Die kleine schleswig-holsteinische Industriestadt, D-Zug-Haltepunkt und mit einem Kanalhafen, liegt inmitten einer flachen, baumlosen Ebene, Äcker über Äcker, und ihren einzigen Reiz könnten vielleicht die Knicks ausmachen, die um die Felder laufen. Buschbestandene Feldraine also.
Es ist eine betriebsame Stadt, diese Stadt, über der als einziges Wahrzeichen, bedeutender noch als die Kirchen, die Fabriken, der Bau des Zentralgefängnisses in Zement und roten Steinen aufragt.
Kufalt liebt diesen Anblick, dieses Wahrzeichen der kleinen Stadt, nicht sehr. Er ist eine Art Gefangener, der freiwillig an den Ort seines Gefängnisses zurückgekommen ist – immer, wenn er um eine Ecke kommt, läuft ihm ein Wachtmeister entgegen und sagt grinsend: »Tag, Herr Kufalt.« Oder aber die Mauern sind da. Die Backsteinzinnen, die kleinen Gitter in den großen Wänden.
Wir kehren alle wieder heim zu uns. Immer wieder. Nichts blöder als das Geschwätz von dem neuen Leben, das einer anfangen könnte, in uns sitzt es. In uns bleibt es. Da hockt er nun in seiner Stube in der Königstraße, an der Peripherie der Stadt.
Wenn er aus der Tür hinaustritt und sich von der Stadt fortwendet, ist der Novemberwind da, mit dem Blättergetriebe, mit den öden, endlosen Landstraßen, die irgendwohin führen, wo es auch nicht anders ist. Ist der faulige Geruch da aus den Chausseegräben, von Sterben und Vergehen, ist die Einsamkeit da, mit der man nichts anfangen kann, ist alles, alles wieder da, ein verfehltes Leben ohne Aussicht, ohne Mut, ohne Geduld.
Er sitzt da in seinem Zimmer in der Königstraße, es ist ein gutbürgerliches Zimmer, Bruhn hat ein schlechteres. Bruhn hat ein Arbeiterzimmer, eine Schlafgelegenheit gewissermaßen nur. Aber Kufalt sitzt zwischen Mahagoni und Plüsch und Nippes und Bildern, er hat eine Adressenliste neben seiner Maschine, er tippt Briefe. Es sind viele Briefe für einen Mann, der kaum mit einem Menschen Umgang hat, zehn oder zwölf etwa, er tippt den letzten fertig, unterschreibt ihn, kuvertiert ihn, frankiert sie alle, alle Stadtporto zu acht Pfennig, und dann zieht er seinen Mantel an und setzt seinen Hut auf. Er nimmt die Briefe in die Hand und steht an der Schwelle.
Es ist elf Uhr vormittags. Er hat sein Tagewerk gewissermaßen vollbracht. Das Bettlertagewerk der Aussichtslosigkeit, und man kann nicht immer schlafen, und man kann nicht immer grübeln. Man hat so seine Sorgen, wenn man auch ein Rentier ist mit vierhundert Mark, mit über vierhundert Mark noch in der Brieftasche.
Er steht an der Schwelle und zaudert. Es ist ganz egal, ob die Briefe heute Mittag in den Kasten kommen oder heute Abend, wenn es schon dunkel geworden ist, es erfolgt doch nichts darauf. Es ist ganz egal – aber da ist der kleine Emil Bruhn, der grübelt für seinen Freund Kufalt, der hat gestern Abend gesagt: »Die Pfaffen, Mensch, denk doch bloß an die Pfaffen, die müssen etwas für dich tun.« Er hat das »müssen« so betont – und Kufalt wird heute Abend den Bruhn treffen, und Bruhn wird fragen, ob er auch an die Pfaffen gedacht hat und zu ihnen gegangen ist. Bruhn ist ein Bohrer, Bruhn wird nicht nachlassen, bis Kufalt das getan hat, was er für richtig hält. Also muss Kufalt jetzt um elf aus seinem Zimmer in die Stadt gehen und sich die Adressen von den fünf oder sechs Pfaffen, die es in diesem Städtchen gibt, besorgen.
