Harrys Welt oder Die Sehnsucht nach Sinn

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Endlich

Postponement can get to be a disease.

Anonymous

Die meiste Zeit seines Lebens war Harry auf der Suche nach Sinn gewesen. Rastlos. Alles musste schnell gehen. Als er ein neues Handy brauchte und den Kauf so rasch wie möglich hinter sich bringen wollte, erwarb er auch ein völlig überteuertes Handy-Etui, das er gar nicht brauchte und bereute dies nachher noch stundenlang – loslassen gehörte auch nicht zu seinen Stärken. Zu Hause angekommen regte er sich dann darüber auf, dass die Handy-Kamera, wie immer er sie auch drehte und wendete, einfach kein Bild zeigte. Zurück im Laden, erklärte ihm die Verkäuferin, dass er das Kamera-Etui vor das Objektiv hielt. Er fühlte sich wieder einmal wie ein Volltrottel.

Es galt, eine Aufgabe zu finden, ein Thema, das ihn packte. Doch was tun, wenn einem, kaum hatte man etwas verstanden, die Lust an der Sache verging. Klar, es gab da auch die, die imstande waren, sich derart in ein Thema zu verbeissen, das sie Schicht um Schicht abtrugen und so glaubten, dem Kern, dem Wesentlichen, dem, worauf es ihrer Meinung nach ankam, am ehesten nahe zu kommen. Harry, dem dies einleuchtete, war jedoch ganz anders gebaut.

Vor Jahren, im thailändischen Prachuap Khiri Khan, war er an der Rezeption des Hotels, in dem er ein Zimmer belegte, dessen Ausstattung sich auf ein Bett und einen Ventilator beschränkte, auf einen Thai getroffen, der an der Chulalongkhorn in Bangkok Geografie unterrichtete und gerade eine Studie veröffentlicht hatte, die zeigte, dass grosse Teile der thailändischen Geschichte umgeschrieben werden mussten. So jedenfalls verstand ihn Harry und so fragte er: Wieso denn das? Weil seine Auswertung von Luftaufnahmen gezeigt habe, dass viele Verbindungswege, die man bisher für Strassen gehalten hatte, Flüsse gewesen seien.

Die einzige Konstante in Harrys Leben war, dass er immerzu sein Leben ändern wollte. Neuanfang war für ihn nicht nur ein fast magisches Wort voller Hoffnung und Versprechen, sondern auch ein Befehl. Schon im Alter von zwölf zeigten seine Tagebucheinträge die Richtung an. Montag, neues Leben anfangen, war da etwa zu lesen. Immer Montag, nie an einem Freitag. Als er im fortgeschrittenen Alter auf die (zugegeben ziemlich banale) Erkenntnis stiess, dass auch der Mittwoch sich für einen Neuanfang anbieten könnte, empfand er dies schon fast als Erleuchtung, die allerdings nicht lange anhielt – nach gut zwei (gefühlten) Minuten war's wieder vorbei.

Zu seinen Neuanfängen gehörte auch, sich keine Talkshows mehr anzutun, vor allem keine sogenannt politischen mehr, die nur dazu da waren, den immer gleichen Interessenvertretern eine Plattform zu geben. Auch diese Vorsätze hielten selten lange. Dass er bei seinen Ausrutschern auch gelegentlich spannende Leute zu sehen bekam, liess ihn zum Schluss kommen, dass das strikte Entweder/Oder kein sinnvoller Ansatz war.

Er beschloss das Ganze fortan lockerer zu nehmen. Vielleicht würde er ja diese Sendungen eines Tages wirklich links liegen lassen (warum nicht „rechts liegen lassen“, vielleicht wäre ja das der Durchbruch?), vermutlich war er ganz einfach noch nicht so weit. Kurz darauf liess sich eine junge Frau in einer solchen Sendung darüber aus, dass unser dauerndes Auf- und Verschieben von allem, was wir angeblich gerne machen würden und sollten, nicht wirklich eine Lösung sei. Als er sie später googelte, stiess er auf Kommentare, die ihr bescheinigten, damit den Zeitgeist der heutigen Jugendlichen getroffen zu haben. So ein Schmarren, dachte er, was die junge Frau so eloquent vorgetragen hatte, betraf alle Menschen, ungeachtet des Alters. Vielleicht mit Ausnahme derer, die glaubten, mit zunehmenden Alter weise oder zumindest weiser zu werden. Harry kannte solche Leute – er hielt sie für blöd.

