Der Diktator oder Mr. Parham wird allmächtig (Roman)

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Das Gedränge der Menschenmenge ringsum schob sie dicht an ihn heran. Wie lieblich war das Gesicht, so nahe gesehen! Keck, blauäugig! Die Augenlider waren entzückend gebildet. Der weiche, schön geschwungene Mund reizend! »Ich werde Sie zum Tanzen bringen. Und ich könnte Sie zu allem Möglichen bringen. Wissen Sie warum?«

Sie biß kräftig in ein Schinkenbrötchen und fuhr schmatzend fort:

»Weil Sie mir gefallen.«

Sie nickte bekräftigend mit dem Kopf. Mr. Parhams strahlendes Lächeln kam diesmal mühelos. »Ich fürchte, ich werde keinerlei Widerstand leisten«, sagte er und fügte mit der Miene eines Schwerenöters hinzu: »Es ist gar nicht meine Art. Er war hingerissen von ihr. Ja, dieses Geschöpf war etwas anderes als die so absichtlich geistreiche Miss Pomander Poole, an die er fortan keinen Gedanken mehr verschwenden wollte. Mochte sie aller Welt Sandwiches ins Gesicht klatschen!«

Miss Gaby Greuze machte sich klug und bedachtsam an ihre Aufgabe. Nichts auf der Welt ist so abgeschlossen und intim wie ein Zwiegespräch inmitten einer schmausenden und schwatzenden Menge. Der Lärm, den Sir Bussys Gäste machten, war bereits mit Windesrauschen in einem Walde metallischer Blätter verglichen worden. Nun kam noch das Klappern von Tellern, Schüsseln und Bestecken hinzu. Diese Fülle ineinander schmelzender Klänge, dies metallische Lautgewebe in der Luft schuf gleichsam eine Laube, einen Schlupfwinkel für Mr. Parham und seine liebliche Gefährtin. Er brauchte aus diesem geheimen Versteck hervor nur den Arm auszustrecken, um die Champagnerkaraffe zu fassen, Salate aller Art in Schüsselchen, köstliche Leckerbissen in Aspik und erlesenes Obst. Dann reichte er ihr seine Beute dar, und sie lächelte ihm aus ihren so überaus lieblichen Augen Dank zu und bediente sich. Schließlich verließen sie die Tafel Arm in Arm und suchten schalkhaft ein »ruhiges Winkelchen«, wo sie ihm die Grundbegriffe des modernen Tanzes beizubringen gedachte, ehe er sich in den Tanzsaal wagte. Sie vertrugen sich wunderbar. So oft sein klassisch schönes Gesicht sich herbeugte, um ihr Nichtigkeiten zuzuflüstern, liebkoste ihr seidenweiches Haar seine Wangen.

Etwas in diesem Erlebnis gemahnte Mr. Parham an Horaz und die leichteren Schöpfungen der lateinischen Dichter – also konnte es, das fühlte er, nichts durchaus Gemeines oder Schlechtes sein. Es gab Augenblicke, da nur seine klassische Erziehung, das Bewußtsein seines Ranges als Universitätslehrer und die Furcht vor den überaus zahlreichen unerwarteten Ecken und Spiegeln ringsum, sowie vor den überall auftauchenden Bediensteten des Savoy, aber auch, wir müssen es zugeben, eine gewisse ernste Gediegenheit seines Wesens ihn davor bewahrten, das so aufreizend liebliche Geschöpf in die Arme zu nehmen und ihm zu zeigen, was ein Mann von Bildung und Geist auf dem Gebiete leidenschaftlicher Zärtlichkeit zu leisten imstande war.

»Nun vergessen Sie ja nicht, was ich Ihnen gesagt habe«, schärfte ihm Miss Gaby Greuze ein, während sie ihn wieder in den Trubel der Gesellschaft zurückführte; »wenn Sie schön aufpassen, wird es sehr gut gehen. Bis zum nächsten Tanz wollen wir einmal zugucken. Setzen wir uns hierher, und ich will inzwischen eine Limonade trinken.«

Mr. Parham lächelte bei dem Gedanken, was wohl seine Studenten sagen würden, wenn sie ihn jetzt hätten sehen können. Er saß neben seiner Gefährtin, den Arm vertraulich auf die Lehne ihres Stuhles gelegt, und sprach wie ein intimer Freund mit ihr.

»Sir Bussy dünkt mich ein Wunder«, sagte er, indem er in das Menschengewühle blickte.

