Menschen, Göttern gleich

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16

Mr. Barnstaple erschien, was er in so wunderbarer Weise erfahren hatte, so vollkommen in sich abgeschlossen, daß außer der absoluten Glaubwürdigkeit dieses Erlebnisses selbst nichts mehr übrig blieb, worüber man sich wundern mußte. Er saß in diesem schönen kleinen Gebäude inmitten einer merkwürdigen Mischung von englischer Sonntagskleidung und der mehr als olympischen Nacktheit, die ihn schon längst nicht mehr befremdete, und blickte hinaus auf Traumlandblumen und den sonnenbeschienenen See; er lauschte und beteiligte sich gelegentlich an der langen ungezwungenen Unterhaltung, die nun folgte. Es entspann sich eine Diskussion, die äußerst seltsame und grundlegende Verschiedenheiten der moralischen und sozialen Ansichten ans Licht brachte. Alles hatte nun so greifbare Gestalt angenommen, daß Barnstaple es sich als ganz selbstverständlich dachte, er werde bald nach Hause gehen, um darüber im Liberal zu schreiben und seiner Frau über das Benehmen und die Kleidung in dieser bisher unentdeckten Welt zu berichten, soweit ihm dies zur Zeit ratsam erscheinen würde. Für die dazwischenliegende Entfernung hatte er schon jeden Begriff verloren. Sydenham schien ihm gerade nur um die Ecke zu liegen.

Jetzt bereiteten zwei hübsche junge Mädchen Tee auf einem fahrbaren Tischchen zwischen den Rhododendren und reichten ihn herum. Tee! Wir hätten ihn als chinesischen Tee bezeichnet, er war sehr wohlschmeckend und wurde in kleinen henkellosen Schalen nach chinesischer Art serviert, ja es war wirklicher und sehr erfrischender Tee.

Die Neugierde der Erdlinge drehte sich zunächst um die Regierungsform; das war in Gegenwart zweier solcher Staatsmänner, wie Mr. Burleigh und Mr. Catskill, vielleicht selbstverständlich.

»Was für eine Regierungsform haben Sie«, fragte Mr. Burleigh, »Monarchie, Autokratie oder reine Demokratie? Trennen Sie die Exekutive von der Legislative? Und gibt es eine Zentralregierung für Ihren ganzen Planeten, oder gibt es verschiedene Regierungszentren?«

Mit einiger Mühe wurde es Mr. Burleigh und seinen Gefährten klargemacht, daß es in Utopia überhaupt keine Zentralregierung gebe.

Er zeigte dafür kein Verständnis. »Aber«, sagte Mr. Burleigh, »sicherlich gibt es doch irgend jemanden oder irgend etwas, einen Rat, ein Büro oder sonst etwas, irgendeine Stelle, der die letzte Entscheidung vorbehalten ist, wenn es sich um ein gemeinschaftliches Vorgehen im Interesse des Gemeinwohles handelt. Meiner Meinung nach muß es irgendeine letzte Instanz und ein Organ der Regierungsgewalt geben …«

Nein, die Utopen erklärten, daß es in ihrer Welt keine derartige Konzentration der Macht gebe. In der Vergangenheit habe es eine gegeben, aber schon seit langem habe sie sich im großen Körper der Allgemeinheit aufgelöst. Entscheidung über irgendwelche besondere Angelegenheiten würden von jenen getroffen, die am meisten von der Sache verstünden.

»Aber angenommen, es wäre eine Entscheidung, die allgemein befolgt werden muß, zum Beispiel ein Gesetz, welches die öffentliche Gesundheit betrifft? Wer würde es durchsetzen?«

»Warum sollte es durchgesetzt werden müssen? Es würde freiwillig befolgt werden.«

»Aber angenommen, jemand würde sich weigern, es zu befolgen?«

»Wir würden nachforschen, warum der oder die Betreffende nicht unserer Meinung ist. Er könnte irgendeinen besonderen Grund dafür haben.«

»Aber mangels eines solchen?«

»Wir würden ihn auf seinen geistigen und sittlichen Gesundheitszustand hin untersuchen.«

»Der Irrenarzt tritt an die Stelle des Polizisten?« sagte Mr. Burleigh.

»Ich zöge den Polizeimann vor«, sagte Mr. Rupert Catskill.

