterlangen, blonden Haare. Zeitlebens war dieser Fleck sein Heimatort. Die Familie verwies auf eine lange Ahnenreihe – zumindest väterlicherseits. Sein Urgrossvater, Simon Sutter hatte es an diesem Ort als Käser zu ansehnlichem Wohlstand und Geltung gebracht. Ebenso der Vater, Aurel Sutter. Julian selbst war der familiären Tradition des Käsereihandwerks gleichermaßen treu geblieben. Zeitlebens hatte seine Familie für das Geheimnis der traditionellen Köstlichkeit gesorgt. Das alte Wissen wurde von Generation zu Generation weiter gegeben, bis in die heutige Gegenwart. Niemals hätte Julian einen anderen Beruf gewählt.

Der Duft von Kaffee und warmen Brötchen drängten ihn zum Aufbruch. Julian war schnell geduscht. Er war kein Freund von übermässigen Körperkulten oder Bodybuilding Eskapaden. Unverhohlen war er stolz auf seinen wohlgeformten und sportlichen Körper. Stählerne Muskeln von der schweren Arbeit in der Käserei. Von seinen Freunden geachtet wurde er von den Frauen umschwärmt.

Am Samstag wurde von Julian traditionell das blaue Edelweisshemd getragen. Mit geübten Griffen war der Appenzeller Chüeligurt durch die Schlaufen am Hosenbund gezogen und die Schnalle geschlossen. Augenblicke später griff er nach dem braunen Sakko, steckte das Handy in die Innentasche und versorgte das lederne Portemonnaie. Neugierig schnappte er sich den Brief der Anwaltskanzlei. Die Spannung und der Fürwitz waren stärker als der Ärger.

‚Zumindest hat es einen Unterhaltungswert‘, dachte er sich, richtete vor dem Spiegel das Sakko, schloss hinter sich die Tür und verliess das Haus. In der Hauptgasse demonstrierten die Schweizerfahnen übergross die vaterländische Einigkeit. Sennensattlerei und Kunsthandwerk. Das Schild war alt. Seit Generationen war es an dem Haus mit den verwitterten Holzläden und den Scheiterbeigen angebracht. Es stach heraus aus der Umgebung. Die Fenster waren hell erleuchtet. Julian winkte seinem Schulfreund durch die Scheibe. Selbst der US-Präsident Obama schätzte dessen Handarbeit, den Appenzeller Gürtel nach Schweizer Tradition.

Die schwere Eingangstür der Wirtschaft knarrte. Melodische Klänge vom 'Appenzeller Örgeli' schlugen ihm entgegen - Frühschoppen. Das Foyer roch nach kalten Aschenbechern und abgestandenem Zigarettenrauch. Lautes Stimmengewirr durchflutete den Raum. Freunde winkten und riefen ihn heran. Verzückt und mitgerissen folgten Fremde und Touristen der Musikantenkunst. Fasziniert erquickten sie sich an den Appenzeller Melodien und an der schweizerischen Volksmusik. Kunstvoll balancierte die Kellnerin das voll belegte Tablett an Julian vorbei.

"Sali, Julian." Sie berührte ihn schmunzelnd, beiläufig und scheinbar unabsichtlich.

"Sali, Annemarie." Julian fühlte tiefe Zuneigung, küsste sie auf beide Wangen, fuhr ihr durch die braunen Zapfenlocken.

"Fräulein zahlen bitte." Den Rufen aus der einen Ecke.

" ... gerne einen Kaffee mit Schnaps", folgten unablässig von den Tischen neue Wünsche.

"Den üblichen Kaffee, Julian?" Sie flirtete ihn an, liess sich dabei nicht aus der Ruhe bringen.

"Ja gerne, Annemarie." Er küsste sie dreimal auf die Wangen, legte seinen Arm um ihre Hüfte.

"Ich bin dort drüben, bei den Anderen." Er zwängte sich durch die laute Menge zu seinen referierenden Kollegen.

"Hoi zäme." Seine Hand machte im Kreis die Runde. Begrüssende Worte, schnurrige Andeutungen und beissende Bemerkungen – Männerkommentare. Die innige Umarmung der Kellnerin war nicht unbemerkt geblieben. Julian setzte sich dazwischen.