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Yona, in Havanna mit Salsa Rhythmen aufgewachsen, guckte fassungslos auf den Bildschirm, wo in einfache, doch wunderschöne Trachten gewandete Männer und Frauen miteinander jassten und zwischendurch eine Dreier-Handörgeli-Formation appenzellische Volksmusik zum Besten gab. „Und das, glaubt man hier in der Schweiz, sei Unterhaltung?“

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„Giuliani calls Biden a 'mentally deficient idiot“, las er in einer Online-Zeitschrift und erinnerte sich daran, dass dieser Guliani-Trottel nach 9/11 von den Medien als „America's Mayor“ gefeiert wurde, was ihn wiederum an den 'New York Times' Bericht über den Tod der 92jährigen Barbara Bush erinnerte, in dem diese als „First Mother“ bezeichnet wurde. Das Bedürfnis des Menschen nach Heldenhaftem und Bedeutungsvollem trieb wahrlich höchst abstruse Blüten. Es entzog sich Harry (nicht, dass er es wirklich hätte wissen wollen), ob der 32jährige Sebastian Kurz in Österreich als „Landesvater“ geführt wurde.

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Nachdem er nach Jahren des Essay Verfassens einen Thriller veröffentlichen konnte, beschloss er, dass jetzt fertig sein sollte mit diesem eitlen Sich-Selber-Zeigen. Er würde jetzt (ab sofort) etwas ganz Anderes, etwas vollkommen Uneitles, etwas durch und durch Wesentliches tun, schliesslich stand die Rente vor der Tür, er hatte keine Zeit zu vergeuden, glaubte es aber doch nicht wirklich, weil er es nicht fühlte – er erlebte sich überhaupt nicht anders als vor dem Thriller. Andererseits: Er konnte doch nicht die ganze Zeit auf seine Gefühle hören, die ihn glauben liessen, dass alles immer so weiter gehen würde. Schliesslich hatte er ja auch noch sein Hirn und dieses sagte ihm, Carpe diem. Okay, aber wie?

Sein Leben lang war er von Diesem zu Jenem gehopst, vom Fussball zur Rockmusik, von Jura zu den Medien, von der Fotografie zur Linguistik zur Sucht, die er als Grundlage und Bedingung des kapitalistischen Systems begriff (Süchtige und Konsumenten unterschieden sich nicht, beide konnten den Hals nicht voll kriegen). Themen, die ihn einmal gepackt hatten. Vollständig. Mit totaler Hingabe hatte er sich ihnen jeweils gewidmet. Jetzt nicht mehr. Jetzt wollte er was gänzlich anderes. Doch was?

In der Gegenwart sein war sein neuestes Ziel. Er begann Walking Meditation zu praktizieren. Es forderte ihn, faszinierte ihn, aber nicht lange. Doch so schnell würde er nicht davon lassen. Er entschied sich, zu üben. Wie als junger Mann, als er bei jedem Wetter Fussball spielte. Trainieren. Üben. Er trainierte. Und übte. Es tat ihm gut. Doch es füllte ihn nicht aus. Er brauchte ein neues Projekt. Oder etwa doch nicht? Gott, war das schwierig!

Harry Leben war von Konstanten bestimmt, die ihm unveränderbar schienen. Nicht, dass ihm das einleuchtete. Im Gegenteil. Doch aufzugeben, sein Leben nach seiner Façon hinzubiegen, kam nicht infrage. Auch dies eine Konstante.

Jeder weiss, dass man sein Leben nicht an einem Freitag ändern konnte, denn da lag ja noch das Wochenende vor einem, das, wie auch jeder weiss, dazu da war, sich gehen zu lassen. Sie habe gehört, in Amerika sage man Good God it's Friday, lächelte die Thailändisch Lehrerin in Bangkok. In Thailand kenne man diesen Ausdruck nicht, in Thailand geniesse man alle Tage.

