Ich war zu spät gekommen. Vor den Fenstern der Gaststube lagen schon die Läden, und kein Lichtschein drang hindurch. Ich legte die Hand auf die Klinke, aber die Tür war verschlossen. Einen Augenblick stand ich überlegend. Dann ging ich leise um das Haus herum in den Obstgarten und sah zu Elinors Fenster empor. Auch dort alles dunkel, aber das machte nichts. Ich hatte alle Zeit, die Gott werden ließ, und wir würden uns schließlich auch im Dunkeln gut verständigen. Besser! Besser!
Erst einmal setzte ich mich ins Gras und fing an, mein Paket zu öffnen. So ein geschickt verpacktes Paket ist etwas sehr Gutes, aber es hat den Nachteil, dass man an seinen Inhalt nicht heran kann. Zu lange hatte ich schon gedurstet, große Leistungen vollbracht – und jetzt der gute Holzfällerschnaps! Nachdem ich mich ausgiebig, sehr ausgiebig gestärkt hatte, fing ich an, meine Habseligkeiten auf dem Schuppendach, das ich gerade mit den Händen erreichen konnte, aufzubauen. Zuerst die Aktentasche, dann eine Flasche nach der anderen: eine Flasche sächsischen Korn, dann vier unangebrochene und eine angebrochene Flasche Schwarzwälder Zwetschgenwasser. Alles schön ordentlich nebeneinander auf dem Dachrand. Nun war ich fertig zum Aufstieg.
Ich hängte mich an die vorstehende Dachkante und versuchte, mich hochzuziehen. Aber ich hatte meine turnerischen Fähigkeiten über- und die Wirkung des Schnapses unterschätzt: Eine Weile hampelte ich hilflos in der Luft, dann verlor ich den Halt und stürzte schwer ins Gras. Ächzend blieb ich liegen, der Fall hatte mir nicht gutgetan. Aber mit jener Hartnäckigkeit, die Betrunkene gerade beim aussichtslosesten Tun entwickeln, erneuerte ich meine Versuche, stets, nachdem ich mich erst neu und ausgiebig gestärkt hatte – der Rest der ersten Flasche ging dabei drauf. Aber jedes Mal stürzte ich wieder schwer zu Boden. Als ich das letzte Mal aufstand, war mir klar, dass ich so mein Ziel nie erreichen würde. Außerdem verstand selbst ich, dass ich schwer betrunken war.
»Ich bin komplett besoffen, ich bin völlig blau …«, murmelte ich immer wieder stumpfsinnig vor mich hin und lehnte mich schwer atmend gegen einen Baum. Dann erinnerte ich mich dunkel, dass ich vor dem Gasthof Eisentische und Eisenstühle hatte stehen sehen. Mühsam schleppte ich einen Stuhl herbei, kletterte vorsichtig auf ihn (ich hatte jetzt schon Furcht vor einem neuen Fall) und versuchte nun, aufs Dach zu kommen. Und wieder stürzte ich.
Es gab eine längere Pause, einesteils, weil ich mich wirklich ziemlich schwer geschlagen hatte, zum anderen, weil ich den Korkenzieher suchen musste, um eine neue Flasche zu öffnen. Ich hatte ihn bestimmt auch auf den Dachrand gelegt, aber von dort war er ganz unbegreiflich verschwunden. Ich suchte ihn, leise vor mich hin scheltend, auf allen Vieren im Grase. Er war nicht aufzufinden. Schließlich besann ich mich darauf, dass auch an meinem Taschenmesser ein Korkenzieher war, der mir bisher recht gute Dienste geleistet hatte. Ich suchte das Messer in den Taschen, fand es nicht, fand aber stattdessen in ihnen den Korkenzieher, den ich auf den Dachrand gelegt hatte.
Nachdem ich wieder getrunken hatte, war mir doch eines klar: dass ich über das Dach das Kammerfenster nie erreichen würde. Also ging ich wieder nach vorne und versuchte von Neuem die Vordertür. Sie war noch immer verschlossen. Ich zog mein Schlüsselbund aus der Tasche und versuchte meine Schlüssel, einen nach dem anderen. Sie waren alle viel zu klein für dieses derbe ländliche Schlüsselloch, aber mit einer stupiden Hartnäckigkeit versuchte ich sie immer wieder in der festen Erwartung, schließlich werde ein Wunder geschehen und die Tür sich öffnen.