"Dein Kaffee, bitte." Vorsichtig nahm er kurz darauf die heisse Tasse aus ihrer Hand. Sanft glitten ihre Finger über seinen Unterarm. Julian war ihre grosse Liebe und doch so unerreichbar weit entfernt. Er, der Sohn des Käsers und sie die Tochter eines angesehen Gastwirtbetriebs. All die Jahre ihrer Kindheit und Jugend hatte sie für diesen schönen Mann geschwärmt. Im Gram der unerwiderten Verliebtheit letztendlich einen anderen genommen und längst geschieden. Niemals hatte ihr Julian ein Versprechen für das Leben abgegeben. Sie war ihm lieb und teuer. Vielmehr aber eine offene Geliebte im gegenseitigen Einvernehmen - unverbindlich.

 

Nachdenklich stellte er mit einem gläsernen Klingen den Löffel in das Glas, rührte den Rahm und den Zucker unter die braune Flüssigkeit. Die Elemente mischten sich wie Marmor, flossen ineinander im Farbenspiel. Der süsse Duft von Zucker und Zwetschgenbrand verflüchtigte sich im Raum. Schweigend blickte Julian in die Menge. Die bärtigen ‚Oergelispieler‘ gaben im Stimmengewirr ihr Bestes. Dankbar bejubelte das Publikum ihre Musikantenkunst. Ein freundliches Händewinken vom Mann am Kontrabass - einer seiner Cousins.

Das beschauliche, kleine Appenzell ist Anziehungspunkt für Reisende aus der ganzen Welt. Traditionsbewusste Musikanten sind die Helden der Tourismusförderung. Sie sind heldenhafte Repräsentanten der urtümlichen und heilen Welt der Eidgenossen. Julian versank in den Klängen der heiteren und beschwingten Lebensfreude seiner Heimat. Umgeben von der bäuerlichen Bescheidenheit, einer mondänen Bankenwelt und dem heimatverbundenen Unternehmertum, griff Julian nach dem ominösen Brief in seiner Sakkotasche. Gedankenverloren legte er das Couvert neben das Kaffeeglas.

"Hast du Ärger mit der Polizei?" Monika grinste ihn kichernd an. Sie strich sich die pechschwarzen, langen Haare hinter die Ohren. Ihre Zähne glänzten hinter den roten Lippen.

"Nicht, dass ich wüsste. Warum meinst du?" Julian blickte erstaunt. Seine Stimme wurde lauter und seine Ohren summten in dem Lärm.

"Na, wegen dem Brief. Ist der nicht von einem Anwalt?" Sie zwinkerte auf das zerknitterte Papier.

"Ach, das meinst du!" Julian drehte seine Augen und nippte am Glas.

"Ich habe keine Ahnung, was das soll. Der kam heute Morgen mit der Post." Julian rührte mit dem Löffel im Kaffee.

"Wahrscheinlich Werbung. Ich habe ihn aus reiner Neugier einfach eingesteckt. Die handgeschriebene Adresse gefällt mir."

"Wahrscheinlich? Und du hast ihn noch nicht einmal geöffnet?" Erwartungsvoll schaute sie ihn mit staunender Miene an.

"Also ich wäre da voll begierig." Monika lachte.

"Ich mach ihn für Dich auf. Ist das Okay?" Sie hielt das Couvert in der Hand und musterte es von allen Seiten.

"Von mir aus, mach nur." Er liess ihr die Freude und Monika liebte Überraschungen.

"Ich bin echt gespannt, was du gewonnen hast." Umgehend öffnete sie vorsichtig den Verschluss. Julian nahm einen Schluck aus dem Glas. Er liebte den süssen Duft und das Aroma von Kaffee, Zucker und Zwetschgenbrand. Erinnerungen an den Grossvater wurden wach.

Gespannt zog Monika den Brief heraus und las die Zeilen. Eine Photographie rutschte aus dem Couvert und fiel auf den Tisch.

"Uups! Das ist aber interessant. Ich habe den Eindruck der ist wichtig." Mit grossen Augen nahm sie das Papier beiseite.

"Das ist kein Wettbewerb. Es geht um eine Erbschaft. Komm lies selber." Beeindruckt streckte sie ihm den Brief entgegen.

"Was heisst Erbschaft? Sie haben gewonnen, gegen eine Gebühr von ... oder was?", antwortete Julian sarkastisch.