Es war Freitag, der 13te, ein spezielleres Datum für einen Neuanfang (ganz neu anzufangen gehörte zu seinen Konstanten) gab es kaum. Abends zuvor hatte er versucht, sich einen Film mit Tommy Lee Jones anzusehen, doch die Geschichte war derart klischeehaft und voraussehbar, dass er nicht über die erste Hälfte hinauskam (und auch das nur, weil Yona, seine Ex, vermeinte, eine Ähnlichkeit zwischen ihm und dem Schauspieler zu sehen – er selber sah keine und wunderte sich gelegentlich über die Wahrnehmung seiner Ex, bis ihm dann, Jahre später, eine junge Amerikanerin genau das Gleiche sagte), dann auf BBC wechselte, wo dieser Reality-TV-Lappi ohne Hirn und Anstand wie immer die Aufmerksamkeit erhielt, derer er so bedurfte. Wut und Abscheu ergriffen von Harry Besitz, er wechselte unverzüglich den Kanal, tat sich kurz eine dieser politischen Plauder-Runden an, bei der Oskar Lafontaine darauf hinwies, dass Nordamerika 800 bis 1000 Stützpunkte weltweit betreibe und es gescheiter wäre, das Geld, das dafür aufgewendet werde, in die Entwicklungshilfe zu stecken. Selbstverständlich ging niemand auf das Argument ein, da die anderen Teilnehmer ihre gutbezahlten Jobs der kriegsähnlichen Wettbewerbswelt verdankten und von Entwicklungshilfe (Wie wäre es stattdessen mit weniger Gier?) genauso wenig verstanden wie Lafontaine.

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Sein endgültiger Neuanfang funktionierte auch an diesem Freitag nicht. Bereits am frühen Nachmittag fand er sich wieder in seinem gewohnten Fahrwasser, tat mal dies, mal das und verschob, was er eigentlich tun wollte, auf den 1. August, den Schweizer Nationalfeiertag, einen idealeren Tag – da ging es um was Grösseres als nur um ihn – konnte er sich in diesem Moment nicht vorstellen. Je näher dieser Tag rückte, desto hoffnungsfroher wurde Harry. Dass der 31. Juli auf einen Dienstag fiel, erschien ihm schon fast mehr als eine Offenbarung, hatte er doch vor vielen Jahren einmal gelesen One day at a time includes Wednesdays und war seitdem überzeugt, an einem Mittwoch müsste es definitiv gelingen.

Der Wecker zeigte sechs Uhr. Er blieb liegen und gab sich seinen Gedanken hin, die ihn während der nächsten dreiviertel Stunden zuerst ins Berner Oberland führten. Im Internet war er auf das Bild einer Familie gestossen, die an einem 1. August auf der Terrasse eines Bergrestaurants bei dreissig Grad im Schatten Fondue und Raclette assen. Darauf folgten Bilder von sich bedeutend gebenden Heinis und Heidis an irgendeiner komischen Preisverleihung, die abgelöst wurden von einer Fotografie, die einen ehemaligen Schweizer Bundesrat zeigte, der sich bei einem Hochwasser nicht zu blöd war, sich für die Fotografen in Regenmantel und Gummistiefel in einen Fluss zu stellen.

 

Nach dem morgendlichen Rasieren platzierte er jeweils Brotkrumen auf seinen Balkon, klatschte in die Hände, schloss die Balkontür, zog den Vorhang und beobachte wie die Spatzen angeflogen kamen. Bestimmt wussten sie, wer er war. Namen, Vornamen, Werdegang und Hobbys. Wissenschaftler würden dies bestimmt bezweifeln, doch was wussten die schon. Harry konnte sich vieles vorstellen, was sogar ihm selber unwahrscheinlich schien, doch was hiess schon unwahrscheinlich. Nur schon, dass er es sich vorstellen konnte, suggerierte doch bereits eine (zumindest gedankliche) Realität. Dass die Wirklichkeit nur im Kopf existierte, glaubte er hingegen auch nicht. Wer solches glaubte, war ein Trottel, dem man heftiges Zahnweh wünschte. Alternativ könnte man ihn natürlich auch zu einem Sprung von einem Wolkenkratzer animieren – da würde er ja dann sehen, ob die Schwerkraft nur im Kopf existierte.

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„Jane Goodall mit Flint, einem elf Monate alten Schimpansen, der zu einer Gruppe von Menschenaffen gehörte, die die Primatologin sechs Jahrzehnte lang ...“ begann die Bild-Legende, als vor seinem innerem Auge unvermittelt Bilder vom milden Sonnenlicht an einem Spätnachmittag im Zentrum von Cuernavaca auftauchten. Er war damals frisch verheiratet gewesen und Yona, seine Frau, die immer von Mexiko geträumt hatte und es mochte, wenn ihr hinterher gepfiffen wurde, fand es überhaupt nicht lustig, dass sie keine Strasse überqueren konnte, ohne angemacht zu werden. Eine englische Journalistin, die in Libyen Ähnliches erlebt hatte, schilderte ihre Erfahrungen so: I am frequently referred to as 'gazelle' and have been followed on the street for hours by boys as young as 12. Even when swimming in the sea, we were chased by a crowd of horny windsurfers.