Kufalt steht immer noch zaudernd an der Tür. Plötzlich entschließt er sich. Er geht an seinen Koffer, er schließt den Koffer auf, in dem Koffer liegt die eine Antwort, die er auf alle seine Bewerbungsbriefe bekommen hat. Ein Mann hat sie geschrieben, der sich Malte Scialoja nennt. Er ist Chefredakteur einer hiesigen Zeitung, der größeren. Der Chefredakteur der anderen Zeitung hat gar nicht geantwortet. Nun gut, aber auch diese Antwort sieht nicht sehr hoffnungsvoll aus. Und doch müsste man eigentlich mal zu dem Mann hingehen.
Kufalt liest den Brief. Er ist nicht lang, ein paar Zeilen nur, er lautet:
»Sehr geehrter Herr! Wenn mich auch Ihr trauriges Schicksal bekümmert, so glaube ich doch nicht, etwas für Sie tun zu können. Zwar ist die Auskunft, die Herr Strafanstaltsdirektor über Sie gab, ausgezeichnet, aber Sie wissen wohl selbst, welche Verantwortung für den leitenden Redakteur damit verbunden ist, einen vorbestraften Mann in seinen Betrieb zu bringen. Immerhin würde es mich freuen, wenn Sie mich einmal zwischen elf und eins aufsuchen würden. – Hochachtungsvoll …« und so weiter.
Kufalt seufzt, als er diesen Brief liest. »Aussichtslos«, flüstert er, »völlig aussichtslos. Aber wenn ich mir doch die Adressen besorge, kann ich ja auch mal bei dem Manne vorbeigehen.«
Er hat in der einen Hand zwölf Bewerbungsschreiben. Mit der anderen steckt er das Schreiben des Chefredakteurs Malte Scialoja in seine Tasche. Und nun geht er wirklich aus seinem Zimmer auf die Straße.
*
Malte ist ein niederdeutscher Vorname, Scialoja ist ein italienischer Nachname. Der Mann, der diese beiden Namen trägt, ist der berühmte Heimatschriftsteller Holsteins, der an der Scholle hängt und der Bücher von Bauern schreibt, deren Sprache das Platt ist, das auch er am liebsten spricht. Die Sache ist nicht so kompliziert, wie man denkt. Vor hundert Jahren einmal hat ein italienischer Matrose in einer der kleinen Hafenstädte an der Küste Wurzel geschlagen. Er hat ein friesisches Mädchen geheiratet, und sein Urenkel ist es nun, der dort hinter seinem Schreibtisch auf dem Chefbüro sitzt, zwischen Papieren wühlt, auf das Radio horcht und eigentlich nichts tut. Er ist nicht mehr als ein Aushängeschild für die Zeitung, klüglich vom Besitzer zu diesem Zweck engagiert. Einmal in der Woche, am Sonntag, erscheint ein sinniger Artikel von ihm im Blatt, in der »Heimatsprak«.
Aber er ist ein wichtiger Mann. Er ist das rohe Ei in der Redaktion, das alle sorgfältig behandeln müssen, die Leute glauben an ihren versonnenen, schwärmerischen Dichter. Das Publikum will ihn haben.
Da sitzt er zwischen seinen Papieren, eigentlich könnte er ebenso gut zu Haus sitzen. Er hört unten die große Rotationsmaschine gehen, um halb eins ist die Abendausgabe fertig, das geht ihn nichts an. Dafür haben die kleinen Reporter ihre Sächelchen geschrieben, das geht ihn nichts an.
Scialoja ist ein blasser Mann mit einem untadeligen dunklen Scheitel, in einem Lüsterjackett. Er hört auf die Tanzmelodien, er liest auch mal ein paar Zeilen aus den Manuskripten, und dann sieht er sich seine Nägel an. Er ist ein großer Mann, er weiß das sehr genau. Es ist nicht einfach, das Leben eines großen Mannes zu führen. Man hat seine Verpflichtungen. Das hat er immer verstanden.