"Nein, kein Scheiss. Lies selber." Misstrauisch nahm er den Brief. Aufmerksam warf er einen prüfenden Blick auf das Juristenlatein. Monika hatte einen eigensinnigen und verspielten Humor. Es war nicht immer einfach Ihre Ernsthaftigkeit von einer Possentreiberei zu unterscheiden. Schon öfters wurde er von ihr in den April geschickt. Diesen Gesichtsausdruck der Überraschung hatte er bei ihr jedoch noch nie gesehen.

Das Papier lag schwer in der Hand. Tatsächlich verlieh ihm die Aufmachung etwas Amtliches. Ein formelles Logo in goldenen Antiqua Lettern, mit einer geschwundenen Verzierung zierte den mondänen Briefkopf.

"Klingt irgendwie skurril. Findest du nicht auch?" Julian verzog etwas ratlos das Gesicht.

"Was soll dieser Unfug? Wie komme ich an eine Erbschaft an der Nordsee. So ein Schwachsinn." Er fühlte sich genarrt und seine Anschrift für irgendwelche Zwecke missbraucht. Abweisend polterte er über das Schreiben.

"Unglaublich. Heutzutage wird doch alles unternommen um an die Kohle der Leute zu kommen." Genervt lobte Julian die Arbeit des Datenschützers.

"Eine Erbschaft an der Nordsee! Sieht dazu noch täuschend echt aus. Wahrscheinlich wieder so eine linke Sache der Afrikaconnection." Aufgebracht schmiss Julian das Papier auf den Tisch.

"Die haben sogar noch meine Anschrift – erst noch von Hand geschrieben." Missbilligend begann er das Couvert zu zerreissen.

"Mach keinen Quatsch." Erschrocken riss sie ihm das Papier aus der Hand.

"Anwaltskanzlei ‚Svenja Behlendörp, Föhr‘. Das ist kein Unsinn." Nachdrücklich hielt sie ihm den Briefkopf unter die Augen.

"Das ist ein echtes, amtliches Schreiben. Ich würde die Sache zumindest überprüfen. Ruf einfach mal bei dieser Behlendörp an."

"Meinst du wirklich? Okay, zeig mir nochmal den Wisch." Er nahm das Papier und las erneut den Text.

"Ein Haus an der Nordsee!" Julian beruhigte sich. Monikas ernsthafte Reaktion hatte ihn verunsichert. Sie war in juristischen Kreisen tätig, hatte Einblick in amtliche Papiere. Ihre Meinung war verbindlich. Plötzlich war es ihm unangenehm, überreagiert zu haben, den eigenen Vorurteilen Raum zu geben.

"Ich wusste nicht, dass ich offenbar irgendwelche Verwandtschaft an der Nordsee habe." Beiläufig griff er zum Glas und nahm einen kleinen Schluck. Der Schnaps zeigte bereits eine minimale Wirkung. Er trank selten Alkohol und reagierte schnell. In dieser kleinen Dosis verlor Julian seine Ernsthaftigkeit, gewann an Gelassenheit. Zu viel des Teufelszeugs legte ihn schlicht und einfach Schlafen. Heute war es gut so.

"Vielleicht gibt’s irgendwo einen zweiten Julian Sutter. Da bin ich mir sogar sicher. Julian ist ein Allerweltsname und Sutter gibt’s wie Sand am Meer." Er war überzeugt, dass es sich schlicht und einfach um eine Verwechslung handeln würde.

"Also mir ist in all den Jahren noch kein zweiter begegnet." Sie himmelte ihn an und rührte verlegen in ihrer Tasse. Er war der Schwarm vieler Frauen.

"Abgesehen davon! Bei einer Unklarheit hätte sie wohl kaum genau Dich, hier in Appenzell angeschrieben."

"Okay, das leuchtet ein." Allmählich gingen ihm die Argumente aus. Julian wurde nachdenklich.

"Wir haben keine Jansens in der Verwandtschaft. Schon gar nicht einen Mangens Jansen. Klingt das für Dich nach Schweizer Verwandtschaft?"

"Also deine Mutter hiess mit Mädchenname Lucia Löfstedt. Mein Vater ging mit ihr zur Schule. Das ist auch nicht unbedingt ein Schweizer Name." Die Welt war klein in Appenzell. Man kannte sich seit Generationen. Vielleicht war man sogar verwandt – irgendwie. Wahrscheinlich wussten das viele nicht so genau. Julian schmunzelte in sich hinein. Kuckuckskinder waren kaum eine Erfindung seiner Gegenwart.