Jane Goodall, ihre Affen, ein Spätnachmittag in Cuernavaca und eine Engländerin in Libyen! Wo war da der Zusammenhang? So war das Leben, das seine Gedanken ihm aufdrängte.

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Roberto hatte seit Harrys letzten Besuch abgenommen. Sechs Kilo in drei Wochen. Seinem Selbstbewusstsein hatte der Gewichtsverlust offenbar auch gut getan. Als er tags zuvor um sechs seinen Coiffeur Laden zumachen wollte, sei eine Frau vorgefahren und habe gesagt, He Sie, das geht nicht, an der Türe steht 18 Uhr 30. 'Beschweren Sie sich doch bei meinem Chef', sagte Roberto, der Chef, 'die Nummer steht an der Türe'. Zuhause angekommen klingelte das Telefon. Es war besagte Frau, die sich beschwerte. Ob der Mann im Laden ein kleiner, lauter, etwas übergewichtiger älterer Mann gewesen sei, beschrieb sich Roberto selber. Ja, genau, der sei es gewesen, erwiderte die Frau. Unglaublich, polterte er, 'dem werde ich morgen die Leviten lesen. Entschuldigen Sie bitte vielmals'. Und die Frau war sich's zufrieden.

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Während vieler Jahre reagierte Harry auf Psychologen allergisch. Was wussten die schon, was er nicht wusste? Glaubten die wirklich, die menschliche Seele liesse sich an einer Uni studieren? Seine Abneigung bekam auch Linda, eine Psychologin aus Melbourne, in einer Bar am Karon Beach auf Phuket zu spüren, die lange und erfolglos versuchte, seine Tiraden (er hatte schon ziemlich gebechert) auf alle möglichen Arten zu stoppen, bis es ihr schliesslich doch noch gelang und zwar mit dem schlagenden Argument: I'm only working part-time.

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Sie hätten kein Beziehungsproblem, hatte Harry vor Jahren seine damalige Freundin belehrt, sondern sie habe ein Lebensproblem, akzeptiere ihre Gefühle nicht, wisse nicht, was mit sich anfangen. Es dauerte unfassbar lange, bis er merkte, dass er damit vor allem (auch) sich selber beschrieben hatte.

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So. Genug. Am Sonntag würde er sein Leben ändern. Definitiv und radikal. Keine Vertröstungen und Entschuldigungen mehr. Tun, was zu tun war. Mit Anstand und Würde. Wie ein Krieger. Der schlief nicht zu viel und nicht zu wenig, ass nicht zu viel und nicht zu wenig, war immerzu voll präsent und für alles gewappnet. Doch natürlich kam es anders, ganz anders – sein neues Leben begann an einem Samstag, nicht an irgendeinem, sondern an dem Samstag, der gemäss seinem Plan noch ganz wie gewohnt verlaufen sollte, also: Im Internet surfen, in Büchern lesen, einen Spaziergang und Einkäufe machen und am Abend mit diversen Süssigkeiten in Reichweite einen Film im Fernsehen anschauen, von dem die Kritiker behaupteten, er sei gut, ihn jedoch regelmässig veranlasste, den Kanal zu wechseln und sich mit dem üblichen Politschmarren auf BBC und CNN zu langweilen.

Zwei Wochen und zwei Tage vor diesem Samstag wachte er genau zwanzig Minuten vor den beiden auf Alarm gestellten Weckern auf. Im Rückblick schien ihm dies ein Omen. So recht eigentlich schien ihm fast alles ein Omen, dachte es so in ihm – er verwarf den Gedanken sogleich. Kurz darauf sass er mit einer Tasse Kaffee vor dem Computer, überflog die Meldungen des Tages und dachte: So kann es auf keinen Fall weitergehen. Jeden Morgen die gleiche Routine. Aufstehen, Duschen, Zähneputzen, Rasieren, Kaffee, Online Nachrichten, die ihn schon lange langweilten und die er sich gleichwohl antat. Gewohnheiten sind eben schwer zu ändern. Auch natürlich, weil ja nicht alle schlecht waren. Duschen, Zähneputzen und Rasieren würde er jedenfalls beibehalten, wobei, was das Rasieren anlangte, dieses ja nicht wirklich täglich nötig war. Und den Kaffee, den würde er auch nicht aufgeben.