»Ein recht ärgerliches Wunder«, meinte sie. »Er wird nächstens einmal eine Backpfeife erwischen.«

»Das will ich nicht hoffen.«

»Er würde trotzdem weiter grinsen. Er könnte wirklich was Besseres auf der Welt tun, als die Leute ausnützen – wo er so viel Geld hat.«

»Ich bin eben erst in den Kreis der Plutokraten gezogen worden«, sagte Mr. Parham.

Sie verstand ihn offensichtlich nicht, blickte aber umso respektvoller zu ihm auf.

»Also jetzt«, sagte sie und erhob sich in der Absicht, mit Mr. Parham loszutanzen, sowie etliche andere Paare sich auf der vorläufig noch kahlen Tanzfläche eingefunden haben würden. Sie hatte starke Arme, wie Mr. Parham erstaunt merkte, und auch einen starken Willen, und die Instruktionen, die sie ihm erteilt hatte, waren gut und klar gewesen. Mr. Parham hatte die Kunst des modernen Tanzes so weit begriffen, wie es seiner Wesensart nach überhaupt nur möglich war. »Bussy ist da drüben«, sagte sie und steuerte quer durch den Saal auf ihren Gastgeber zu.

Er stand ganz allein in der Nähe der gestikulierenden Negerkapelle und schien sein ganzes Interesse auf die unerwarteten Übergänge in ihrer Musik zu konzentrieren. Die Hände tief in den Hosentaschen, wiegte er verträumt den Kopf. Mr. Parham und seine Partnerin tanzten zweimal lächelnd an ihm vorüber, ehe er ihrer gewahr wurde.

»Nu!« sagte Sir Bussy, indem er endlich aufblickte. »Es hat keine Stunde gedauert!«

»Ist er das?« fragte sie triumphierend.

»Das ist er«, entgegnete Sir Bussy.

»Sie haben verloren.«

»Nein. Aber Sie haben gewonnen. Ich bin ganz zufrieden. Und ich gratuliere Ihnen, Parham. Ich wußte es ja, daß Sie einen vortrefflichen Tänzer abgeben würden. Wenn man Sie nur an die richtige Lehrerin weist. Man lernt niemals aus im Leben. Wie gefällt sie Ihnen? Sie stellt den alten Velasquez in den Schatten, was?«

»Auf diese Beleidigung hin gehe ich in den Speisesaal und esse Sie arm«, erwiderte Miss Grenze. Zum zweiten Male hatte sie den Sinn einer Bemerkung nicht erfaßt. Sie ließ sich von ihrem Partner wieder in den Speisesaal führen, ohne den Tanz beendet zu haben. Er hätte gern sein Leben lang mit ihr weiter getanzt, doch allem Anscheine nach hatte sie nunmehr ihren Zweck erreicht.

Sie wurde erstaunlich böse. »Man hat Bussy gegenüber immer das Gefühl, als ob man nicht gegen ihn aufkäme«, sagte sie, »auch wenn man eine Wette gewonnen hat. Aber ich will ihn nächstens einmal klein kriegen – koste es, was es wolle. Er bringt einen auf Gedanken …«

»Auf was für Gedanken?« fragte Mr. Parham.

»Habe ich Ihnen denn erzählt …« überlegte sie, und ein sonderbarer Ausdruck zeigte sich plötzlich in ihren Augen. Sie betrachtete Mr. Parham prüfend.

»Sie können mir alles sagen«, meinte er.

»Ach, das will viel heißen. Nein – vorläufig sage ich Ihnen nichts. Wahrscheinlich niemals.«

»Ich kann warten und hoffen«, sagte Mr. Parham mit dem Gefühl, daß das alles oder nichts bedeuten konnte.

Im Speisesaal verlor Mr. Parham seine Gefährtin. Er verlor sie, während er über ihre sonderbaren Äußerungen nachdachte. Was ihr dabei im Sinn gelegen hatte, sollte er erst beträchtlich später erfahren. Es tauchte ganz plötzlich eine Schar junger Mädchen auf, die ihr glichen, aber nicht so wunderhübsch waren; sie umringten sie, drängten sich liebkosend an sie und riefen: »Liebe Gaby! Süße Gaby! Allerschönste Gaby!« Eine Art Berufsschwesternschaft von Tänzerinnen oder jungen Schauspielerinnen. Er wurde von ihr getrennt und wäre fast wieder mit Miss Pomander Poole zusammengeraten, ehe er die Gefahr merkte.