Es klopft an seine Bürotür. Er ruft unwirsch: »Herein.« Er ruft immer unwirsch »herein«. Denn er darf nicht zu viel gestört werden. Er ist ein Mann von großer Tätigkeit, mit einem regen Innenleben.
Der Bürobote steht an der Tür. Er meldet: »Ein Herr Kufalt möchte Sie sprechen. Sie wüssten Bescheid.«
Scialoja hat einen Bleistift in der Hand und schreibt. Er sieht kaum auf, als er sagt: »Ich habe zu arbeiten. Ich kenne keinen Herrn Kufalt. Ich weiß nicht Bescheid.«
Die Tür schließt sich wieder. Herr Scialoja ist wieder allein. Er hat den Bleistift wieder hingelegt. Er horcht auf die Radiomusik. Die spielen Tänze. Es sind jene bösen falschen Tänze, die dem Volk so schaden. Es gibt so hübsche Bauerntänze, all das ist verdrängt von diesem Asphaltkitsch. Aber er horcht darauf. Es hört sich nicht schlecht an, aber es ist schlecht.
Schon klopft es wieder an die Tür. Da ist noch einmal dieser unausstehliche Bote. Er sagt vorsichtig: »Der Herr sagt, er ist zwischen elf und eins zu Ihnen bestellt.«
Der Chefredakteur antwortet: »Ich habe so viele Dinge im Kopf, ich muss arbeiten, verstehen Sie das doch! Ich bestelle keine Besucher. Schicken Sie den Herrn weg.«
Die Tür fällt wieder zu. Und wieder die Musik und das Papier, und all die langweiligen Manuskripte, die nicht von ihm geschrieben sind.
Kommt der Bote wirklich noch einmal wieder? Wagt er es? Ja, er wagt es! Er hat ein Stück Papier in der Hand, einen Brief also. »Der Herr will nicht gehen, Sie hätten ihm diesen Brief geschrieben.«
Der Bote bleibt unter der Tür stehen mit dem Brief in der Hand. Scialoja schreibt. Er sagt scharf: »Einen Augenblick bitte, ich habe zu arbeiten.«
Und er schreibt eine lange Zeit weiter.
Dann legt er den Bleistift hin. Er seufzt dabei. Er sagt: »Zeigen Sie mir also mal den Brief.«
Er liest ihn, einmal, zweimal, er betrachtet die Unterschrift genau. Unterschriften von großen Leuten können gefälscht werden: So betrachtet er die Unterschrift. Dann sagt er: »Führen Sie den Herrn herein. Aber sagen Sie ihm gleich, dass ich nur eine Minute Zeit habe. Ich habe zu arbeiten.«
Nun steht Kufalt in dem Chefredakteurbüro, vor dem weißgesichtigen Mann mit dem dunklen Scheitel, der schreibt und ihn nicht ansieht.
Vor einer halben Stunde in seinem Zimmer schien es Kufalt noch zweifelhaft, ob er den Brief überhaupt benutzen würde. Aber mit dem Widerstand wächst der Widerstand: Was du geschrieben hast, Freundchen, das tu.
»Also – Sie wollen?« fragt Scialoja und schreibt weiter.
»Ich habe Ihnen das ausführlich in meinem ersten Brief auseinandergesetzt«, antwortet Kufalt zögernd.
Der Chefredakteur sieht hoch. Er lächelt. »Ich habe so viele Dinge in meinem Kopf«, sagt er. »Hunderte kommen um Hilfe zu mir. Ich bin bekannt im ganzen Land. Was wollen Sie nun also?«
»Eine Stellung«, sagt Kufalt. »Irgendetwas zu arbeiten. Gleichviel was.«
Und er setzt leiser hinzu: »Ich habe Ihnen doch geschrieben, ich bin vorbestraft. Ich finde nichts. Ich dachte, dass gerade Sie …«
Das ist eigentlich der richtige Appell an den großen Mann: »gerade Sie«; aber andererseits kann er wieder nicht zugeben, dass es Fälle gibt, die er noch nicht erlebt hat.