Ich hatte bei all diesen völlig betrunkenen Anstalten schon lange nicht mehr die geringste Rücksicht auf den Nachtschlaf der Hausbewohner genommen, und so war es denn kein Wunder, dass schließlich über mir ein Fenster aufging und eine recht ärgerliche Frauenstimme scharf sagte: »Wer ist denn da?«
Ich stand ganz still, rührte mich nicht, wie ein ertappter Einbrecher.
»Wollen Sie wohl machen, dass Sie fortkommen!«, rief es wieder von oben ärgerlich. »Ich seh Sie ja da ganz deutlich stehen! Hier wird nichts mehr ausgeschenkt, hier ist geschlossen!« Damit flog das Fenster oben wieder zu, und ich stand allein im Dunkeln, noch immer ausgeschlossen.
Eine Weile verharrte ich bewegungslos, dann schlich ich auf Zehenspitzen zurück in den Hintergarten und fing leise an, meine Habseligkeiten vom Schuppendach fort- und vorne zum Eingang hinzutragen, wo ich sie wieder pedantisch ordentlich auf einem Eisentisch aufbaute. (Dass ich bei dieser Beschäftigung nicht das Trinken vergaß, versteht sich von selbst.) Kaum hatte ich dieses Werk, das wegen meiner Zerfahrenheit und meines unsicheren Ganges viel Zeit beanspruchte, vollendet, fing ich wieder mein idiotisches Spiel mit Schlüsselbund und Schlüsselloch an.
Ich hatte noch nicht lange gearbeitet, so flog oben mit einem Krach wieder das Fenster auf, und die Frauenstimme rief jetzt sehr zornig: »Das wird mir jetzt aber doch zu bunt. Wollen Sie jetzt machen, dass Sie wegkommen? Oder soll ich die Polizei holen?!«
Das Wort »Polizei« löste meine schwer gewordene Zunge. »Ach bitte«, rief ich verwirrt nach oben, »wollen Sie mich denn nicht hereinlassen? Ich bin nämlich der Professor …!« Wie ich dazu kam, mir den Titel »Professor« beizulegen, ahne ich nicht, es war eine höhere Eingebung.
»Der Professor …?«, fragte es von oben im Tone höchsten Erstaunens. »Welcher Professor denn? Der hier vorigen Sommer Bilder gemalt hat?«
»Ja, natürlich«, sagte ich im selbstverständlichsten Tone von der Welt, als sei es ganz normal, dass ein bildermalender Professor zur Nachtzeit fremde Türen mit seinen Schlüsseln aufschließen will. »Lassen Sie mich doch rein! Ich stehe hier schon zwei Stunden!«
»Hätten Sie doch eine Postkarte geschrieben, Herr Professor!«, sagte die Stimme von oben, noch nicht gerade sehr freundlich, aber doch milder. »Warten Sie einen Augenblick, ich schließe Ihnen dann gleich auf.«
Erleichtert setzte ich mich auf einen Eisenstuhl, trank schnell noch einmal und schloss dann die Augen. Ich war sehr müde, fast betäubt, und doch ahnte ich, dass hinter dieser Ruhe in mir etwas Gefährliches steckte: ein wilder unbändiger Zorn, der jeden Augenblick hervorbrechen konnte. Es fehlte nur der Anlass, und Anlass konnte eigentlich alles sein. Dieses Zwetschgenwasser war viel gefährlicher als der vergleichsweise harmlose Korn, es ging tiefer ins Blut, führte zu ungeahnten Abgründen.
Schließlich drehte sich der Schlüssel in der Tür, ein Lichtschein fiel heraus zu mir. »Na, dann kommen Sie man rein«, sagte die Frauenstimme. »Aber nett ist das nicht, Herr Professor, dass Sie uns so die Nachtruhe stören.«
Ich stand auf und folgte meiner Führerin in die Gaststube, die jetzt im Schein nur einer Glühbirne mit den auf die Tische gestellten Stühlen höchst unwirtlich aussah. Meine Begleiterin drehte sich jetzt nach mir um, es war die weißhaarige Wirtin, die ich schon einmal einen Augenblick gesehen hatte.