Eine Zeitlang blieb er einsam. Er versuchte, aufs neue in die Nähe seiner allzu beliebten Gaby zu gelangen, jedoch vergebens. Ein widriges Geschick trieb ihn immer wieder zu Pomander Poole hin und sie zu ihm. Ein unbewußtes dramatisches Bedürfnis in ihr, eine Neigung, in Gebärden zu denken, machte es ihm nur allzu klar, daß sie nicht die geringste Lust verspürte, sich nochmals in ein Gespräch mit ihm einzulassen. Es sah aus, als ob sie ihre Gebärden mit Worten begleitete, doch war er glücklicherweise nie so nahe, daß er hätte verstehen können, was sie sagte. Dann stieß er plötzlich auf Lord Tremayne, der ihm in herzlichstem Tone zurief: »Sie haben mir noch immer nicht gesagt, wie Sie über Westernhanger denken.«

Mr. Parhams augenblickliche Spannung löste sich, als der junge Mann hinzufügte: »Aber jetzt ist es ja zu spät, also wollen wir uns nicht mehr den Kopf darüber zerbrechen. Ich finde es eine Schande … Wahrscheinlich kennen Sie die wenigsten Leute hier in dieser hohlen Welt des bunten Flitters, wie? Wollen Sie irgend jemandem vorgestellt werden? Ich kenne sie allesamt.«

Er machte Mr. Parham mit zwei Gräfinnen und seiner Schwägerin, Lady Judy Percival bekannt, die sich zufällig in nächster Nähe befanden; daraufhin verschwand er. Die Vorstellung hatte nicht viel Zweck, denn die drei Damen sprachen vorwiegend nur untereinander, während Mr. Parham nachdenklich die Menge betrachtete. Die gehobene Stimmung ob seines Erfolges bei Gabrielle Greuze war einigermaßen abgeebbt. Vielleicht, überlegte er, würde er sie später von ihren Freundinnen aufs neue absondern und das Gespräch mit ihr wieder aufnehmen können. In einiger Entfernung bemerkte er Sir Titus, dessen hohe Stirn ihm ein wenig schief über dem einen Auge zu sitzen schien, während sein Arm deutlich sichtbar die Taille einer schlanken, dunkelhaarigen Dame in Grün umfaßt hielt. Der Anblick brachte Mr. Parham seine eigene Würde in Erinnerung. Er lehnte sich gegen eine Mauer und verhielt sich still beobachtend.

Seltsam, zu denken, daß diese Abendgesellschaft da, von einem Londoner Plutokraten in einem Hotel gegeben, in physischer Hinsicht höchstwahrscheinlich weitaus glänzender und schöner war, als irgend ein höfisches Fest der elisabethanischen oder jakobinischen Zeit. Wie klein und düster müßte solch eine gesellige Veranstaltung der Vergangenheit wirken, überlegte Mr. Parham, wenn man sie neben das bunte Schaugepränge des heutigen Abends stellen könnte. Brokate und Reifröcke, weder allzu neu noch sauber, von Kerzen und Fackeln beleuchtet. Erstaunlich, diese materielle Üppigkeit unserer Zeit! Doch jene kleinen Versammlungen bei trübem Licht hatten ihren Shakespeare, ihren Bacon, ihren Burleigh und ihren Essex gehabt. Sie waren durch und durch Geschichte geworden. Bücher waren über sie geschrieben worden, Studien und Kommentare, immer wieder wurde auf sie angespielt. Jede geringste Huld der jungfräulichen Königin war heute bedeutsam für die ernstesten Gelehrten. Kleine Räume vielleicht, aber große Zeiten.

 

Jedoch dies bunte Getriebe von heute – wohin führte es? Konnte es jemals Geschichte werden in irgend einem Sinne des Wortes? Auf den Hof der Königin Elisabeth gingen die ersten Anfänge Amerikas zurück, jene Menschen hatten den Grundstein zur modernen Wissenschaft gelegt, sie hatten die englische Sprache geformt – die englische Sprache, der diese Leute hier mit ihrem Kauderwelsch und ihrer lakonischen Durchtriebenheit eilends den Garaus machten. Vielleicht waren einige Künstler unter ihnen, vielleicht ein Gelbschnabel von einem Lustspieldichter. Mr. Parham war gerne bereit, Zugeständnisse an einzelne ihm möglicherweise Unbekannte unter der Menge zu machen – trotzdem blieb das Ergebnis des angestellten Vergleiches erschrecklich.