»Das würdest du, Rupert«, sagte Mr. Burleigh, als ob einer sagte ›jetzt habe ich dich ertappt!‹

»Dann wollen Sie also sagen«, fuhr er fort, und wandte sich mit einem besonders schlauen Gesichtsausdruck an die Utopen, »daß alle Ihre Angelegenheiten von besonderen Körperschaften oder Organisationen – ich weiß wirklich nicht recht, wie ich sie nennen soll – durchgeführt werden, ohne daß irgendeine Koordination ihrer Tätigkeit stattfindet?«

»Die Aktivitäten unserer Welt«, sagte Urthred, »sind alle so aufeinander abgestimmt, daß sie die allgemeine Freiheit sichern. Wir besitzen eine Anzahl von Intellektuellen, die sich mit der Psychologie der Menschheit und der Wechselwirkung kollektiver Funktionen befassen.«

»Gut, stellt nicht diese Gruppe von Intellektuellen eine herrschende Klasse dar?« fragte Mr. Burleigh.

»Nicht in dem Sinne, daß sie irgendeinen eigenmächtigen Willen ausüben«, sagte Urthred. »Sie befassen sich mit den allgemeinen Verhältnissen, das ist alles. Aber sie nehmen keinen höheren Rang ein, sie haben deswegen keine größeren Vorrechte, als sie ein Philosoph einem gelehrten Spezialisten gegenüber hat.«

»Das nenne ich eine Republik!« sagte Mr. Burleigh. »Aber wie sie funktioniert und wie es dazu kam, kann ich mir nicht vorstellen. Ihr Staat ist wahrscheinlich in hohem Maße sozialistisch?«

»Ihr lebt noch immer in einer Welt, in der ungefähr alles Privateigentum ist, mit Ausnahme der Luft, der Landstraßen, der Meere und der Wildnis?«

»Jawohl«, sagte Mr. Catskill, »Eigentum – und umkämpftes!«

»Wir sind über diese Stufe hinaus. Wir haben gefunden, daß Privateigentum, außer in ganz persönlichen Dingen, für jeden letzten Endes eine Last war. Wir sind davon losgekommen. Ein Künstler oder ein Gelehrter verfügt über das ganze Material, das er benötigt, wir haben alle unsere Werkzeuge und Vorrichtungen und haben unsere eigenen Räumlichkeiten und Plätze, aber für Handel und Spekulation gibt es kein Eigentumsrecht. Dieses streitbare, unruhebringende Eigentum sind wir vollständig losgeworden. Aber wie wir es loswurden, das ist eine lange Geschichte. Es war keine Sache von wenigen Jahren. Die Übertreibung des Privateigentums war ein durchaus natürliches und notwendiges Stadium der menschlichen Entwicklung. Sie führte schließlich zu ungeheuerlichen Ergebnissen, aber nur durch diese ungeheuerlichen und katastrophalen Folgen erkannten die Menschen die notwendigen und natürlichen Grenzen des Privateigentums.«

Mr. Burleigh hatte eine Stellung eingenommen, wie er sie wahrscheinlich gewöhnt war. Er saß sehr tief im Sessel, die langen Beine übereinandergekreuzt und ausgestreckt, den Daumen und die Finger der einen Hand mit peinlicher Genauigkeit gegen die der anderen gelegt.

»Ich muß gestehen«, sagte er, »daß mich die besondere Form der Anarchie, die hier zu herrschen scheint, außerordentlich interessiert. Wenn ich Sie nicht ganz mißverstanden habe, so geht jeder als Diener des Staates seinen eigenen Geschäften nach. Ich nehme an, daß eine große Anzahl Leute – Sie müssen mich verbessern, wenn ich etwas Unrichtiges sage – mit der Erzeugung, der Verteilung und der Zubereitung von Nahrungsmitteln beschäftigt ist; diese Leute erforschen, vermute ich, die Bedürfnisse der Welt, sie befriedigen sie und sie haben ihre eigenen Regeln, nach denen sie handeln. Sie stellen Forschungen an, sie machen Experimente. Sie sind niemandem verpflichtet, niemand zwingt sie, stört oder hindert sie. (›Man spricht mit ihnen darüber‹, sagte Urthred mit feinem Lächeln.)