Harry litt unter seinem Medienkonsum. Vor allem Online Zeitungen und Magazine, dann aber auch Fernsehen und ganz besonders Bücher hatten ihn im Griff. Er konnte ganz einfach nicht genug davon bekommen. In jungen Jahren war es der Alkohol gewesen. Und Rockmusik. Und fremde Länder. Bücher waren eigentlich harmlos, sagte er sich. Und glaubte es auch, obwohl ihn seine Rechtfertigungen (ich lerne viel, erweitere meinen Horizont, gewinne nützliche Einsichten, bleibe geistig rege und unterhalte mich häufig gut) auch immer wieder zweifeln liessen, denn er erinnerte sich nur an wenig von seiner Lektüre (wo er ein Buch gelesen hatte, war ihm präsenter als was drin stand).

Lange hatten ihn Fernseh-Gesprächsrunden über Bücher fasziniert. Oft konnte er gar nicht glauben, was er da sah und hörte – Lehrer und Lehrerinnen beim Zensuren verteilen. Eitle Besserwisser, die Inhalte zusammenfassen konnten, differenziert und gescheit zu analysieren wussten, Kontext herstellten – und meilenweit entfernt von seinen eigenen Interessen argumentierten, denn für Harry waren weder der Aufbau der Geschichte noch der geschichtliche Zusammenhang relevant. Auch was der Autor oder die Autorin gemeint haben könnte, beschäftigte ihn nicht sonderlich. Für ihn zählte allein, ob er ins Buch hineingezogen wurde und ob es darin Sätze gab, die er unterstreichen wollte. Seine jugendliche Manie, manchmal ganze Seiten zu unterstreichen (ihm schien damals alles wichtig), hatte im Laufe der Jahre etwas nachgelassen.

Ihm war klar, dass seine Buchmanie mit den Jahren schlimmer geworden war – ein Blick auf die Türme ungelesener Bücher, die den weitaus grössten Raum seiner kleinen Wohnung einnahm, genügte, um ihm vor Augen zu führen, dass er ein Problem hatte. Und dieses, so sagte er sich nicht zum ersten Mal, würde er an diesem sonnigen Morgen angehen. Nur eben: Der wunderbare Herbsttag lud nicht nur zu einem Spaziergang ein, er forderte ihn so recht eigentlich dazu auf. Er würde sich schuldig fühlen, wenn er nicht raus ging (Bin ich froh, dass es morgen regnet, dann muss ich nicht aus dem Haus, hatte ihm ein 80Jähriger bei einer Beerdigung gesagt) und so beschloss er, dies später am Tag zu tun, doch zuerst galt es, einen oder zwei Büchertürme lichter werden zu lassen – am Ende konnte er sich dazu überwinden, sechs (von den geplanten fünfzig) Büchern auszusortieren.

Beim Hin und Her, ob er dieses oder jenes weggeben könnte, stiess er auch auf einen Roman von Andrew Vachss, dessen Bücher er in jungen Jahren verschlungen hatte. Gerade tags zuvor war er über Vachss' Namen gestolpert, wo war das nur gewesen? Ja, genau, in einem Kriminalroman von Joe R. Lansdale, genauer in der Widmung, die da lautete: „Das hier ist für meinen Bruder Andrew Vachss, Krieger.“ Unverzüglich nahm er sich den Vachss' Roman vor, dessen Protagonist, ein Krieger im Grossstadtdschungel New York, sich ausschliesslich für Kinder und Jugendliche einsetzte und Kinderschänder nicht Pädophile nannte, sondern sie als das bezeichnete, was sie waren: Kinderficker.

Dass es darum ging, ein Krieger zu sein, war Harry in seinen Jugendjahren selbstverständlich gewesen. Im Laufe der Jahre hatte er das jedoch vergessen. Oder zur Seite geschoben, verdrängt oder was auch immer. Jedenfalls vernachlässigt. Bis er in einem buddhistischen Buch wieder darauf gestossen war. Ein Krieger nehme alles im Leben als Herausforderung, begegne dem, was ihm zustosse, ohne zu klagen und ohne Bedauern.

What usually matters most to people is affirmation or certainty in the eyes of others; what matters most to a warrior is impeccabiblity in one's own eyes. Impeccability means living with precision and a totality of attention.