Die Jazz-Musik erklang aus dem Hintergrunde des Saales und begann ihm auf die Nerven zu fallen. Sie drang über die Köpfe der Versammelten hinweg, ungeheuerlich, als ob sie ihn suche, und alsbald war es, als hätte sie ihn entdeckt und rüttle und schüttle ihn nun. Mit einem Aufschrei, der, unendlich melancholisch, an Rufe aus der Dschungel gemahnte, griff sie ihm plötzlich ans Herz, um sich gleich darauf in hämmernde Trivialität zu verlieren und so zu tun, als sei sie stets nur trivial. Sie wurde intim; sie schien obszöne Gedanken erwecken zu wollen. Er erkannte, wie notwendig es war, hier ohne Unterlaß zu tanzen oder zu sprechen, schnell und laut zu sprechen, wenn man der Schar schwarzer Musikanten nicht wehrlos ausgeliefert sein wollte. Wie fremdartig sie doch waren, fast als gehörten sie einer anderen Gattung Lebewesen an! Mit ihren glänzenden, triumphierenden Gesichtern, ihren drängenden Gebärden. Was würde die jungfräuliche Königin, was ihr geliebter und getreuer Burleigh zu dem Kapellmeister da drüben mit dem Gesicht aus Bronze gesagt haben?

Seltsam, zu denken, daß sie sozusagen den Grundstein zu dem Lande Virginia gelegt hatte, aus dem der Kerl aller Wahrscheinlichkeit nach stammte. Der Kerl, der da hinter den Weißen herzuhetzen schien, sie zu einer geheimnisvollen Verleugnung, ja Vernichtung ihres eigentlichen Wesens trieb. Sie bewegten sich gleich Marionetten in dem Takte, den er schlug …

Diese Betrachtungen eines scharf beobachtenden, nachdenklichen und mit reichem Wissen ausgestatteten Geistes wurden durch das Wiedererscheinen des Lord Tremayne unterbrochen, der eine der Damen, die er Mr. Parham bereits vorgestellt hatte, am Arme führte.

»Hier ist er«, rief Tremayne fröhlich. »Sie kennen meine Kusine Lady Glassglade! Wenn irgend jemand, so kann er dir die Angelegenheit Westernhanger auseinandersetzen. Er hat neulich famos darüber gesprochen, einfach famos!«

Mr. Parham blieb mit Lady Glassglade allein.

Die Glassglades hatten ein Besitztum in Worcestershire und waren ganz gewiß Leute, die man kennen soll. Was aber die Dame hier wollte, war nicht recht begreiflich. Verwunderlich, wie weit Sir Bussys gesellschaftliche Beziehungen reichten. Sie war eine freundlich lächelnde und sehr selbstbeherrschte kleine Dame mit ein wenig angegrautem Haar. Mr. Parham verbeugte sich anmutig. »Wir sind hier der Musikkapelle zu nahe, um plaudern zu können«, sagte er. »Wollen wir in den Speisesaal hinuntergehen?«

»Da war es vorhin furchtbar voll, ich konnte nichts bekommen«, sagte die Dame.

Mr. Parham gab ihr zu verstehen, daß das nun anders werden sollte.

»Und ich bin eigentlich nur hierher gekommen, weil ich so hungrig war!«

Reizend! Sie vertrugen sich sehr gut miteinander, und er sorgte dafür, daß sie etwas zu essen bekam. Mit ruhiger Gelassenheit bestand er darauf, diese Aufgabe auf sich zu nehmen. Sie sprachen von dem Glassgladeschen Besitz in Worcestershire und dem so durchaus englischen Zauber Oxfordshires; dann kamen sie auf ihren Gastgeber zu reden. Lady Glassglade erklärte, sie finde Sir Bussy »einfach wunderbar«. Sein Urteilsvermögen im Geschäftsleben sei instinktiv, habe sie sagen hören, unglaublich schnell überblicke er die Dinge, während andere Leute umherliefen und Erkundigungen einzögen. Er müsse acht bis zehn Millionen im Vermögen haben.

»Und doch dünkt er mich einsam«, meinte Mr. Parham. »Einsam und losgelöst.«

Lady Glassglade stimmte dem zu.