Sie musterte mich erstaunt. »Aber Sie sind ja gar nicht der Professor!«, rief sie ärgerlich. »Sie sind ja der Herr, der neulich hier die große Zecherei gemacht hat und den der Kreisarzt weggeholt hat. Das ist doch eine Unverschämtheit, mir hier vorzulügen …« Sie verstummte unter meinem drohenden Blick.
Ich fühlte eine ungeheure Wut in mir. Ich wusste, ich würde jeden Widerstand brechen, der sich mir jetzt noch entgegenstellte; ich war imstande, das wusste ich, diese Frau zu schlagen, zu Boden zu werfen, zu töten gar, wenn ich es für notwendig befand, wenn es der Teufel in mir für notwendig hielt. Ich sah diese Frau an und befahl: »Rufen Sie Elinor!« Und als sie eine Bewegung des Widerspruchs machte: »Auf der Stelle rufen Sie Elinor, oder«, meine Stimme wurde leise und drohend, »es passiert was!«
Die Frau machte eine hilflose Gebärde und sagte dann rasch und bittend: »Mein Herr, machen Sie mir doch keine Schwierigkeiten. Es ist jetzt Nacht, und das Mädchen schläft. Ich will Ihnen hier gerne auf dem Sofa ein Bett zurechtmachen. Sehen Sie, jetzt haben Sie einen kleinen Rausch.« Sie versuchte zu lächeln, aber es war Angst in ihrem Lächeln, ich erkannte es wohl. »Schlafen Sie Ihren Rausch aus, und morgen soll Elinor so viel mit Ihnen zusammen sein, wie Sie nur wollen. Sie sind doch ein gebildeter Mann, mein Herr!«
»Sie rufen das Mädchen!«, sagte ich hartnäckig, und als sie wieder dagegenreden wollte: »Nun gut, dann gehe ich selbst zu ihr hinauf!« Ich schob die Wirtin beiseite.
»Ich werde die Elinor rufen«, sagte die Wirtin rasch. »Bitte setzen Sie sich einen Augenblick dort in das Sofa, Elinor wird sofort kommen.«
»Halt!«, rief ich, als die Wirtin treppauf gehen wollte. »Sie rufen von hier unten, Sie verlassen diese Gaststube nicht. Wer diese Stube verlässt, wird erschossen!« Ich griff in die Tasche, als hätte ich eine Schusswaffe bei mir.
Die Wirtin kreischte leise auf.
»Sie wissen Bescheid«, sagte ich finster. »Also jetzt rufen Sie!«
Die Wirtin rief, sie musste viele Male rufen, ehe Antwort von oben kam, Elinor hatte einen festen Schlaf. »Sollst runterkommen, Elinor!«, rief die Wirtin. »Mach ein bisschen schnell, du!«
»So«, sagte ich mit der Miene eines Untersuchungsrichters, »und nun eine Frage: Haben Sie Schwarzwälder Zwetschgenwasser?«
»Das nicht«, sagte die Wirtin, und als sie meine zornige Miene sah, »aber ich habe ein Kirschwasser, das noch besser ist.«
»Besser als Zwetschgenwasser ist nichts«, erwiderte ich, »aber bringen Sie immerhin Ihren Kirsch.«
Sie brachte ihn; Flasche und Glas zitterten in ihrer Hand.
»So«, sagte ich und trank. Meine Stimmung hellte sich auf; dies war wirklich beinahe noch besser. »So, und nun setzen Sie sich dorthin und sagen Sie mir, wer außer Ihnen noch hier im Haus ist.«
»Nur die Elinor, wirklich, außer mir nur die Elinor!«
»Sie lügen!«, rief ich wütend. »Lassen Sie sich nicht einfallen, mich noch einmal anzulügen, oder es passiert was.« Und wieder griff ich in meine Tasche.
Die Wirtin kreischte wieder leise.