Und wieder andere erzeugen, bearbeiten und studieren Metalle für die ganze Bevölkerung und haben gleichfalls ihre eigenen Regeln. Andere wieder sorgen für die Wohnlichkeit Ihrer Welt, planen und errichten diese reizenden Wohnstätten, bestimmen, wer sie benutzen soll und wie sie benützt werden sollen. Andere widmen sich der reinen Wissenschaft. Andere experimentieren im Bereich der Empfindung und Vorstellungskraft und sind Künstler. Andere wieder lehren.«

»Diese sind sehr wichtig«, sagte Lychnis.

»Und sie alle tun es in Harmonie – und jeder an seinem Platz, ohne zentrale Gesetzgebung oder Exekutive. Ich will zugeben, daß mir dies alles bewundernswert erscheint – aber unmöglich. Nichts dergleichen wurde bis jetzt in der Welt, aus der wir kommen, auch nur vorgeschlagen.«

»Etwas Ähnliches wurde vor langer Zeit von den Gilden-Sozialisten vorgeschlagen«, sagte Mr. Barnstaple.

»Ach«, sagte Mr. Burleigh, »ich weiß sehr wenig über die Gilden-Sozialisten; wer war das? Erzählen Sie.«

Mr. Barnstaple lehnte dieses Ansinnen stillschweigend ab.

»Die Idee ist unseren jüngeren Leuten ziemlich gut bekannt«, sagte er. »Laski nennt es den pluralistischen Staat zum Unterschied von dem monistischen, in welchem die Herrschergewalt an einer Stelle konzentriert ist. Sogar die Chinesen kennen das System. Ein Pekinger Professor, S. C. Chang, hat eine Broschüre ›Professionalismus‹ geschrieben, ich habe sie erst vor einigen Wochen gelesen. Er sandte sie der Redaktion des Liberal. Er betont darin, wie unerwünscht und unnötig es für China sei, eine Phase demokratischer Politik nach westlichem Vorbild durchzumachen. Er wünscht, daß China geradewegs zu einer gleichberechtigten Unabhängigkeit der Beamtenklassen, der Mandarine, Industriellen, landwirtschaftlichen Arbeiter und so weiter gelange, so wie wir sie hier vorfinden. Allerdings erfordert dies natürlich eine Umwälzung in der Erziehung. Ganz entschieden liegt der Keim dessen, was Sie hier Anarchie nennen, gleichfalls in der Luft, aus der wir kommen.«

»Was Sie nicht sagen«, sagte Mr. Burleigh, verständiger und aufmerksamer dreinblickend als je, »verhält sich das wirklich so? Ich hatte keine Ahnung von alledem.«

17

Die Unterhaltung wurde in zwangloser Form fortgesetzt, und doch war der Gedankenaustausch schnell und wirkungsvoll. Der Umriß der Geschichte Utopias vom letzten Zeitalter der Verwirrung an prägte sich Mr. Barnstaple, wie es ihm schien, sehr bald ein.

Je mehr er über dieses Zeitalter der Verwirrung erfuhr, desto mehr schien es ihm der gegenwärtigen Zeit auf Erden ähnlich zu sein. In jenen Tagen hätten die Utopen auch noch Kleidung getragen und ganz nach irdischer Art in Städten gelebt. Und nicht so sehr durch einen wohldurchdachten Plan als durch ein glückliches Zusammentreffen von Zufällen waren ihnen etliche Jahrhunderte günstiger Verhältnisse und ungestörter Entwicklung beschert worden. Die klimatischen Verhältnisse und glückliche politische Umstände hatten sie begünstigt, nachdem sie eine lange Periode von Hungersnöten, bösen Seuchen und zerstörenden Kriegen durchgemacht hatten. Zum erstenmal war es den Utopen möglich gewesen, den ganzen Planeten, den sie bewohnten, zu erforschen, und diese Forschungen brachten große Flächen jungfräulichen Landes unter die Axt, den Spaten und den Pflug. Echter Wohlstand, Muße und Freiheit wuchsen in ungeheurem Ausmaß. Viele tausend Menschen wurden aus dem alltäglichen Elend menschlichen Lebens in eine Lage emporgehoben, in der sie, wenn es ihnen beliebte, in noch nie dagewesener Freiheit denken und handeln konnten. Wenige taten es, aber diese wenigen genügten. Die wissenschaftliche Forschung, mit einer großen Menge geistvoller Erfindungen in ihrem Gefolge, entwickelte sich kräftig und vergrößerte ungeheuer das technische Können der Menschen.