»Wir haben ihn nicht assimiliert«, sagte Mr. Parham, und sein Gesichtsausdruck deutete auf ein fein organisiertes soziales System hin, das an einer Verdauungsstörung litt.

»Nein«, bestätigte Lady Glassglade.

»Ich habe ihn erst vor kurzem kennen gelernt«, sagte Mr. Parham. »Er dünkt mich merkwürdig typisch für unsere Zeit. Dieser neue Reichtum ist so sicher und kühn, doch fehlt es ihm in so unglaublichem Maße an dem noblesse oblige.«

»Das stimmt«, meinte Lady Glassglade.

Beide füllten ihre Gläser aufs neue mit Sir Bussys Champagner.

»Wenn man bedenkt, wie ernst unser alter Landadel seine Standespflichten stets genommen hat …«

»Ganz richtig«, sagte Lady Glassglade traurig.

Doch dann raffte sie sich zusammen: »Trotzdem ist er eine amüsante Erscheinung.«

Mr. Parham stellte sich auf einen höheren Standpunkt. Er blickte auf die Vergangenheit zurück und faßte die dunkle Drohung der Zukunft ins Auge. »Ich weiß nicht«, meinte er.

Lady Glassglade und Mr. Parham blieben ziemlich lange plaudernd beisammen. Mit ernstem Humor entwickelte er den Plan, daß Oxford Fortbildungskurse für die neuen Reichen werde einrichten müssen. Lady Glassglade schien sehr belustigt über diesen Gedanken.

»Als Nebenfächer Tennis, Tischmanieren, Waldhühnerjagd und Golf.«

Die Eindrücke, die Mr. Parham in Sir Bussys Gesellschaft gewann, verloren an Schärfe, je weiter die Nacht fortschritt. Irgendwie wurde er von Lady Glassglade getrennt. Als er davon sprach, daß jede Aristokratie, auch eine, die es nur dem Namen nach sei, die Pflicht habe, den Massen Führer zu sein, wandte er den Kopf, um festzustellen, ob sie den Sinn dieser Bemerkung auch recht erfasse: doch da war sie verschwunden, offenbar schon seit längerer Zeit. An Stelle des rhythmisch bewegten Flimmerns in seiner Geistesverfassung war allmählich etwas wie ein goldenes Dämmerlicht, eine schwere und doch humorvolle Feierlichkeit getreten. Er sprach mit fremden Leuten über den Gastgeber des Abends. »Er ist ein einsamer und führerloser Mensch«, sagte Mr. Parham. »Und warum? Weil er keine Tradition hat.«

Eine lange, lange Zeit hindurch stand er, wie er sich später erinnerte, ganz still und betrachtete bewundernd und voll Mitleid eine schöne schlanke Frau mit ruhigem Gesicht, die allein war und auf jemanden zu warten schien, der nicht kam. Er verspürte Lust, zu ihr hinzugehen und mit leiser, aber klarer Stimme »Warum so nachdenklich?« zu fragen.

Wenn sie dann erschreckt und überrascht die schönen dunkelblauen Augen auf ihn richtete, gedachte er im Nu ein höchst geistreiches Gespräch mit ihr zu beginnen. Phantasie und Wirklichkeit wollte er in eins verweben, wollte Sir Bussy mit Trimalchio vergleichen, in einer kurzen, aber lebensvollen Darstellung das Wirken des Petronius schildern und schließlich allerlei merkwürdige und amüsante kleine Geschichten über die Königin Elisabeth oder Kleopatra oder andere historische Persönlichkeiten zum besten geben. Und sie, davon war er überzeugt, würde ihm hingerissen lauschen.

»Sagen Sie mir«, sprach er zu einem jungen Mann mit Monokel, der sich im Gedränge an ihm vorüberschob. »Sagen Sie mir«, wiederholte er.

Indem er die Hand bewegte, merkte er, daß mit seinen Fingern irgend etwas Sonderbares los war. Dieser Umstand fesselte seine Aufmerksamkeit so sehr, daß er zunächst nicht weitersprach.

Der Ausdruck von Ungeduld in des jungen Mannes Gesicht verwandelte sich in einen des Interesses und der Sympathie. »Was soll ich Ihnen denn sagen?« fragte er, indem er erst Mr. Parhams fast völlig selbstständig gewordene Hand und dann dessen ganze Person durch sein Monokel hindurch betrachtete.