»Ich habe«, fuhr ich unerbittlich fort, »das letzte Mal hier noch ein Mädchen gesehen, mit Zottelhaaren und einer roten Nase …«
»Ach, die Marie meinen Sie«, rief die Wirtin erleichtert. »Aber, Herr, warum regen Sie sich so auf und ängstigen mich so? Ich will Sie doch nicht anlügen! Die Marie hilft hier nur aus, die wohnt im Dorf bei ihren Eltern …«
»So«, sagte ich zufrieden, »dann will ich Ihnen diesmal noch verzeihen, wenn es so ist.« Ich trank. »Und Ihr Kirsch ist wirklich auch nicht schlecht, gut ist er sogar …«
»Nicht wahr, nicht wahr?«, sagte die Wirtin eifrig. »Ich tue ja alles, um Sie zufriedenzustellen. Mitten in der Nacht hole ich das Mädchen aus dem Bett. Nun müssen Sie aber auch nett sein und nicht mehr mit dem Schießeisen drohen. Am besten legen Sie es erst mal weg, so ein Ding kann so leicht losgehen, und das wollen Sie doch nicht; Sie sind doch ein guter, anständiger Herr …«
Ehe ich noch gegen diese neue Beleidigung hatte protestieren können, denn ich war entschlossen, nicht gut, sondern furchteinflößend und böse zu sein und meine Macht über die Menschen zu zeigen, ehe ich also wieder zornig geworden war, tönte Elinors fester Schritt auf der Treppe; und da trat sie in den Lichtschein, völlig angezogen, nur das dunkle Haar hatte sie nicht frisiert, sondern trug es locker nach hinten gekämmt. So sah sie noch schöner aus.
»Elinor!«, rief ich. »Meine Königin!«
Nur einen Augenblick stutzte sie, als sie mich da so in dem unordentlichen Lokal mit der Wirtin sitzen sah, und dann tat dieses erstaunliche Mädchen genau das Richtige, als hätte sie alles, was vorher geschehen, gewusst: Sie lief auf mich zu, umarmte mich, gab mir einen Kuss rechts und einen Kuss links auf die Backe und rief vergnügt: »Ach, das Papachen! Das gute, immer betrunkene Papachen! Jetzt wollen wir aber fidel sein, was, Mutter Schulzen? Nun gibt’s Sekt!«
»Sekt?«, rief ich begeistert. »Natürlich gibt’s Sekt, soviel ihr wollt. Ich habe Geld wie Heu. – Elinor, du bist die Beste, du weißt, dass ich dich liebe. Du bist meine Königin, und jetzt werden wir auf Reisen gehen. Elinor, gib mir noch einen Kuss, aber mitten auf den Mund!«
Sie tat es, ich fühlte ihre Brust an der meinen, ich war selig, endlich hatte mir doch der Alkohol die volle Seligkeit geschenkt! Ich sah nur Elinor, ich fühlte nur Elinor, ich dachte und redete nur Elinor. Ich merkte gar nicht, dass die Wirtin trotz meiner strengen Todesdrohungen längst die Gaststube verlassen hatte.
Ich weiß nicht, wie lange Zeit ich so in Elinors Armen verbrachte. Ich hatte ihr großes weißes Gesicht mit den geschwungenen Augenbrauen ganz nahe vor mir, es lehnte sich über mich – und die ganze Welt versank mir. Ihre jetzt nicht mehr farblosen, sondern grünstrahlenden Augen sahen mich an, und ich fühlte ein Zittern in mir bis in das Innerste meiner Knochen; das Herz bewegte sich in mir wie ein Pappelblatt im Sommerwind.