 

Schon früher hatte es in Utopia Perioden gegeben, in welchen sich die wissenschaftliche Erkenntnis Bahn gebrochen hatte, aber niemals zuvor war sie so günstigen äußeren Umständen begegnet oder hatte lang genug gewährt, um nachhaltige praktische Folgen zu zeitigen. Nun, nach einigen kurzen Jahrhunderten fanden sich die Utopen, die bis dahin wie träge Ameisen auf ihrem Planeten herumgekrochen waren oder wie Parasiten sich auf größeren und schnelleren Tieren fortbewegt hatten, in die Lage versetzt, blitzschnell durch die Luft zu fliegen oder augenblicklich von jedem beliebigen Punkt ihres Planeten aus nach einem anderen hin zu sprechen. Sie waren auch im Besitz technischer Fähigkeiten, die alle früheren Erfahrungen überstiegen, und nicht nur technischer Fähigkeiten; den Spuren der Physik und Chemie folgte die Physiologie, dann die Psychologie, und es eröffneten sich den Utopen außerordentliche Möglichkeiten, den eigenen Körper und das soziale Leben in ihre volle Gewalt zu bekommen. Aber als es schließlich so weit war, kam alles so plötzlich und verwirrend, daß sich nur eine kleine Minderheit der Möglichkeiten bewußt wurde, welche diese ungeheure Ausdehnung von Wissen zum Unterschied von den greifbaren Errungenschaften in sich barg.

Der Rest nahm diese Erfindungen, eine nach der anderen, aufs Geratewohl an, indem er seine Denk- und Lebensweise so wenig wie möglich den veränderten Notwendigkeiten, die durch diese Neuerungen bedingt waren, anpaßte. Die erste Reaktion der Masse der utopischen Bevölkerung auf die sich eröffnende Aussicht auf Macht, Muße und Freiheit war erhöhte Fruchtbarkeit. Sie benahm sich genauso gedankenlos und mechanisch wie es irgendein Tier oder eine Pflanzenart getan hätte. Die Bevölkerung wuchs an, bis sie die reicheren Lebensmöglichkeiten, die sich ihr eröffnet hatten, wieder vollständig überwucherte. Sie erschöpfte die Gaben der Wissenschaft ebenso schnell, wie sie ihr zuteil geworden waren, nur in einer unverständigen Vervielfältigung des Lebens. Im letzten Zeitalter der Verwirrung war die Bevölkerung eines Tages auf über zweitausend Millionen angewachsen …

»Und wie groß ist sie jetzt?« fragte Mr. Burleigh.

Ungefähr zweihundertfünfzig Millionen, berichteten ihm die Utopen. Dies sei bis vor kurzem die höchste Bevölkerungszahl gewesen, die auf der Oberfläche Utopias ein voll entwickeltes Leben habe führen können. Aber jetzt, mit zunehmenden Hilfsquellen, sei man im Begriff, die Bevölkerung zu vergrößern.

Ein Stöhnen des Entsetzens entrang sich Pater Amerton. Schon seit einiger Zeit hatte er diese Offenbarung gefürchtet. Sie verstieß gegen seine moralistischen Grundsätze.

»Und ihr wagt es, die Vermehrung zu regulieren?! Ihr kontrolliert sie? Eure Frauen sind damit einverstanden, Kinder zu gebären, wenn sie benötigt werden – oder sie unterlassen es?«

»Natürlich«, sagte Urthred, »warum nicht?«

»Gerade das habe ich befürchtet!« sagte Pater Amerton, und vornübergebeugt bedeckte er das Antlitz mit den Händen und murmelte: »Ich fühlte es in der Atmosphäre. Die menschliche Zuchtfarm! Sie lehnen es ab, Seelen zu gebären! Eine solche Gottlosigkeit, oh, mein Gott!«

Mr. Burleigh betrachtete die Aufregung des geistlichen Herrn durch seine Brille mit einem leicht entrüsteten Ausdruck. Er haßte Schlagworte. Aber Pater Amerton repräsentierte sehr wertvolle konservative Elemente in der Wählerschaft. Mr. Burleigh wandte sich wieder den Utopen zu:

»Das ist außerordentlich interessant!« sagte er. »Unsere Erde bringt es sogar gegenwärtig zustande, eine Bevölkerung auf sich zu tragen, die mindestens fünfmal so groß ist.«

»Aber ungefähr zwanzig Millionen werden in diesem Winter Hungers sterben, erzähltet ihr uns soeben, in einem Gebiet, welches ihr Rußland nennt, und ein nur sehr kleiner Teil der übrigen führt ein Leben, welches nach euren Begriffen vollwertig und bequem genannt werden kann?«

»Trotzdem ist der Gegensatz sehr auffallend«, sagte Mr. Burleigh.