Und so sagt er: »Dutzende von Vorbestraften kommen zu mir um Hilfe, ich sage Ihnen, Dutzende.«
Er hat mit Schreiben aufgehört und sieht Kufalt freundlichkühl an.
Kufalt steht abwartend.
»Ja«, sagt der große Mann und noch einmal: »Ja.«
Kufalt weiß immer noch nicht, was er reden soll. Und so wartet er weiter.
»Sehen Sie«, sagt der große Mann, »ich habe zu arbeiten, ich vertrete das Volk, das einfache Volk, verstehen Sie? Blut und Scholle, verstehen Sie?«
»Ja«, antwortet Kufalt geduldig.
»Ich darf mich nicht zersplittern«, sagt der andere weiter. »Ich habe einen Beruf. Verstehen Sie, was Berufung heißt?«
»Ja«, sagt Kufalt wieder.
Der Chefredakteur betrachtet den Bittsteller, als sei nun alles erledigt. Aber Kufalt findet, es ist nichts erledigt, man hätte ihn nicht zwischen elf und eins zu bestellen brauchen, damit er sich anhört, ein anderer hat einen Beruf, er hat keinen.
So steht er weiter da.
»Wissen Sie«, sagt Herr Scialoja, »Sie können ja vielleicht später mal wieder vorfragen. Wie gesagt, ich bedaure Ihr unglückliches Schicksal. Der Strafanstaltsdirektor hat mir eine ausgezeichnete Auskunft gegeben.«
Das Erinnern scheint ihm also wiedergekommen zu sein, trotz der tausend Dinge, die durch seinen Kopf gehen. Und so versucht Kufalt es noch einmal.
»Nur ein bisschen Arbeit«, sagt er. »Ein, zwei Stunden täglich.« Und er setzt lockend hinzu: »Ich hab eine eigene Schreibmaschine.«
Sein Gegenpart sieht bekümmert aus.
»Ja, ich weiß wirklich nicht«, sagt er zögernd, »ich lebe ja nur meiner Arbeit. Vielleicht sprechen Sie einmal mit unserem Geschäftsführer.«
»Würden Sie mich Ihrem Geschäftsführer empfehlen?« fragt Kufalt.
»Aber mein lieber Herr«, sagt der andere, »ich kenne Sie ja gar nicht!«
»Aber Sie haben doch mit Herrn Strafanstaltsdirektor gesprochen!«
»Der Strafanstaltsdirektor«, sagt der Chefredakteur und ist plötzlich ganz von dieser Welt, »empfiehlt natürlich all seine entlassenen Gefangenen, damit er die Laufereien nicht mehr hat.«
»Aber warum haben Sie mich hierherbestellt?« fragt Kufalt.
»Wissen Sie was«, sagt der große Mann und hat eine Erleuchtung. »Wir haben da so einen Fonds, ich gebe Ihnen eine Anweisung an die Kasse auf drei Mark, und Sie versprechen mir, nicht wiederzukommen.«
Kufalt steht einen Augenblick still. Er besinnt sich. Dann sagt er plötzlich und ist gar nicht mehr schüchtern: »Sie wohnen doch in der Dottistraße, Herr Scialoja, in einer Villa?«
»Ja«, antwortet der Chefredakteur verwirrt.
»Na also«, sagt Kufalt. »Dann klappt es ja. Redaktionsschluss ist doch um sechs?«
»Wieso?« fragt der andere.
»Weil’s da dunkel ist«, sagt Kufalt und lacht. Und lachend geht er aus dem Chefbüro.
Er lässt einen ziemlich aufgeregten Mann hinter sich.
Das Lachen, mit dem Kufalt das Büro verlassen hatte, hielt nicht lange vor. Gewiss war die Dottistraße abends um sechs dunkel, und gewiss war es höchst angenehm zu wissen, dass Herr Scialoja in der nächsten Zeit mit Angstgefühlen nach Hause gehen würde, wahrscheinlich eskortiert von irgendeinem Redakteur oder Setzer – aber was half das alles!
Vierhundertdreißig Mark sind nicht so sehr viel Geld, und das Ende war leichtlich auszurechnen. Nun gut, er würde zu den sechs Pastoren gehen, deren Adressen er am Schalter der Zeitung eingesehen hatte, aber auch dabei würde nicht viel herauskommen.