»Oh, Elinor, verzeih, verzeih! Nie habe ich so geliebt! Nie habe ich gewusst, dass es so etwas auf der Welt gibt, du machst mich schwach und stark; berührt mich dein Atem, so ist mir, als wehte ein Sturm durch mich; die dürren Blätter der Vergangenheit weht er alle fort. Ich bin neu geworden durch dich – komm, lass uns von hier fliehen, lass uns aus dem Alten fliehen! Wir wollen in den Süden gehen, wo immer die Sonne scheint, wo der Himmel ewig blau ist – weiße Schlösser an Rebenhängen! Dorthin wollen wir! Komm mit! Ich habe eine kleine Tasche draußen stehen, aber genug ist in ihr, komm mit, wie du bist, wir wollen fliehen, jetzt, noch in dieser Minute, mir ahnt Schreckliches, wenn wir noch länger hierbleiben! Sie würden dich nicht bei mir dulden. Komm, lass uns gehen, mein weißes, strenges Gesicht, ma reine d’alcool! Stoß mit mir an, du sollst leben! Dir einen Gruß aus meinem tiefsten Herzen!« Ich sah sie strahlend an. Und tief beunruhigt: »Warum gehen wir noch nicht?«
Sie fuhr mit der Hand durch meine Haare, beruhigend, liebkosend. Sie saß auf meinem Schoß, einen Arm hatte sie um meine Schulter geschlungen, ihre Zärtlichkeit deckte mir die Welt zu. Sie sagte leise: »Gleich fahren wir, altes Papachen, gleich. Um sechs geht ein Zug von der Station, so lange musst du dich noch gedulden, altes Papachen! Wir sitzen doch gut hier! Oder sitzen wir nicht gut hier?«
Ich schmiegte mich fester an sie, ich legte den Kopf gegen ihre Brust, ich fühlte mich geborgen an ihr, in ihr, wie ein Kind bei seiner Mutter. »Sehr gut sitzen wir hier. Aber um sechs fahren wir – weit, weit von hier fort. Dies alles wollen wir nie wiedersehen – im Süden werden wir lieben … wir werden uns immer lieben …«
Sie sah mir in die Augen, so nahe, ein einziges Auge schien es zu sein, das mir verschwamm, als hätte ich in die helle Sonne gestarrt. Sie flüsterte nahe an meinem Ohr: »Ja, ich werde mit dir reisen, altes Papachen. Aber du wirst dann nicht immer trinken, wie? Männer, die immer betrunken sind, hasse ich. Sie ekeln mich.«
»Nie mehr werde ich trinken, wenn ich dich erst habe, keinen Tropfen mehr! Du bist besser als Wein und Schnaps; ein Feuer bist du in mir, du machst die Welt tanzen! Dein Wohl, meine Königin!«
»Dein Wohl, mein altes Papachen! Ja, wir werden nun reisen, aber werden wir auch Geld genug haben für solch eine weite Reise? Wir wollen doch nicht arbeiten müssen?«
»Geld?«, fragte ich verächtlich. »Geld? Geld genug für uns beide! Geld für alle Reisen und das längste Leben! Geld wie Heu!« Und ich riss die Scheine aus der Tasche, es war wirklich ein ganzes Bündel.
Elinor nahm es aus meinen Händen, glättete die Scheine und ordnete sie. »Achthundertdreiundsechzig Mark«, sagte sie schließlich und sah mich mit gerunzelter Stirne nachdenklich an. »Das ist nicht sehr viel Geld, altes Papachen. Nicht genug für eine lange Reise, für ein Leben zu zweien ohne Arbeit. Ist das alles Geld, das du hast?«
Einen Augenblick war ich etwas ernüchtert. Ich fuhr mit der Hand über die Stirn und sah voll Abneigung auf den Haufen schmutziger Lappen, den Elinor in der Hand hielt. »Einer hat mir Geld gestohlen, Elinor«, sagte ich dann mürrisch. »Fünfmal, zehnmal mehr Geld, als du in der Hand hast, hat der Lump mir gestohlen. Und alle meine Sachen in einem rindsledernen Koffer und unser Silber, alles ist weg! Was wird Magda sagen!« Ich besann mich langsam unter ihrem Blick. »Aber das ist gleich, Elinor, stecke das Geld fort, ich mag es nicht mehr sehen. Ich kann mehr holen von der Bank, ich kann holen, soviel du willst: Zehntausende! Ich komme mit einem Scheck, sie sagen zu mir: ›Herr Sommer …‹«
»Also Sommer heißt du?«
»Ja, Sommer heiße ich, Erwin Sommer, wenn du mit mir reist, hast du immer Sommer!«
Ich lachte, aber sie blieb ernst, sie sagte: »Siehst du, altes Papachen, sie haben dir schon dein Geld und deine Sachen gestohlen, du kannst nicht umgehen damit in diesem Zustand. Ich werde es dir verwahren, ganz sicher ist es bei mir aufgehoben. Hier stecke ich dir Geld in deine Tasche, das alte Papachen soll nicht ganz ohne Geld sein. Es sind dreiundzwanzig Mark, wenn die dir wegkommen, ist es nicht weiter schlimm …« Sie redete immer eindringlicher, es war lächerlich, wie wichtig sie dieses alberne Geld nahm. »Und, Papachen, nicht wahr, du schwörst es mir, du wirst nie jemandem sagen, dass ich dir dein Geld verwahrt habe? Zu keinem Menschen? Was auch passiert?«
»Nie werde ich es einem sagen, Elinor«, antwortete ich. »Ich schwöre es dir. Aber das alles ist unnötig, um sechs Uhr werden wir reisen …«
»Also du hast es mir geschworen, altes Papachen, du vergisst es nicht? Zu niemandem nie ein Wort, was auch passiert!«
»Nie ein Wort, Elinor!«
»Du mein gutes Papachen!«, rief sie und drückte mich fest in ihre Arme. »So – und nun sollst du zur Belohnung aus meinem Munde trinken dürfen!«
Sie nahm einen Mundvoll von dem Kirsch, dann legte sie die Lippen fest auf die meinen, ich schloss die Augen, und aus ihrem Munde floss der Kirsch scharf und warm und lebendig in meinen Mund – es war das Süßeste, das ich je erlebte. Ich verging davor.