"Okay, da hast du recht. Weiter zurück als zu meiner Grossmutter Löfstedt bin ich nie gekommen." Eigentlich hatte er sich darüber noch keine Gedanken gemacht. Die Ahnenforschung hatte ihn bis heute schlicht und einfach nicht interessiert. Warum auch? Das Thema war neu. Leider braucht es immer einen Anlass. Aus Schaden wird man klug. Wer waren sie eigentlich, die Grosseltern seiner eigenen Mutter? Irgendwie stimmte es ihn plötzlich traurig, darüber so gut wie nichts zu wissen.

"Eben. Woher willst du denn wissen, wo sich deine Vorfahren überall herumgetrieben haben? Also meine Verwandten leben sogar in Brasilien und in Schottland." Irgendwo im Nebel seiner fernen Gedankenwelt versuchte sie ihn zu überzeugen, sich der Sache anzunehmen.

"Kann schon sein, dass wir irgendwo in Norddeutschland Verwandtschaft haben." Julian versuchte adäquat auf ihre Äusserung zu reagieren.

"Bis heute habe ich einfach noch nie etwas darüber gehört. Die Sutters leben seit ewigen Zeiten hier in Appenzell."

"Trotzdem, du solltest unbedingt anrufen. Das muss geklärt werden." Sie gab sich alle Mühe und war begeistert von dem Gedanken selber in einer solchen Situation zu sein. Ein Haus an der Nordsee. Wer träumte nicht davon aus dieser Enge des Oberlandes herauszukommen.

"Falls es tatsächlich ein Irrtum ist, hast du eigentlich nichts verloren. Andernfalls ist es doch super interessant, so plötzlich von einer neuen Verwandtschaft zu erfahren." Begeistert liess sie ihren Phantasien freien Lauf.

"Also auf dem Bild sieht das Häuschen ganz schnuckelig aus. Ein richtig schmuckes weisses Häuschen, mit Reetdach. Sogar etwas Umschwung und einem kleinen Garten. Also das würde ich auch noch nehmen." Sie liess ihrer Begeisterung freien Lauf.

"Schau mal die netten kleinen Dachfenster und die schönen Rosen über dem Hauseingang. Das ist wie ein Gewinn im Lotto."

"Ganz genau, Monika. Du sagst es. Wie ein Gewinn im Lotto. Statistisch gesehen stehen die Chancen dafür bei 1:139 Millionen." Julian wurde wieder realistischer, pessimistisch.

"Wo liegt dieses Föhr überhaupt. Hast du eine Ahnung?"

"Ehrlich gesagt, habe ich keinen Dunst. An der Nordsee kenne ich bloss Sylt oder Helgoland vom Hörensagen." Verlegen gestand sie ihre Unkenntnis.

"Du meinst also wirklich im Ernst, das ist keine Verarschung?" Noch immer schwankte er zwischen Zweifel und Möglichkeit.

"Okay. Jetzt mal ganz im Ernst und ohne jede Schwärmerei." Sie änderte den Klang ihrer Stimme, verlor ihren humoresken Unterton.

"Die Aufmachung und der Briefkopf sind seriös. Schau dir das teure Briefpapier an. Das ist keine billige Kopie. Die Unterschrift ist nicht aufgedruckt. Das ist echte Tinte. Mit meiner Erfahrung würde ich sagen, die Sache ist echt."

"Wenn du das sagst." Der Satz war klar. Nachdenklich wanderte seine Aufmerksamkeit über die Zeilen. Die Gefühle von Überraschung und Zuversicht schossen durch sein Bewusstsein. Er war kein Spieler. Niemals zuvor hatte er einen Lottoschein ausgefüllt und Casinos kannte er nicht mal von Aussen. Wettbewerben stand er grundsätzlich kritisch gegenüber. Das war etwas für alte Damen und stand für ihn auf der gleichen Ebene wie das Sammeln von Kaffeerahmdeckel oder Kaffeefahrten mit 'gratis' Mittagessen, Kaffee und Kuchen. Er wunderte sich daher über die plötzlichen und befremdenden Glücksgefühle - neue Reaktionen.

"Jetzt hast du mich echt verunsichert - voll erwischt." Julian nahm erneut einen Schluck Kaffee. Mittlerweile war dieser abgekühlt. Das Zwetschgenwasser fühlte sich kalt an in seinem Mund. Noch immer gaben die 'Appenzeller Ländlerfründe' ihr Bestes auf der Bühne.