Unter den sechs Geistlichen war einer, den Kufalt kannte. Das war der katholische Pfarrer, dem Kufalt im Gefängnis den Altar hatte zurechtmachen müssen, ein alter strenger Mann. Kufalt hatte manchen Streit mit ihm gehabt, der Pfarrer hatte es ihn wohl auch entgelten lassen, dass ihm von der Beamtenschaft ein »Evangelischer« für diese Arbeit aufgezwungen worden war.
Aber trotzdem: Jetzt, als Kufalt auf der Straße geht und den Fall bedenkt, scheint ihm der Mann nicht übel. Er ist eifrig gewesen für seine Gefangenen, er hat sie wohl angeschnauzt und gescholten, aber er war immer da für sie. Vielleicht ist er auch für Kufalt da?
Kufalt entschließt sich ganz schnell: Jetzt sofort, nach diesem verfluchten Scialoja, wird er zum Pfarrer gehen.
Da empfängt ihn eine Nonne oder was das ist, man sieht fast nichts von ihrem weißen Gesicht unter der großen Haube. Kufalt muss lange warten, er steht da im Vorplatz, das Haus ist totenstill. Er steht lange da, aber er hat nichts zu versäumen, wirklich gar nichts.
Schließlich kommt auch der Pfarrer. Langsam geht der große starke Mann auf ihn zu, langsam und leise fragt er ihn, was er wohl möchte. Er hat Kufalt nicht wiedererkannt, und Kufalt muss ihn erst wieder ans Kittchen erinnern.
»Ja so«, sagt der Pfarrer und erinnert sich noch immer nicht recht. »Sie sehen jetzt aber anders aus. Sehr ordentlich.«
»Die andere Kleidung«, erinnert Kufalt.
»Ja, gewiss«, sagt der Pfarrer. »Andere Kleidung, ja.«
Er spricht immer langsam und leise, sicher ist er ein Bauernsohn von der Wasserkante, da sind sie so leise und stark.
»Und was kann ich jetzt für Sie tun?«
Kufalt erzählt es, und der Pfarrer hört zu, fragt auch einmal dazwischen, Kufalt merkt, er versteht, wie einem Menschen zumute sein kann.
Schließlich sagt der Pfarrer ganz kurz: »Ich gebe Ihnen ein Schreiben an den Prokuristen einer Lederfabrik. Ich sage nicht, dass das Schreiben Ihnen was nützt. Aber ich gebe es Ihnen.«
Er setzt sich hin und schreibt, einmal sieht er hoch und fragt: »Aber von meiner Konfession sind Sie nicht?«
Kufalt möchte lügen, aber dann sagt er doch leise: »Nein.«
»Gut«, sagt der Pfarrer und schreibt weiter.
»Also gehen Sie gleich«, sagt er dann. »Jetzt wird der Herr zum Essen zu Haus sein.« Er wiegt den Kopf. »Machen Sie sich keine Hoffnung«, sagt er. »Es gibt noch viel schlimmeres Elend. Geld haben Sie noch?«
»Ja«, sagt Kufalt.
»Und Kleidung?«
»Ja«, sagt Kufalt.
»Nun, vielleicht kommen Sie, wenn dies nichts ist, noch einmal wieder. Ich will sehen, ich will sehen …«
Er reicht Kufalt die Hand.
Der gibt den Brief in der Wohnung des Prokuristen ab und wartet vor der Tür. Sein Herz klopft ein wenig, ein guter alter Mann, hat ihm keine Hoffnungen gemacht – aber es kann doch sein?
Das Dienstmädchen kommt zurück, es drückt ihm Geld in die Hand, es sagt: »Es ist nicht nötig, dass Sie wiederkommen.« Dann schließt sie die Tür.
Er steht ziemlich traurig auf dem Treppenabsatz, zählt das Geld, es sind dreißig Pfennig. Er hört das Mädchen in der Küche hantieren, steckt die dreißig Pfennig durch den Briefkastenschlitz und läuft eilig die Treppe hinunter, als die Groschen im Kasten klappern.