»Wer ist diese reizende Dame in Schwarz und – Jett nennt man das, glaube ich, da drüben?«

»Die Duchess von Hichester, mein Herr.«

»Besten Dank«, sagte Mr. Parham.

Doch sein Verlangen, die Dame anzusprechen, war verflogen. Er war dieses törichten, lärmenden, nächtlichen Festes, dieses ganzen hohlen Flitterkrams müde. Ein ungeheuerliches Fest war es. Ein Fest außerhalb der Geschichte, das nirgends anfing und nirgends hinführte. Ein Durcheinander. Herzoginnen und Tänzerinnen. Professoren, Plutokraten und Schmarotzer. Er wollte gehen. Doch eines hielt ihn noch eine Weile auf: sein Klapphut war ihm abhanden gekommen. Er befühlte seine Rocktaschen und betrachtete den Fußboden ringsum mit prüfendem Blick. Der Hut war weg.

Sonderbar!

In einiger Entfernung sah er einen Herrn, der einen Klapphut in der Hand trug. Einen Klapphut, just wie der seine, das sah er deutlich. Sollte er ihn dem Herrn mit einem ernsten »Verzeihen Sie« aus der Hand reißen?

Wie aber sollte Mr. Parham beweisen, daß es sein Klapphut sei?

4
Notturno

Mr. Parham fuhr aus dem Schlafe. Nun erinnerte er sich ganz deutlich daran, daß er seinen Klapphut auf den Tisch im Speisesaal gelegt hatte. Irgend ein übereifriger Bediensteter hatte ihn wahrscheinlich von dort weggenommen. ›Morgen früh muß ich an das Hotel Savoy schreiben‹, überlegte er.

An die Direktion des Hotels Savoy. Oder einfach an das Hotel Savoy. »Ich ersuche Sie höflichst …« Nicht zu steif, aber auch nicht zu familiär … Ta ra ra ra – tim ta – pum pum.

Wenn er schon seinen Klapphut dortgelassen hatte, so schien er andererseits fast die ganze Jazzkapelle mit nach Hause gebracht zu haben. Sie saß ihm im Kopf und war da mit der unbezähmbaren Kraft, die Negermusikanten eigen ist, immer noch unermüdlich an der Arbeit. Ein großes Kopfweh, kreisrund und aus Erz, diente ihr als Podium. Schlafen war unter diesen Umständen unmöglich, etwas zu lesen verspürte Mr. Parham auch keine Lust. Also wollte er ganz still im Dunklen liegen bleiben – oder richtiger gesagt, im schwachen Licht der beginnenden Morgendämmerung – und sich den Gedanken hingeben, die die Musik in ihm wachrief.

Es war ein dummer Abend gewesen.

Oh! Ein dummer Abend!

Mr. Parham fand, daß er seine Zeit besser hätte nutzen können, hohlen Vergnügungen nachgegangen sei, einen Mangel an Folgerichtigkeit und Selbstbeherrschung an den Tag gelegt habe.

Diese Gaby Greuze – sie hatte sich über ihn lustig gemacht. Jedenfalls hätte sie sich über ihn lustig machen können. Hatte sie sich tatsächlich über ihn lustig gemacht?

Das Orchester in seinem Schädel beschwor die Erinnerung an die Gestalt des Sir Bussy herauf, wie er einsam und schutzlos dastand und zu den Klängen der üppigen subtropischen Musik den Kopf wiegte. Niedergeschlagen und gelangweilt hatte er in dem Augenblicke geschienen. Man hätte sich da ganz leicht an ihn heranmachen und ihn fangen können. Mr. Parham hätte zu ihm hingehen und leise, aber deutlich irgend etwas Gewichtiges zu ihm sagen können.

»Vanitas vanitatum«, hätte er zum Beispiel sagen können und da man nie weiß, auf wie viel Unwissenheit man bei diesen neuen Männern stoßen mag, hätte sofort taktvoll die Übersetzung des Wortes hinzugefügt werden müssen: »Eitelkeit der Eitelkeiten.«

Und warum? Weil er keine Vergangenheit habe. Weil er den Zusammenhang mit der Vergangenheit verloren habe. Ein Mann ohne Vergangenheit habe auch keine Zukunft. Und so weiter und so fort, auf den vorwärts gerichteten Blick hinsteuernd – und auf die einflußreiche Wochenzeitschrift.