"Du hast aber in der Regel einen guten Riecher in solchen Dingen. Das muss man dir lassen." Entschlossen faltete er das Papier zusammen und steckte es erwartungsvoll in die Sakkotasche.

"Trotzdem. ich bin gespannt." Julian blieb eine Spur kritisch.

"Man wird so oft beschissen. Ständig wird dir was vorgegaukelt. Meine Spam-Mails Ordner explodieren." Aus reiner Vorsicht hatte er sich mehrere anonyme Mail Adressen bei den üblichen Webportalen angelegt. Längst hatte er es aufgegeben seine wertvolle Zeit mit dem Löschen der Ordner zu verschwenden, deren Inhalte sich mittlerweile im Vierstelligen Bereich bewegten.

"An deiner Stelle würde ich die Kanzlei im Internet 'googeln'. Vielleicht findet sich tatsächlich was über diese Behlendörp oder über Mangens Jansen." Monika nutzte die neuen Medien, hatte sich bei Twitter, Instagram und ‚facebook‘ mehrere Konten angelegt. Tinder war für sie selbstverständlich - Menschen mussten sich begegnen und finden können. Sie liebte ihn trotzdem. Seine Vorsicht und wohl dosierte Ablehnung gegenüber den neuen Medien des Informationszeitalters, quittierte sie mit einem Lächeln.

"Ja, klar. Der unbekannte reiche Onkel aus dem Norden." Julian lachte, war sich jedoch sicher die beiden Namen im Internet zu suchen.

"Der Hinweis mit dem Internet ist nicht schlecht. Ich werde mich später dran setzen. Vielleicht lässt sich tatsächlich was Interessantes finden."

"Lass mich wissen, wenn du was herausgefunden hast. Ich bin richtig neugierig geworden. Vielleicht hast du ja noch mehr reiche Onkels." Monika lachte laut.

"Bitte zahlen, Annemarie." Julian hielt den Geldschein in die Höhe. Beweglich zwängte sich Annemarie durch die Reihen.

"Bist du schon wieder auf dem Sprung? Ist es dir heute etwas zu laut bei uns?" Schnell war sie herbei und zog das Portemonnaie aus ihrem Gürtel.

"Nein, nein. Das ist schon Okay. Ich habe noch was Dringendes zu erledigen." Verlegen entschuldigte er sich bei Annemarie.

"Unser Käser hat ein nettes, kleines Häuschen geerbt an der Nordsee. Stell dir vor." Monika liebte es Neuigkeiten als Erste zu verbreiten und phantasievoll auszuschmücken. In diesem Fall kam sie voll auf ihre Kosten.

 

"Der Arme weiss nur noch nicht genau vom wem. Ein reicher Onkel von der Nordsee." Monika kam in Fahrt, legte ihren Arm um Annemaries Hüfte und rutschte etwas beiseite.

"Wirklich. Das klingt ja interessant. Wo denn genau?" Annemarie setzte sich. Seine Blicke fielen auf das weite Dekolleté ihrer weissen Bluse. Sie trug sein Geburtstagsgeschenk – eine filigrane, goldene Halskette mit einem leuchtend blauen Edelstein.

"Sie übertreibt etwas." Julian reagierte verlegen. Monika hatte ihn unerwartet bloss gestellt, wenn auch nicht bösartig. Es lag ihm nicht besonders, im Mittelpunkt zu stehen.

"In dem Brief stand etwas von Föhr. Ehrlich gesagt habe ich keine Ahnung wo das liegt. Ich habe die ganze Sache bis jetzt nicht so ernst genommen." Er bemühte sich zu beschwichtigen, wollte später nicht mit einer Enttäuschung aufwarten müssen.

"Das ist jetzt aber nicht dein Ernst? Auf der Insel Föhr, ein Häuschen?" Annemarie geriet ins Schwärmen, liess ihrer Begeisterung freien Lauf.

"Oh Mann. Unglaublich! Du bist ein echter Glückspilz." Julian war verwirrt. Mit dieser Reaktion hatte er nicht gerechnet. Dieses ominöse Föhr war ihr bekannt. Niemals zuvor hatte er den Namen gehört und sie geriet dermassen ins Schwärmen, als würde es sich um das sagenumwobene Königreich Avalon handeln.

"Ich glaub es nicht. Der Glückspilz erbt tatsächlich ein Haus auf der Insel Föhr. Ist das ganz sicher?" Entzückt schlug die Kellnerin ihre Hände zusammen.