Dann zottelt er ziemlich trübselig und missvergnügt nach Haus. In einem Geschäft in der Königstraße kauft er sich noch zwei Bücklinge, Brot war zu Haus, Milch war zu Haus, und so war das Alltagsmittagessen à la Maack komplett. Dann konnte man nach dem Essen schlafen oder nicht schlafen, wie der Kopf es wollte, und dann kam der Lichtpunkt des Abends: der Besuch bei Emil Bruhn. Und vielleicht würde man sogar, wenn Emil Bruhn in seiner Holzwarenfabrik diese Woche gut verdient hatte, auf einen Tanzboden gehen. So fantastische Pläne hegt man. Die Bücklinge mit dem fettigen Pergamentpapier in der Hand, trat Kufalt in seine Stube ein und blieb unter der Tür stehen.
Am Fenster hatte ein schlanker, rötlicher Mann mit einer langen Nase gesessen, in einer Zeitung gelesen, die er jetzt zusammenfaltete.
»Herr Kufalt wahrscheinlich?« sagte der Mann. »Entschuldigen Sie, dass ich es mir bei Ihnen gemütlich gemacht habe. Ihre Wirtin hatte keine Bedenken.«
»O bitte«, sagte Kufalt verwirrt.
»Mein Name ist nämlich Dietrich«, sagte der Herr und sah Kufalt freundlich mit seinen geschwinden Mauseaugen an, die seltsam nah am Nasenrücken saßen.
»Kufalt«, stellte sich Kufalt ganz unnötig vor. Er wusste noch immer nicht, wer sein Besucher war.
Das kapierte der sofort.
»Ach so«, sagte er. »Sie erinnern sich nicht mehr. Sie haben doch an den ›Stadt- und Landboten‹ geschrieben wegen Arbeit. Wegen Ihrer unglücklichen Lage. Man hat da hin und her geredet auf der Redaktion wegen Ihres Briefes, aber natürlich tut keiner von den großen Leuten was, und so bin ich hier!«
Er lächelte einladend und schien den Fall für geklärt anzusehen.
Der »Stadt- und Landbote« war die kleinere Konkurrenz jener größeren Zeitung, deren Herrn Scialoja Kufalt eben besucht hatte.
»Ja«, sagte Kufalt zögernd und legte die Bücklinge auf den Waschtisch. »Und Sie haben also Arbeit für mich?«
»Vielleicht«, sagte Herr Dietrich. »Wer lebt, wird erleben.«
»Und was müsste ich tun, um vielleicht Arbeit zu bekommen?«
Sie hatten sich beide gesetzt und sahen einander freundlich an.
»Wissen Sie«, sagte Herr Dietrich und neigte sich so nahe zu Kufalt, dass der feststellen konnte, Herr Dietrich hatte heute schon Kognak getrunken. »Wissen Sie, ich bin nämlich auch nicht angestellt beim ›Stadt- und Landboten‹. Ich bin ein freier Mann.«
Kufalt zog sich ein wenig zurück. Sowohl vor dem Atem wie vor der Eröffnung.
»Aber«, sagte Herr Dietrich – und dieses Aber hatte mindestens sieben a –, »ich habe vielerlei zu tun. Ich habe viele Dinge in meinem Kopf.«
Kufalt glaubte, das schon einmal heute gehört zu haben, und sah still abwartend da.
»Erstens«, erklärte Herr Dietrich und legte seine Hand sachte auf Kufalts Hand, »erstens bin ich Abonnentenwerber für den ›Stadt- und Landboten‹.«
Er hob seine Hand hoch, betrachtete sie nachdenklich. Dass die Nägel, so kurz sie auch abgebissen waren, ziemlich dreckig aussahen, schien er nicht zu bemerken. Nach der Betrachtung der Hand legte er sie ein zweites Mal auf Kufalt.
»Zweitens«, sagte Herr Dietrich, »bin ich Annoncenakquisiteur für dieselbe Zeitung.«
Wieder dasselbe Manöver mit der Hand. Und wieder kam die Hand zu Kufalts Hand zurück.