Ich erwache, ich sehe um mich. Nein, ich bin nicht erwacht, noch träume ich. Was ich eben sah, war ein weißgekalkter Raum mit einem Eisengitter an seiner einen Seite – das ist noch etwas aus meinem Traum. Ich liege da, mit geschlossenen Augen, ich versuche, mich zu erinnern … Da geschah noch etwas in der Nacht. Dann besinnt sich meine linke Hand. Ganz unwillkürlich tastet sie auf dem Fußboden entlang, und nun trifft sie auf die kühle Glätte von Glas. Sie hebt die Flasche zum Munde, und nun trinke ich wieder, mit geschlossenen Augen trinke ich noch einmal Schwarzwälder Zwetschgenwasser, wieder bin ich bei Elinor. Ich bin bei Elinor! Das Leben geht weiter, ich schwinge mich noch höher … Ich habe nur eine Zeit geschlafen, und nun bin ich wieder bei Elinor.
Zwei, drei Schlucke, und nun ist die Flasche leer. Ich sauge an ihr: Kein Tropfen kommt mehr. Mit einem tiefen Seufzer stelle ich sie nieder und öffne wieder die Augen. Ich sehe eine weißgekalkte, recht schmutzige Zelle, die Wände von vielen Inschriften und schweinischen Zeichnungen zerkratzt. An der einen Wand sitzt sehr hoch, dort, wo sie schon schräg wird, ein kleines vergittertes Fenster. Dies Fenster steht offen, ich sehe durch die Öffnung einen blassblauen, von matter Sonne erfüllten Himmel. Auf der vierten Seite hat diese Zelle ein festes Gitter aus Eisenstangen. Genau wie die Gitter an den Tierkäfigen in den zoologischen Gärten. Außerhalb des Gitters steht ein Ofen, dann ist da noch eine Tür, die geschlossen ist. Ich bin gefangen! Ich sehe auf mein Lager. Ich liege in Kleidern auf einem jämmerlichen Eisenbett, auf einem Strohsack mit zerrissener Decke. Meine Zelle enthält sonst noch einen Tisch, einen Schemel und einen fürchterlich stinkenden Kübel. Ja, und dann enthält sie die Flasche, die ich soeben geleert habe …
Ich springe von meinem Lager auf, ich hebe die Flasche gegen das Licht: Wirklich, es ist kein Tropfen mehr drin! Ich stelle sie endgültig fort, hinter den Kübel, und während ich dies tue, kommt ein Stück der Erlebnisse dieser Nacht zurück, blitzartig erleuchtet …
Ich sehe die unordentliche, düster beleuchtete Gaststube, ich sehe mich, Erwin Sommer, Inhaber eines Landesproduktengeschäftes, angesehener Bürger von einundvierzig Jahren, ich sehe mich, wie ich mit dem Gendarmen handgemein bin, wie ich mich mit Händen und Krallen meiner Verhaftung widersetze – wir wälzen uns am Boden, und die behäbige Wirtin mit dem weißen Scheitel, die sich so vor meiner Schusswaffe geängstigt hat, die jetzt aber weiß, dass ich mit einer Schusswaffe nur geprahlt habe, sie versetzt mir während dieses Kampfes hinterlistige Tritte und Püffe, sie kneift mich und fährt plötzlich mit allen fünf Fingern in mein Gesicht, alles, während ich mit dem Gendarmen um meine Freiheit kämpfe.