"Ganz sicher!" Monika hielt den Daumen hoch.

"Insel, was heisst Insel?" Julian staunte, schaute Annemarie mit grossen, fragenden Augen an.

"Du hast wirklich keine Ahnung? Friesische Karibik? Nordfriesland?"

"Ähm, Otto Walkes?" Julian war ratlos.

"Nein, der ist Ostfriese."

"Aha, da gibt es einen Unterschied? Nein, Mädels. Ich habe keinen blassen Schimmer." Julian gab sich geschlagen.

"Trotzdem. Sag bloss du kennst die Gegend da oben?" Er wollte es genauer wissen - jetzt erst recht.

"Unglaublich! Der Banause erbt ein Haus auf Föhr und hat keine Ahnung." Die Frauen blickten sich lachend an, machten sich aus seiner offensichtlichen Konfusion und Unwissenheit einen Spass.

"Ja klar kenne ich Föhr. Das ist der Hammer."

"Meine Eltern haben früher ihre Ferien immer auf den Nordseeinseln verbracht. Als Kind habe ich das natürlich nicht begriffen." Sie verdrehte die Augen und wippte mit dem Kopf.

"Ich fand es tot langweilig. Und dann die Autofahrt - 10 bis 12 Stunden waren der Horror. Aber der riesige Sandstrand. Zum Buddeln für uns Kinder das wahre Paradies. Schöne Erinnerungen."

"Kenne ich gut das Gefühl." Monika lachte.

"Ich habe natürlich erst viel später begriffen, wie toll es da oben wirklich war. Auf Amrum war ich als Kind beim Reiten. In St. Peter Ording sind wir wochenlang mit dem Velo geradelt - von Leuchtturm zu Leuchtturm. Westerheversand und so. Sylt und Borkum haben meiner Mutter ganz besonders gefallen." Annemarie verlor sich in ihren Kindheitserinnerungen.

" ... und du hast dort oben wirklich Verwandte?" Die Kellnerin konnte das Glück ihres Geliebten noch immer nicht fassen.

"Es sieht zumindest so aus. Haltet aber einfach mal den Ball flach, Mädels. Monika ist zwar der Meinung der Brief ist echt. Irgendwie habe ich aber noch immer das Gefühl es hat einen Haken."

"Hey, gratuliere - unglaublich." Die Kellnerin freute sich für ihn und gab ihm einen sanften Kuss.

Lass mich wissen, wenn du mehr über die Nordseeinseln hören willst. Mein Vater würde ins Schwärmen kommen, wenn du ihn darauf ansprichst." Die Arbeit rief und weitere Gäste warteten. Sie erhob sich und verstaute das Portemonnaie.

"Danke aber für den Hinweis. Vielleicht spreche ich mal mit Deinem alten Herr." Sie strich ihm über den Unterarm, drückte ihn kurz an sich und zwängte sich durch die Menschenmenge davon.

"Dann viel Erfolg bei deinen Recherchen. Wenn du magst kann ich dir gerne helfen." Monika machte kein Geheimnis daraus, dass sie sich ebenfalls um seine Gunst bemühte. Ihr Blick sprach mit deutlichen Worten. Sie wusste mit ihren dunklen Augen zu betören, trug gerne silberne und orientalische Halsketten und Fingerringe. Das Dekolletee ihrer weiten Bluse hielt sie als offenes Geheimnis unter einer engen Jeansjacke verborgen.

"Ich weiss deine Hilfe zu schätzen. Heute lieber nicht." Er wusste ihre Vorzüge durchaus zu schätzen, hielt sich in der Regel dezent zurück. Dennoch liess er sich gelegentlich nicht zweimal bitten, wenn er in den Genuss ihrer weiblichen Reize kam - unverbindlich und ohne jegliches Versprechen für die Ewigkeit. Aufgewühlt verliess er jedoch an diesem Morgen das kleine Restaurant.

"Mangens Jansen." Erwartungsvoll tippte Julian den Namen in die Suchmaschine. Die Tasten klapperten.

‚Keine Ergebnisse für "Mangens Jansen" gefunden. Ergebnisse für Mangens Jansen (ohne Anführungszeichen).