»Es ist fürchterlich!« sagte Pater Amerton.

Die Utopen blieben dabei, daß die Übervölkerung des Planeten im letzten Zeitalter der Verwirrung das grundlegende Übel gewesen sei, aus dem alle die anderen erwachsen seien, unter denen die Menschheit zu leiden gehabt habe. Eine überwältigende Flut von Neuankömmlingen ergoß sich über die Welt und untergrub jede Anstrengung, welche die gebildete Minderheit machen konnte, um einen genügenden Teil von ihnen so auszubilden, daß sie den Anforderungen der neuen und schnell wechselnden Lebensbedingungen gewachsen seien. Und die gebildete Minderheit war selbst nicht fähig, das Schicksal der Bevölkerung in die Hand zu nehmen. Die große Masse der Menschen, die ins Leben hineingestoßen wurden, beherrscht von fadenscheinigen und verbrauchten Traditionen und den plumpsten Anregungen zugänglich, war die natürliche Beute und ein Opfer für jeden Abenteurer, dessen Wesen marktschreierisch genug und dessen Auffassung von Erfolg grob genug war, um auf sie zu wirken. Das Wirtschaftssystem, recht und schlecht und in fieberhafter Eile erneuert, um den neuen Bedingungen mechanischer Güterproduktion und Verteilung zu genügen, wurde zu einer immer grausameren und schamloseren Ausbeutung der vielfältigen Bedrängnis des gemeinen Mannes durch die räuberische und erwerbstüchtige Minderheit. Dieser allzu einfältige »Gemeine Mann« wurde von der Wiege bis zum Grab durch Elend und Unterwerfung gehetzt; er wurde beschwatzt, belogen, gekauft, verkauft und beherrscht von einer schamlosen Minderheit, die kühner und zweifellos tatkräftiger, aber in keiner anderen Hinsicht besser war als er selbst. Für einen Utopen von heute sei es schwer, sagte Urthred, den Grad der ungeheuren Dummheit, Verschwendung und Gemeinheit zu schildern, zu dem diese reichen und mächtigen Männer des letzten Zeitalters der Verwirrung gelangt waren.

(»Wir wollen Sie nicht bemühen«, sagte Mr. Burleigh, »leider – wissen wir es … wir wissen es. Nur zu gut wissen wir es!«)

Über diese mit Krankheitskeimen durchsetzte und übertrieben dichte Bevölkerungsmasse fielen schließlich Unglücksfälle her wie ein Schwarm Wespen über einen Haufen verfaulter Früchte. Es war ihr natürliches, unentrinnbares Schicksal. Ein Krieg, der nahezu den ganzen Planeten in Mitleidenschaft zog, brachte das schwache Finanzsystem und die Wirtschaftsmaschinerie aus den Fugen, so daß keine Möglichkeit bestand, sie wieder in Ordnung zu bringen. Bürgerkriege und unüberlegte Versuche einer sozialen Revolution setzten das Werk der Desorganisation fort. Jahrelang anhaltende Witterungsunbilden vertieften noch den allgemeinen Niedergang. Die ausbeuterischen Abenteurer, zu dumm, um zu begreifen, was geschehen war, fuhren fort, das Volk zu betrügen und zu belügen, und verhinderten so jedes Sich-Aufraffen anständiger Männer, so wie Wespen weiterfressen, selbst wenn ihnen der Leib abgetrennt worden ist. Der Antrieb zum Schaffen war aus dem utopischen Leben verschwunden, siegreich verdrängt vom Rafftrieb. Die Produktion schrumpfte fast auf den Nullpunkt zusammen. Der angehäufte Wohlstand schwand dahin. Ein bedrückendes Schuldensystem, ein Schwarm von Gläubigern, moralisch unfähig, hilfreich zu verzichten, vernichtete jede neue Initiative.