Joseph Goldstein: The Experience of Insight.

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Er schaltete den Laptop aus, legte sich aufs Bett und nahm Andreas Guskis Dostojewskij. Eine Biographie zur Hand. „Alle fünfeinhalb Stunden wird er ‚wiedergeboren‘, ‚beginnt ein neues Leben‘, ätzt Sir Galahad alias Bertha Eckstein-Diener, die unversöhnliche Dostojewskij-Gegnerin.“ Harry nahm das für bare Münze und nicht etwa als Kritik und dachte so bei sich: Der ist ja wie ich. Oder vielleicht eher: Ich bin ja so wie der. Jedenfalls in dieser Beziehung. Er las weiter: „… nur allzu bewusst ist ihm, dass ‚die Flamme seiner Begierde nach dem Himmlischen‘, wie es bei dem von ihm so geschätzten Thomas von Kempen heisst, ’nicht rein ist vom Rauch der sinnlichen Neigung‘. Und er weiss auch und spürt mit jeder Faser seines Körpers, dass es unmöglich ist, sich der eigenen Natur zu widersetzen. Sein Leben so radikal umzustellen wie Lew Tolstoj, der die Feder mit dem Pflug vertauschen wird, um im härenen Bauerngewand seine Äcker zu bestellen – das ist Dostojewskijs Sache nicht. So verdächtig wie die Lebensform der Karriere, so ausgeprägt ist seine Skepsis gegenüber einem heiligmässigen Leben, das die eigene Natur vergewaltigt.“ Harry fühlte sich bestens getroffen.

Verzicht ist heutzutage kein oft benutztes Wort. Nur eben: Wer nicht zu verzichten bereit ist, wird nichts ändern. Solche Sätze gehörten zu seinem Standardvokabular. Vor ein paar Tagen hatte er sie gerade wieder einmal einem Ratsuchenden vorgetragen und sie waren hängengeblieben. Nicht beim Ratsuchenden, bei Harry, der an diesem Samstagmorgen seine ersten wachen Momente in dem Bewusstsein verbrachte, das sei ein besonderer Tag, vielleicht sogar der seit vielen Jahren herbeigesehnte Wendepunkt.

Nach dem Aufstehen war das Gefühl immer noch da. Sein Verzichts-Mantra vom Vortag ging ihm durch den Kopf und ihm dämmerte, dass er unter Verzicht immer etwas ganz Falsches verstanden hatte, also weniger Bücher kaufen oder keine Süssigkeiten mehr essen. Das war nicht nur falsch, es war so was von daneben, dass er es zuerst gar nicht fassen konnte. Verzicht war nicht ein bisschen weniger von dem oder von was anderem, Verzicht war radikal. Plötzlich war ihm das vollkommen klar, doch mehr nicht, insbesondere nicht, was das jetzt konkret bedeuten sollte.

Er machte sich Kaffee, Eier und Speck. Kauend betrachtete er seinen Esstisch, dessen Oberfläche schon sehr lange zu gut zwei Dritteln mit den unterschiedlichsten Sachen belegt war, von Wollhandschuhen über Sombreros bis zu Briefmarken aus aller Welt, als sich seine Stimmung plötzlich änderte. So ging das nicht weiter, er musste unbedingt Ordnung schaffen. Die Klärung der Gedanken würde sich von selbst einstellen, wenn er seine Wohnung aufräumte. Er war selber ganz erstaunt, dass er es nicht bei dem Gedanken beliess, sondern sich unverzüglich daran machte, unter dem Bett verstaute Aktenordner hervorzuzerren. Dicker Staub wirbelte auf und nahm ihm fast den Atem. Hustend öffnete er die Balkontüre. In Plastiktüten verpackt entdeckte er einen Drucker, viele Kabel, ein Modem, einen Stapel Manuskripte, zwanzig Jahre alte Ausgaben des New Yorker und von Geo, eine Buchreihe mit Schweizer Autoren sowie zwei Federballschläger, die Erinnerungen an Yona hochkommen liessen, die einzige weisse Habanera in der Schweiz, wie die kubanische Botschaft in Bern behauptet hatte, die anderen Kubanerinnen seien alle Mulattas oder Negras und aus dem Osten der Insel.

 

Sie hatte Autostopp gemacht, in Alamar, einem Vorort von Havanna; Jesús, der Taxifahrer, stieg auf die Bremse, kam holpernd zum Stillstand und setzte den Wagen zurück. Yona war jung und hübsch, economista und zur Zeit ohne Arbeit. Sie wolle nach Guanabo, zum Strand.