'Mist. War aber klar.' Eigentlich hatte er nichts anderes erwartet. Kein Grund sich über den Misserfolg zu grämen. Auch 'Google' konnte nicht alles wissen - zum Glück. Nachdenklich stützte er sein Kinn auf die geballte Faust und blickte auf den Bildschirm. Schon verrückt wie wir uns auf die Maschine verlassen. Dabei sind es doch nur Lichtpunkte. Sichtbar angeordnet und in Form gebracht. Es roch nach Tee. Aufmerksam wanderten seine Augen über den zerknitterten Brief. Julian liebte die Musik. Sie war ihm eine wichtige Begleitung. Einmal mehr verhalf ihm im Hintergrund Neil Finn mit seinen Crowded House für die nötigen gefühlten Stimmungsbilder.

'Anwaltskanzlei Svenja Behlendörp Wyk auf Föhr" mit Anführungszeichen. Umgehend wurde die Suchmaschine in der virtuellen Welt fündig.

‚Interessant. Wow, die existiert tatsächlich.‘ Julian staunte über den Eintrag auf dem leuchtenden Bildschirm.

‚Beratung und Vertretung im gesamten Erbrecht. Nachlassplanung; Testament oder Erbvertrag; Erbteilung; Willensvollstreckung usw., eine schlichte weissgrüne Webpräsentation. Strenge Frisur, Seitenscheitel und Perlenohrringe. Erstmals verspürte er eine ernsthafte Zuversicht nicht einem Schwindel oder einer Gaunerei aufgesessen zu sein. Die Daten stimmten überein.

'Die Lady ist durchaus sympathisch. Julian schätzte sie auf Mitte Dreissig.

'Sie hat sogar ein nettes Lächeln.' Gespannt klickte er auf den Link, 'Kontakte'. Grosse Strasse, 25938 Wyk auf Föhr. Map Data GeoBasis-DE/BKG (©2009), Google.

‚Zumindest ist es keine afrikanische Betrügerbande.‘ Julian schmunzelte über seine eigenen Zweifel und das Misstrauen der letzten beiden Tage. Aufgebracht und nervös über diese zuversichtliche Entdeckung griff Julian zum Telephon. Verunsichert und unentschlossen legte er es wieder beiseite, schnippte nervös mit seinen Fingern. Noch immer waren nicht alle Zweifel restlos verflogen. ‚Einwohnermeldeamt Föhr‘ ohne Ausführungszeichen in der Suchmaske. Die Entertaste bestätigt die Postanschrift: Amt Föhr-Amrum - - Die Amtsdirektorin- Postfach 15 80 D-25933 Wyk auf Föhr. Telefon-Nr. 04681-5004-0, Öffnungszeiten Montag bis Freitag oder nach Vereinbarung. Nachdenklich, starrte Julian auf die Telephonnummer. Die Existenz der Kanzlei konnte ihn letztendlich nicht vor einer Blamage schützen. Zumindest war am Telephon eine gewisse Anonymität gegeben. Wie sollte er der Unbekannten sein Anliegen erklären? Was war eigentlich sein Anliegen und welche die richtigen Fragen? Auf keinen Fall wollte er aber in peinlichen Rechtfertigungen versinken? Vor zwei Tagen war der Brief eingegangen. Allmählich ärgerte er sich über sich selber. Das eigene Misstrauen hatte ihm mittlerweile mächtig ein Bein gestellt. Er hasste diese Handlungsunfähigkeit. Als Macher war er sich Zurückhaltung nicht gewohnt - aber nie zuvor in einer solchen Situation.

"Scheisse, was soll das ganze Theater. Einmal gut Durchatmen. Du bist doch sonst nicht so zimperlich Idiot." Entschlossen griff er zum Telephon. Nervös tippten seine Finger über die Tastatur. Ein vertrautes Summen ertönte am anderen Ende der Leitung. Einmal, zweimal, dreimal …

"Einwohnermeldeamt Föhr-Amrum. Mein Name ist Sieke Flor. Was kann ich für Sie tun?"

"Ja, ähhm, guten Tag." Der Bann war gebrochen und Julian räusperte sich verlegen.

"Guten Tag Frau Flor. Mein Name ist Julian Sutter aus der Schweiz. Ich hätte gerne eine Auskunft in einer Erbschaftsangelegenheit."

"Moin Herr Sutter. Natürlich gerne. Wenn ich Ihnen weiter helfen kann. Worum handelt es sich genau?" Die Stimme war freundlich und wirkte vertraut. Julian machte sich umgehend ein Bild der Unbekannten. Er klemmte den Hörer ans Ohr und surfte nebenbei auf der Webseite des Meldeamtes. Vielleicht war sie darauf abgebildet.