Doch anstatt solches gerade heraus und deutlich Sir Bussy selbst zu sagen, war Mr. Parham umhergewandert und hatte es Gaby Greuze gesagt, Lady Glassglade, diesem und jenem Unbekannten, allen möglichen Leuten der alten Ordnung. »Ich bin nicht an rasches Handeln gewöhnt«, stöhnte Mr. Parham. »Ich gehe nicht geradewegs aufs Ziel los. Ich lasse die Gelegenheit ungenützt verstreichen.«

Eine Weile lag er und brütete darüber, ob es nicht für alle Gelehrten, alle Denker gut wäre, wenn man sie zwänge, mindestens einmal am Tage irgend einen bestimmten Entschluß zu fassen. Dann würden sie an Willenskraft gewinnen. Aber – würden sie nicht an Schärfe des Denkens verlieren? An Feinheit des Geistes?

Bald war seine Phantasie wieder bei einem Gespräche mit Sir Bussy angelangt.

 

»Sie dünkt diese Art zu leben vergnüglich«, legte er sich zurecht. »Das ist ein Irrtum. Solch ein Leben ist nichts. Ist weniger als nichts. Sinnlose Üppigkeit ist es.«

»Üppigkeit.« Ein gutes Wort. Das gegenwärtige Zeitalter war eines der Üppigkeit. Wenn man eine Parallele suchte, las man am besten Petronius. Als Rom noch die ganze Welt unterjochen wollte. Das war auch ein Zeitalter der Üppigkeit gewesen. Da hastete jeder von einem hohlen Vergnügen zum andern. Altehrwürdige Bräuche wurden aus reiner Neuerungssucht fallen gelassen. Diese lächerlichen kleinen Hüte zum Beispiel, die man jetzt abends anstelle des stattlichen Klapphutes von seinerzeit trug. (Wenn man es recht überlegte, lohnte es sich kaum, wegen des verlorenen altmodischen Klapphutes an das Hotel Savoy zu schreiben. Er mußte sich ja doch solch ein albernes, modernes Hütchen anschaffen.) Keinerlei Rangunterschiede. Überall größte Zwanglosigkeit. Herzoginnen, Gräfinnen, Diplomaten, gesuchte Ärzte unterhalten sich fröhlich mit hübschen Choristinnen, dunklen Abenteurerinnen, Künstlern, Geschäftsleuten, Schauspielern, Kinostars, Negersängern, Casanovas und Cagliostros – ja, haben geradezu Freude an solchem Umgang. Keine Ordnung, kein Sinn für die jedem zugewiesene Aufgabe. Einem Burschen wie diesem Sir Bussy sollte man sagen: »Durch eine seltsame Laune des Zufalls bist du zu Macht gelangt. Doch hüte dich vor einer Macht, die nicht an die Tradition anknüpft und sie weiter entwickelt. Gedenke der ernsten großen Gestalten der Vergangenheit, als da sind Caesar, Karl der Große, Johann d’Arc, Königin Elisabeth, Richelieu (Sie sollten mein kleines Buch über Richelieu lesen), Napoleon, Washington, Garibaldi, Lincoln, William Gladstone; gedenke der Könige, Priester und Propheten, Staatsmänner und Denker, aller derer, die die Völker groß gemacht haben. Gedenke der wachsenden Zielbewußtheit, des steten Vorwärtsstrebens. Gedenke der Erzengel im Glanz ihrer Rüstung, der symbolischen Bedeutung ihrer schönen, ernsten Gesichter. Denk an die Bestimmung unseres Imperiums! Die Bestimmung Frankreichs! Unsere glorreiche Flotte! Unsere schlachterprobten Flaggen! Das Schwert der Macht ist nun in deiner Hand! Willst du damit nichts anderes tun als zahllose Sandwiches für ein Souper schneiden?«

Aufs neue sprach Mr. Parham inmitten der Nacht mit lauter Stimme. »Nein!« sagte er.

Er erinnerte sich plötzlich an den Champagner.

Üppigkeit war wirklich ein sehr gutes Wort. Eine stattliche Reihe schärfster Artikel gegen die modernen Tendenzen würde sich unter diesem allgemeinen Titel zusammenfassen lassen, wenn man nur eine Wochenzeitschrift sein eigen nennte!

Widerwärtig, daß diese mit Musikklängen vermischten Kopfschmerzen nicht besser werden wollten. Immerfort hörte er das verflixte Gedudel … Welche Unmengen von Champagner da getrunken worden waren! Üppigkeit.