Sie habe ihn vor ein paar Tagen in einem Traum gesehen, sagte sie, als er neben ihr aus dem Wasser auftauchte. Seinen Kopf, so wie gerade eben, als er aufgetaucht sei. Ein Déjà-vu? Sie kannte den Ausdruck nicht. Ob er an Vorherbestimmung glaube?

Aus einem alten Kassettenrecorder schepperte Mendelssohns Hochzeitsmarsch, als sie im Jahr darauf in einer prächtigen Kolonialvilla in Havanna heirateten. In ihn verliebt habe sie sich als er damals nach dem Strand sein nasses Haar nach hinten gekämmt habe, erzählte sie ihm später.

Beim Aufwachen war sie jeweils nicht ansprechbar. Schlaftrunken wankte sie ins Bad, machte die Dusche an, seifte sich ein und begann zu singen. Er freute sich wie ein Kind über soviel Daseinsfreude. Sie lachten viel zusammen, ihre Werte waren weitgehend dieselben.

Quién tu prefieres, Fidel o Che?

Che.

Y por qué?

Físicamente.

Eine seiner früheren Freundinnen wurde von ihren Bekannten Che gerufen.

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Aufzeichnen wollte er, was ihm durch den Kopf ging. Keine Stream-of-Consciousness Geschichte. Beschreiben, was er wahrnahm, unvollständig und subjektiv, so subjektiv wie möglich. Nicht den unablässigen Gedankenfluss zu fassen suchen, nicht danach trachten, das Leben in den Griff zu kriegen. Die ihm gemässe Form, so beschloss er, waren die Tupfer, das Nebeneinander von ganz Unterschiedlichem, Anekdoten neben Ratschlägen, Einsichten neben Ansichten. Nach Lust und Laune? Einfach so, wie es ihm gerade beliebte? Sowieso. Und mit dem Ziel, so oft wie möglich gegenwärtig zu sein.

I got the blues thinking of the future, so I left off and made some marmalade. It's amazing how it cheers one up to 'shred oranges and scrub the floor.

D. H Lawrence.

Zen pur. Tue was du tust und tue es ganz. Hier und Jetzt. Einem Kind ist das selbstverständlich, auch als Harry ein junger Mann war, musste ihm das niemand erklären. Lange Zeit hatte er sich mit der Frage herumgeschlagen, wieso ihm dieses intuitive Wissen abhanden gekommen, was passiert war. Bis er anfing zu ahnen, dass dieses Problematisieren das eigentliche Problem war.

Was den Menschen fehle, hat Joseph Campbell gesagt, seien nicht Antworten auf Warum-Fragen, sondern the experience of being alive. Diese Erfahrung ist jederzeit und überall möglich. Für jeden und jede.

Be aware, moment to moment, paying attention to what's happening in a total way. There's nothing mystical about it, it's so simple and direct and straightforward, but it takes doing.

Joseph Goldstein: The Experience of Insight

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Nichts dünkte Harry befremdlicher, als dass er vor ein paar Tagen siebzig geworden war. In unregelmässigen Abständen tauchte in seinen Gedanken der Satz aus Balzacs Verlorene Illusionen auf, der ihm immer als Nachweis eines gänzlich misslungenen Lebens gegolten hatte: „Der Siebzigjährige sehnte den Augenblick herbei, da er leben könne, wie es ihm behagte.“ Behagte? Keine Ahnung, was ihm wirklich behagte. Noch immer nicht. Einmal das, dann wieder was anderes. Andererseits wusste er ganz genau, wie er leben wollte, doch aus ihm unerfindlichen Gründen tat er es nicht. Wobei: So unerfindlich waren sie ihm eigentlich gar nicht, nur passte es ihm hinten und vorne nicht, dass er sich auf eine bestimmte Art anstrengen sollte, jedenfalls dann, wenn sein Leben gelingen sollte. Das müsste sich doch eigentlich ganz natürlich, gleichsam organisch ergeben, sagte er sich. Er glaubte es nicht.

The problems were predictable, and, as always happens, they looked their most formidable on file – muddling through is not an option ever advocated in briefing folders.

Chris Patten: East and West.