Und im selben Augenblick während dieses Kampfes sehe ich Elinor, die mit einem unergründlichen Lächeln auf uns beide Kämpfende schaut, aber nicht einen Finger rührt, um dem einen oder anderen Kämpfenden zu helfen. Kein Wort auch spricht sie.
Und doch hätte ich mich vielleicht freigekämpft, denn in mir tobte ein Entsetzen, dass ich, ein gesitteter Bürger, wie irgendein beliebiger Betrüger in ein richtiges Gefängnis abgeführt werden sollte, ich, ein angesehener Mann, vor dem viele Leute zuerst den Hut zogen, ins Kittchen – ja, diese Verzweiflung gab mir solche Kräfte, dass ich mich wohl doch noch von dem Wachtmeister freigekämpft hätte – wenn nicht Elinor gewesen wäre.
In irgendeinem Moment unseres Kampfes, wohl gerade in dem Augenblick, da sich der Sieg mir zuneigte, stand sie plötzlich bei uns mit einer Flasche von meinem Schwarzwälder Zwetschgenwasser; sie sagte sanft lächelnd und strahlte mich dabei mit ihren hellen Augen freundlich an: »Seien Sie doch friedlich, altes Papachen! Der Wachtmeister erlaubt Ihnen auch, sich eine Flasche Schnaps mitzunehmen. Es ist ja nur für eine Nacht, altes Papachen, bis Sie Ihren Rausch ausgeschlafen haben …«
Damit war mein Kampfmut gelähmt, und sie wurden leicht Herr über mich. Wieder verführten mich der Alkohol und Elinor (das war wohl das gleiche Gift: Alkohol und Elinor); so oft schon hatten sie mich getäuscht und in die beschämendsten Niederlagen hineingeführt, aber ich war noch immer nicht klug geworden. Für eine Flasche Schnaps verkaufte ich meine Aussicht auf Freiheit. Und da stand sie nun, dort hinten, bei dem stinkenden Kübel: leer. Und hier stand ich, zwischen gekalkten Wänden, hier ein Eisengitter, dort oben, nahe der Decke, ein kleines Fensterloch. Ohne Freiheit. Ohne Elinor. Ohne Schnaps.
Und plötzlich fällt mir noch eine Schlussszene, eine allerletzte Szene von diesem Abend her ein, eine so beschämende Szene, dass ich die Fäuste balle und die Zähne zusammenbeiße … Wir sind handelseins geworden, der Gendarm und ich. Er hat viel von seinen Dienstvorschriften geredet, aber ich habe ihm wohl Scherereien genug gemacht, und er hat wohl auch Befürchtungen, dass ich ihm bei dem Weg durch die Nacht noch Schwierigkeiten mache … Er hat eingewilligt, dass ich die Flasche Schnaps noch mitnehmen darf; ich trage sie mit losem Korken griffbereit in der Hosentasche. Dafür habe ich ihm mein Ehrenwort gegeben, ihm nicht wieder zu widerstehen und keinen Fluchtversuch zu machen. Trotzdem hat er mir ein kleines stählernes Kettchen um das rechte Handgelenk gelegt, er misstraut vielleicht dem Ehrenwort eines Betrunkenen doch ein bisschen.
Und nun stehen wir unter der Tür, ich habe mich umgewendet und habe zu Elinor gesagt: »Gute Nacht, Elinor, ich danke dir auch für alles, Elinor.«
Und sie antwortet mit gleichmütiger Stimme: »Gute Nacht, altes Papachen, schlaf auch schön« – gerade als wäre ich irgendein beliebiger Stammgast, der nach seinem Abendschoppen zum friedlichen Ehebett heimgeht.
Also, hiernach wollen wir nun wirklich gehen, ich und der Wachtmeister, da ruft die Wirtin plötzlich mit schriller Stimme: »Und mein Wein? Und mein Schnaps?! Und die zerbrochenen Gläser?!! Der Lump hat ja noch nicht bezahlt, der besoffene, Herr Wachtmeister! Das geht doch nicht! Lassen Sie ihn erst zahlen.«
Der Wachtmeister sieht mich erst bedenklich an, seufzt und fragt dann leise: »Haben Sie Geld?«
Ich nicke.