»Drittens«, sagte Herr Dietrich, »werbe ich für eine freiwillige Krankenkasse Versicherte und erhebe die Beiträge.«
Die Hand flog wieder in die Luft und kehrte wieder zu Kufalt zurück.
»Viertens kassiere ich für die hiesige Gastwirtsinnung die Innungsbeiträge.«
Kufalt war überzeugt, dass Herr Dietrich gerade an diesem Morgen bei den Gastwirten Innungsbeiträge kassiert hatte. Er wusste nicht, wie lange Herr Dietrich schon in seinem Zimmer gesessen hatte. Aber jedenfalls roch das Zimmer entschieden spirituös.
»Fünftens«, erklärte Herr Dietrich feierlich, »erhebe ich auch die Mitgliedsbeiträge beim Turnverein Alte Eiche.
Sechstens bin ich aber auch der Geschäftsführer des hiesigen Wirtschafts- und Verkehrsvereins und gebe alle Auskünfte, die sonst von dem ganzen Stab eines Mitteleuropäischen Reisebüros erteilt werden.«
Kufalt wartete, ob noch Weiteres käme, aber die Hand blieb in der Luft und wanderte dann in die Tasche von Herrn Dietrich, wo sie mit Silbergeld klimperte.
Jedenfalls will er mich nicht anpumpen, dachte Kufalt.
»Ihr Schicksal hat mich direkt erschüttert«, sagte Herr Dietrich überleitend. »Ich versichere Ihnen: direkt erschüttert.«
Pause.
Eigentlich müsste Kufalt nun etwas sagen. Aber er sagte nichts. Herr Dietrich wandte sein Gesicht plötzlich scharf seinem Gesprächspartner zu. »Und was denken Sie nun, was ich für Sie tun kann?« fragte er.
»Ja, ich weiß doch nicht«, sagte Kufalt zögernd.
»Gehalt kann ich Ihnen nicht zahlen«, erklärte Dietrich mit Entschiedenheit. »Aber Sie haben Aussichten bei mir.«
»So«, sagte Kufalt nur.
»Ich will Ihnen mal was sagen«, erklärte Herr Dietrich, »ich will ganz offen mit Ihnen reden. Ich bin überhaupt ein sehr offener Mensch. Meine Offenheit hat mir schon tausend Mal geschadet …«
Er sah Kufalt freundlich lächelnd an, wusste aber entschieden nicht weiter. Dann hatte er eine Idee.
»Wissen Sie was«, sagte er, »hier gleich an der Ecke hat der Gastwirt Lemcke eine Wirtschaft. Darf ich Sie zu einem Glas Bier und einem Korn einladen? Da spricht es sich viel besser.«
Kufalt zögerte einen Augenblick. Dann sagte er: »Ich trink nie was am Vormittag. Ich vertrag das nicht.«
»Ich auch nicht«, sagte Herr Dietrich, »aber Sie verstehen, wenn man Kassierer der Gastwirtsinnung ist …«
Kufalt hüllte sich in Schweigen. Herr Dietrich rückte hin und her, sah unzufrieden seine Zigarre an und sagte dann, gewissermaßen zu dieser Zigarre: »Zu einem Entschluss müssen wir kommen.«
»Ja«, sagte Kufalt höflich.
Plötzlich war Herr Dietrich in Fahrt.
»Wissen Sie was, mein lieber Herr Kufalt«, sagte er, »schließlich kennen Sie mich nicht, und Kognak habe ich heute auch schon ein bisschen getrunken. Gehen Sie morgen um zwölf auf die Redaktion. Da sitzt unser Obermuckermuck, der Freese, der wird Ihnen sagen, was ich für ein Mann bin. Und dann übertrage ich Ihnen gegen prozentuale Beteiligung das Inkasso bei allen Vereinen und der Innung. Und Sie können auch Annoncen und Abonnenten werben, und wenn Sie sonst eine Arbeit für mich machen, dann bezahle ich sie extra. Was meinen Sie dazu?«
»Was könnte man denn da so verdienen im Monat?« fragte Kufalt vorsichtig.