Die bedeutenden Fortschritte, welche in Utopia zugleich mit den großen Entdeckungen begonnen hatten, gingen in plötzlichen Stillstand über. Was in der Welt noch an Überfluß und Vergnügen vorhanden war, rafften die Glücksritter der Hochfinanz und Spekulation in gierigster Weise an sich. Die organisierte Wissenschaft war schon seit langem kommerzialisiert worden und wurde nun hauptsächlich auf die Jagd nach gewinnbringenden Patenten und Monopolen auf Lebensnotwendigkeiten »angewandt«. Die verwahrloste Leuchte reiner Wissenschaft schwand dahin, flackerte und schien ganz und gar zu verlöschen, Utopia einem neuen Mittelalter überlassend, wie vor dem Zeitalter der Entdeckungen …

»Es ist wirklich wie eine düstere Diagnose unserer eigenen Aussichten«, sagte Mr. Burleigh, »außerordentlich ähnlich. Wie hätte sich Dechant Inge über all dies gefreut.«

»Einem Ungläubigen seiner Sorte würde dies zweifellos erfreulich vorkommen«, sagte Pater Amerton ein wenig ohne Zusammenhang.

Diese Bemerkungen ärgerten Mr. Barnstaple, der begierig war, mehr zu hören.

»Und was ereignete sich dann?« fragte er Urthred.

18

Was sich ereignete, war, wie Mr. Barnstaple vernahm, eine vorsätzliche Wandlung im utopischen Denken. Eine wachsende Anzahl von Leuten kam zur Erkenntnis, daß angesichts der gewaltigen und leicht zu entfesselnden Kräfte, die Wissenschaft und Organisation dem Menschen verliehen hatten, die alte Auffassung vom sozialen Leben im Staat als gesetzlich zugelassener Kampf innerhalb gewisser Grenzen zwischen Männern und Frauen, um einander zu übervorteilen zu gefährlich geworden sei, um von Dauer zu sein, genauso, wie die gesteigerte Furchtbarkeit moderner Waffen die Vorherrschaft einzelner Nationen auf die Dauer zu gefährlich machte. Neue Ideen und neue Vereinbarungen für das menschliche Zusammenleben taten not, wenn die Menschheitsgeschichte nicht in Auflösung und völligem Zusammenbruch enden sollte.

Jede menschliche Gesellschaft habe ihre Grundlage in der Einschränkung der eingewurzelten wilden Streitbarkeit des Urmenschen durch Gesetze, Verbote und Verträge; jener alte Geist der Selbsterhaltung mußte sich nun neuen Einschränkungen fügen, die den neuen Machtmitteln und deren Gefahren entsprachen. Die Idee der Konkurrenz um den Besitz als herrschende Idee der zwischenmenschlichen Beziehungen drohte, wie eine schlecht bewachte Feuerstelle, die Maschine, die sie früher angetrieben hatte, zu zerstören. Die Idee des schaffenden Dienstes sollte jene verdrängen. Wenn das soziale Leben gerettet werden sollte, mußte sich der menschliche Geist dieser Idee zuwenden. Man begann nun Vorschläge, die man in früheren Zeiten für einen begeisterten und überschwenglichen Idealismus gehalten hatte, nicht nur als einfache und nüchterne psychologische Wahrheiten, sondern auch als praktische und dringend notwendige Wahrheiten zu erkennen. Als Urthred dies erklärte, drückte er sich in einer Weise aus, die Mr. Barnstaple an gewisse, ihm sehr vertraute Sätze erinnerte; er schien zu sagen: ›Wer sein Leben retten will, wird es verlieren, und wer sein Leben hingibt, wird damit die ganze Welt gewinnen.‹

Pater Amerton schien dasselbe zu denken. Denn er unterbrach plötzlich: »Aber was Sie da sagen, ist ja ein Zitat.«

Urthred gab zu, daß er ein Zitat im Sinne hatte, eine Stelle aus den Lehren eines Mannes von großer dichterischer Kraft, der vor langen Zeiten, in den Tagen der gesprochenen Worte, gelebt hatte. Er hätte weiter gesprochen, aber Pater Amerton war zu aufgeregt, es zuzulassen.

»Aber wer war dieser Lehrer?« fragte er. »Wo lebte er? Wie wurde er geboren? Wie starb er?«

Ein Bild blitzte vor Mr. Barnstaples geistigem Auge auf, das Bild einer einsamen, blassen Gestalt, geschlagen und blutend, umgeben von bewaffneten Wächtern, inmitten einer stoßenden, drängenden, hirnverbrannten Menge, die eine schmale, von hohen Mauern umsäumte Gasse füllte. Dahinter tauchte ein riesiger fürchterlicher Gegenstand auf und nieder mit dem Wogen der Menge.