»Also dann bezahlen Sie, dass ich endlich nach Haus komme!« Und laut: »Wie viel macht’s denn?«
Die Wirtin rechnet, dann sagt sie: »Siebenundsechzig Mark einschließlich Bedienung. Und richtig, dann noch das Telefongespräch, durch das ich Sie gerufen habe, Herr Wachtmeister. Macht, alles zusammen, siebenundsechzig Mark zwanzig.«
Ich greife in meine Tasche. Ich bringe ein bisschen Geld hervor. Ich greife in die Brusttasche meines Jacketts: Sie ist leer. Plötzlich erinnere ich mich … Ich sehe auf Elinor hin, erst mit einer stummen Frage, dann bittend, auffordernd, drängend … Ich kann doch hier nicht auch noch als Zechpreller dastehen! Elinor sieht nicht auf mich, mit einem unergründlichen schwachen Lächeln blickt sie auf das Geldhäufchen, das ich auf einen Tisch gelegt habe. Dann gleitet ihr Blick von dort fort und zur Wirtin hin … Elinors Lippen öffnen sich ein wenig, das Lächeln um ihren Mund verstärkt sich … Die Wirtin ist auf das Geld losgeschossen und hat es im Nu durchgezählt.
»Dreiundzwanzig Mark«, schreit sie kreischend. »Sie Lump, Sie verdammter Zechpreller, Sie! Erst stehlen Sie mir meine Nachtruhe und bedrohen mich mit einem Revolver und dann …«
Sie schilt immer weiter, der Wachtmeister hört gelangweilt und gähnend zu. Schließlich, als die Wirtin mir gar wieder mit ihren Krallen ins Gesicht fahren will, wehrt er sie ab und sagt: »Jetzt ist’s genug, Frau Schulze.« Und zu mir: »Haben Sie wirklich nicht mehr Geld?«
»Nein!«, sage ich und sehe Elinor fest dabei an. Diesmal sieht sie mich wieder an, ebenso fest, ohne eine Spur von Lächeln. Und nun tut dieses Mädchen blitzschnell wieder etwas Erstaunliches: Sie greift in den Ausschnitt ihrer Bluse und zieht für einen Augenblick den mir abgenommenen Packen Geldscheine hervor. Ich sehe den blauen Schimmer der Hundertmärker. Im Mundwinkel erscheint Elinors Zungenspitze, spöttisch lächelt das Mädchen jetzt. Der Packen Geld verschwindet wieder im Busen. Sie legt die Hand auf die Brust, hebt sie ein wenig an, dass ich den schönen, vollen Ansatz sehe, und dann wendet sie sich endgültig von mir ab, geht hinter die Theke.
Oh, wie klug und raffiniert sie ist: Gerade im richtigen Moment erinnerte sie mich an mein Wort, aber meinem Wort nicht ganz trauend, erinnerte sie mich auch an die Verbundenheit unseres Fleisches. Bittersüß, von einem kalten Feuer, eine Geliebte, die sich mir nie ganz hingeben, die ich nie ganz besitzen würde – die wahre Königin des Alkohols!
»Nein«, sage ich mit trockener Stimme, »mehr Geld habe ich nicht bei mir. Aber senden Sie die Rechnung an mein Kontor, meine Frau wird sie sofort bezahlen.«
Die Wirtin keift: »Ihre Frau wird Besseres zu tun haben, als die Rechnungen eines Säufers zu bezahlen! Wachtmeister, kehren Sie seine Taschen um, vielleicht hat er doch noch was bei sich …«
»Nichts«, sage ich. »Aber ich habe eine Tasche draußen stehen, Herr Wachtmeister, wenn ich die holen darf …?«
Wir holen die Aktentasche, meinen Einkauf in jenem kleinen Luftkurort, herein. Ich breite meine Einkäufe aus: meine beiden papageienbunten Pyjamas, das raffinierte Toilettenzeug, das französische Parfüm … Wie lange ist es her, dass ich dies alles, weltmännisch scherzend, von jungen Mädchen einkaufte? Ich werde es nie benutzen! Wie lange ist es her, dass ich auf der Seeterrasse dort grünen Aal zu Burgunderwein aß und Betrachtungen darüber anstellte, ein wie behagliches Leben ich als zur Ruhe gesetzter Kaufmann führen würde? Wie lange? Erst gute zwölf Stunden! Und nie werde ich dieses behagliche Leben führen! Jetzt trage ich eine Kette um das Handgelenk und werde als Verbrecher von der Polizei eskortiert! O ade, gutes Leben!