Er malte sich ein Bild aus: Seine eigene Person, die Sir Bussy nahezu feierlich ein kleines Buch überreicht. »Hier«, sagte er dazu, »ist ein Buch, das Sie zum Nachdenken anregen wird. Ich weiß, es wäre zu viel verlangt, wenn ich Sie bäte, es ganz durchzulesen, so kurz es auch ist; aber lesen Sie wenigstens den Titel: Die unsterbliche Vergangenheit. Sagt Ihnen nicht der schon allerlei?«

Er sah sich ernst dastehen, während Sir Bussy mit bedrückter Miene an ihm vorbeizugelangen strebte.

In dem Begriff Üppigkeit ist auch der Hinweis auf ein Gutteil ungebrochener ursprünglicher Kraft enthalten. Tief unter all dieser bunten Nichtigkeit, dem leichtsinnigen Getriebe, unter Champagnergelagen und Jazztanz, unter diesen Festen, auf denen miteinander unvereinbare soziale Elemente sich sorglos zusammenfanden, lag der ewig beständige Kern des menschlichen Daseins verborgen, lagen harte Arbeit, Zielbewußtheit, Rangunterschiede, Loyalität, notwendiger Zwang. An der Oberfläche mochte ein Fragonard mit einem Schuß Negerblut als wahrer Lebenskünstler erscheinen, in der Tiefe aber arbeiteten ernste Geister an der Gestaltung einer großen Zukunft. Regierungen und auswärtige Ämter waren ja immer noch am Werk; Soldaten sammelten sich in den Kasernen, und große Kriegsschiffe pflügten unbarmherzig die vergeblich gegen sie anstürmenden Wogen. Religionslehrer predigten immer noch Treue und Gehorsam; Kaufleute schickten ihre Handelsschiffe über das Meer und in den Fabriken brauten sich soziale Kämpfe zusammen. Dieser Winter mochte ernste wirtschaftliche Schwierigkeiten bringen. »Das grimmige Gespenst der Not.« Sir Bussy lebte in einer erträumten Welt des ununterbrochenen Genießens. Doch alle Träume nehmen einmal ein Ende.

Es war, als ob der Geist der Hebräischen Propheten in Mr. Parham gefahren sei. Er sah sich auf dem Wege nach einer Kapelle, in der sich die Angehörigen irgend einer dunklen Sekte versammelten, Männer mit strengen, ernsten Gesichtern. Einer nach dem anderen kamen sie in die düstere Seitenstraße, in der die Kapelle lag, während hoch über dem unscheinbaren Gebäude der feurig rote Planet Mars den Himmel regierte. Die Musikkapelle in seinem schmerzenden Kopf spielte immer wildere, immer drohendere Weisen.

»Wahrhaftig«, flüsterte er. »Seid reuig … Ja.

Die heiligen Kräfte des Lebens sammeln sich unbemerkt, aber sicher, sie bereiten sich, die Posaunen zu blasen, wenn die Zeit gekommen ist, bereiten sich, die hohle Welt zu neuen Taten und großen Entschlüssen anzuspornen, sie werden die Fahne entfalten, sie werden die Seelen der Menschen erheben und prüfen, werden ihnen Opfer und Leiden auferlegen, um sie zu adeln.«

Klagend mußte dann die Menge nach einem Führer rufen. Und konnten Männer wie Sir Bussy ihre Führer sein?

»Ich wollte Ihnen zur Seite stehen«, würde Mr. Parham dann sagen. »Ich wollte Ihnen zur Seite stehen.«

Eine Zeitlang erblickte Mr. Parhams geistiges Auge nichts als marschierende Truppen, Scharen über Scharen, Regimenter und Kompagnien. Sie marschierten zu den Klängen der Negermusik, marschierten und verschwanden in der Ferne. Und die Musik wurde immer leiser.

Mr. Parhams Antlitz wurde in der Dunkelheit fest, ruhig und gelassen. Ernste Entschlossenheit erhob sich über dem kummervollen Getriebe seiner Gedanken und zwang sie nieder. Der Champagner machte einen letzten schwachen Versuch der Auflehnung.

Gleich darauf gaben seine Lippen nach: Der Mund öffnete sich ein wenig …

Tiefe regelmäßige Atemzüge, die alsbald ein sägendes Geräusch verursachten, belehrten die Maus hinter der Wandleiste, daß Mr. Parham eingeschlafen war.