»Das hängt ganz von Ihnen ab«, sagte Herr Dietrich. »Wenn Sie zum Beispiel hundert Abonnenten im Monat werben, pro Abonnent eine Mark fünfundzwanzig, macht hundertfünfundzwanzig Mark, ein Viertel an mich – das ist gewissermaßen so nebenbei verdientes Geld.«
»So«, sagte Kufalt, »und das Kassieren bei den Leuten? Die zahlen doch heute alle nicht gerne ihre Beiträge.«
»Na ja«, sagte Herr Dietrich, »Millionär werden Sie nicht werden. Aber Ihr Leben haben Sie. Wollen Sie, oder wollen Sie nicht?«
»Zu Herrn Freese will ich schon mal gehen«, sagte Kufalt.
»Und noch eins, lieber Herr Kufalt«, sagte Herr Dietrich und neigte sich ganz dicht zu Kufalt hin, sodass er das ganze Aroma von einem halben Dutzend Kognaks zu spüren bekam. »Wissen Sie, das mit dem Inkasso, da kriegen Sie doch Hunderte von Mark in die Hände, und ich muss dafür gradestehen.«
Er sah Kufalt ernst besorgt an.
»Ich muss dafür geradestehen«, wiederholte er noch einmal.
»Ja«, sagte Kufalt und wartete. Er wusste schon, was da kommen würde, aber er wollte es dem anderen nicht gar zu leichtmachen.
»Sie wissen doch, lieber Herr Kufalt«, sagte Herr Dietrich. »Sie haben es mir doch selbst geschrieben. Das war doch dieselbe Geschichte, weswegen Sie ins Kittchen kamen, ich meine, weswegen Sie Ihr unglückliches Schicksal erlitten.«
»Also kann ich eben nicht kassieren«, sagte Kufalt.
»Doch, doch«, versicherte der andere. »Man kann da doch sicher irgendwas einrichten. Sie sind doch aus guter Familie. Eine Kaution …«
»Also ich werde morgen mal zu Herrn Freese gehen«, sagte Kufalt und stand auf.
»Sie meinen, eine Kaution käme nicht in Frage? Ich würde sie natürlich in jeder Hinsicht sicherstellen.«
»Was glauben Sie denn eigentlich?« rief Kufalt. »Glauben Sie, ich hätte es nötig, Bettelbriefe zu schreiben, wenn ich große Kautionen stellen könnte?«
»Und eine kleinere?« fragte Herr Dietrich. »Sie können ja jeden Tag mit mir abrechnen.«
»Auch eine kleine nicht«, entschied Kufalt. »Jedenfalls werde ich aber mal Herrn Freese besuchen.«
»Das hat gar keinen Sinn«, sagte Herr Dietrich und pirschte sich gegen die Tür. »Freese ist das gröbste Schwein von der Welt. Im Übrigen«, sagte er und bekam die Türklinke zu fassen, »im Übrigen bin ich doch nur zu Ihnen gekommen, weil ich von Ihrem Schicksal erschüttert war, direkt erschüttert.«
»Ja, ja«, sagte Kufalt gedankenlos und betrachtete nachdenklich sein Gegenüber mit der langen Nase. Und plötzlich hatte er eine Idee.
»Können Sie mir nicht vielleicht mit zwanzig Mark aushelfen«, sagte er. »Ich bin nämlich ziemlich abgebrannt.« Er lachte.
Und nun geschah das Wunderbare. Dieser Dietrich, dieser halb betrunkene Kerl, der mit dem Silbergeld der Gastwirtsinnung in seiner Tasche klapperte, dieser Dietrich fasste einfach in die Tasche, holte eine Handvoll Geld heraus, zählte vier Fünfmarkstücke ab, drückte sie Kufalt in die Hand, sagte: »Quittung ist unnötig. Wir arbeiten doch noch miteinander.«
Und verschwand mit dem sachten und vorsichtigen Schritt der regelmäßig Betrunkenen, die wissen, dass sie auf sich aufzupassen haben, treppab.