»Starb er auch in dieser Welt am Kreuze?« schrie Pater Amerton. »Starb er am Kreuze?«

Sie erfuhren, daß dieser Prophet in Utopia unter großen Schmerzen gestorben sei, aber nicht am Kreuze. Er war irgendwie gefoltert worden, aber weder die Utopen noch die Erdlinge wußten genug über die Technik der Folter, um sich eine Vorstellung davon machen zu können; dann war er anscheinend an ein sich langsam drehendes Rad gebunden und bis zu seinem Tode zur Schau gestellt worden. Es war die scheußliche Strafe eines grausamen und kriegerischen Volkes, und sie wurde über ihn verhängt, weil seine Lehre vom allgemeinen Dienst die reiche und herrschende Klasse, die nicht diente, in Angst versetzt hatte.

 

Mr. Barnstaple hatte einen Moment lang eine verkrümmte Gestalt auf dem Rad in der blendenden Sonne vor Augen und – herrlicher Triumph über den Tod – aus einer Welt, die eine solche Tat vollbringen konnte, war dieser große Friede und diese allumfassende Schönheit entstanden!

Aber Pater Amerton drängte mit seinen Fragen.

»Aber habt ihr nicht erkannt, wer das war? Hat es denn eure Welt nicht vermutet?«

»Viele dachten, daß dieser Mann ein Gott sei, aber er nannte sich nur ›Gottessohn‹ oder ›Menschensohn‹.«

Pater Amerton ließ nicht locker. »Betet ihr ihn jetzt an?«

»Wir folgen seiner Lehre, weil sie wundervoll und wahr ist«, sagte Urthred.

»Aber anbeten?«

»Nein.«

»Betet ihn denn niemand an? Gab es auch früher niemanden, der ihn angebetet hat?«

Es gab welche, die ihn anbeteten. Es gab solche, die vor der strengen Großartigkeit seiner Lehre verzagten und doch das quälende Gefühl hatten, daß er im tiefsten Grunde recht habe. So spielten sie ihrem eigenen, beunruhigten Gewissen einen Streich, indem sie ihn als einen zauberkräftigen Gott statt als ein Licht für ihre Seele behandelten. Sie verwoben die alten Traditionen der Hohepriester mit seiner Hinrichtung. Anstatt ihn offen und klar in sich aufzunehmen und ihn zum Teil ihres Verstandes und Willens zu machen, gaben sie vor, ihn auf mystische Weise zu essen und ihn zu einem Teil ihres Körpers zu machen. Sie machten aus seinem Rad ein wundertätiges Symbol und vermischten es mit dem Äquator, der Sonne, der Sonnenbahn, mit allem, was rund war. In Fällen von Unglück, Krankheit oder schlechtem Wetter glaubte man, daß es für den Gläubigen sehr heilsam sei, wenn er mit dem Zeigefinger einen Kreis in der Luft beschreibe.

Und da das Andenken an diesen Lehrer den Unwissenden wegen seiner Milde und Barmherzigkeit sehr teuer war, bemächtigten sich seiner schlaue und aggressive Individuen, die sich selbst zu Vorkämpfern und Vertretern des Rades ernannten, in seinem Namen reich und mächtig wurden, die Völker für seine Sache in große Kriege führten und ihn als Deckmantel und Rechtfertigung für Neid und Haß, Tyrannei und dunkle Begierden benützten. Bis man zuletzt sagte, daß sein eigenes siegreiches Zeichen, das Rad, den alten Propheten von neuem zermalmt und vernichtet hätte, wenn er wieder nach Utopia gekommen wäre …

Pater Amerton schien dieser Mitteilung keine Aufmerksamkeit zu schenken. Er betrachtete diese Sache aus einem anderen Gesichtswinkel.

»Aber es gibt doch sicher noch einen Rest von Gläubigen«, sagte er. »Vielleicht verachtet – aber einen Rest?«

Es gab keinen Rest mehr. Die ganze Welt folgte diesem Lehrer der Lehrer, aber niemand betete ihn an. An manchen alten übriggebliebenen Bauten konnte man noch ein geschnitztes Rad sehen, oft mit den phantastischsten Ausschmückungen. Und in Museen und Sammlungen gab es viele Bilder, Denkmäler, Reliquien und ähnliches.

»Ich verstehe das nicht«, sagte Pater Amerton, »es ist zu fürchterlich. Ich kenne mich nicht mehr aus. Ich verstehe es nicht.«

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