Kein Mensch wollte sich ändern, auch Harry nicht. Er redete lieber darüber. Und weil er so viel darüber redete und dabei auch viel Gescheites, das er sich angelesen hatte, von sich gab, merkte er meist gar nicht, dass er sich genauso verhielt wie alle anderen auch. Allerdings mit einem Unterschied, beruhigte er sich sofort: Ich weiss es! Ich habe darüber nachgedacht! Und das ist schon wertvoll an sich und ganz besonders angesichts der vielen ausschliesslich von Impulsen gesteuerten Trottel, die diesen Planeten bevölkern. Wenn nur diese blöden Zweifel nicht wären.

Es war ihm zur Gewohnheit geworden, in unregelmässigen Abständen Bücher aus dem Regal zu nehmen und für künftige Lektüre herauszulegen. Er griff zu Ionescos Tagebuch heute und gestern, gestern und heute, blätterte darin, begann zu lesen. „Diese Todesangst, die immerwährende, schnürte mir die Kehle zu. Warum habe ich immer noch Furcht vor dem Tode, wie kommt es, dass ich ihn nicht glühend herbeiwünsche?“ Und im darauf folgenden Abschnitt: „Ich habe immer versucht, an Gott zu glauben. Nicht naiv, nicht subtil genug. Gewissermassen eine metaphysische Unzulänglichkeit. Doch ich habe noch nicht alle Brücken zu Gott abgebrochen.“ Genau so empfand Harry. Er war mit siebzehn auf Eugène Ionesco gestossen, und auf Zen Buddhismus. Immer wieder, in ganz unregelmässigen Abständen, war er zu diesen beiden zurückgekehrt, hatten sich Gedanken bei ihm gemeldet, die er mit diesem Rumänen in Paris und Zen-Ideen, in Verbindung brachte.

„Wir haben Angst, kein Etwas mehr zu sein, keine Identität zu haben, sich einfach im Nichts aufzulösen. Wir haben Angst, dass etwas anderes 'ist' und nicht wir“, notierte Alexander Poraj in ALLEIN. Zen oder die Überwindung der Einsamkeit. Einverstanden, und was jetzt? Innehalten, aus der Gewohnheit fallen, sich der Gegenwart hingeben. Er habe immer gemeint, schrieb Masaoka Shiki kurz vor seinem Tod, das Erwachen, von dem im Zen-Buddhismus die Rede ist, bedeute, mit Gleichmut zu sterben. „Welch ein Irrtum: Erwachen bedeutet, mit Gleichmut zu leben.“ Möglicherweise war das auch ein gutes Rezept gegen die eher düstere Erkenntnis in Richard Flanagans Der Erzähler: „Die Leute haben keine Angst vor dem Tod, Kif, sagte er. Sie fürchten das Leben. Sie fürchten sich davor, im Augenblick des Sterbens einsehen zu müssen, dass sie nie gelebt haben. Der Tod führt uns unser Versagen vor Augen: Niemand hat so gelebt, wie er hätte leben sollen.“

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Am Flughafen in Zürich. Die Frau auf dem Sitz neben ihm, las in einem 'Kindle'. Was sie lese? Phillip Roth, I married a communist, erwiderte die Frau. Es war eines der wenigen von Roths Büchern, die er gelesen hatte. An den Inhalt erinnerte er sich jedoch nicht. Das ging ihm bei den meisten Büchern so. Balzacs Verlorene Illusionen hatte er mindestens zwei Mal gelesen, ohne Erinnerung an den Inhalt oder spezifische Szenen. Beide standen mit eigenhändigen Anmerkungen versehen nebeneinander im Regal. In jungen Jahren hatte er geglaubt, man lese, um sich zu bilden, doch was, wenn man kaum etwas von dem vielen Gelesenen abrufen konnte?

Sie sei pensionierte Anglistin, sagte die Frau, und habe viele Roth-Bücher gelesen. Welches sie ihm empfehlen würde? Schwer zu sagen, sie habe so ihre liebe Mühe mit Roth, schätze ihn aber auch. Weil er autobiographisch schreibe? Nein, nein, nicht alles sei autobiographisch, das liesse sich durchaus unterscheiden. Die Frau hatte offenbar eine andere Vorstellung von Autobiographischem als Harry, für den alles, wirklich alles, autobiographisch war. Wie hätte es auch anders sein können? Bei allem, was man sagte oder schrieb, gab man immer nur Auskunft über sich selber. Wie man etwas wahrnahm und beurteilte. Etwas anderes war gar nicht möglich, schliesslich kannte man nur sich selber, wenn auch höchst unvollständig.

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