Das Herzopfer

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Das Herzopfer
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Impressum:

Das Herzopfer

Günter Scholz

Copyright: © 2015 Günter Scholz

Lektorat: Marion Rebmann

www.lektoratrebmann.de

Verlag: epubli GmbH, Berlin

ISBN 978-3-7375-8900-0

Inhalt

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1

Der ächzende spanische Söldner, blutverschmiert und nur noch mit einer zerrissenen Hose bekleidet, wird die steilen Treppen des Tempels empor geschleift. Als er den verzweifelten Blick nach oben richtet, erblickt er den Priester, sieht ihn aber nur schemenhaft, da die gleißende Sonne hinter der hoch aufgerichteten Gestalt brennt. Oder blendet ihn die goldene Maske, die das Gesicht des Mannes verbirgt, der dem Sonnengott diese Opfer bringt, so im letzten Augenblick das Schicksal seines Volkes, sein Ende abzuwenden? Ist es diese Maske, die die Augen des Opfers blendet? Sind es die stechenden Augen des Priesters, die, eins werdend mit der sie umgebenden goldenen Haut, erst auf sein Gesicht, dann auf seine Brust starren? Er sieht das entsetzliche Steinmesser in der Hand des Mannes, der als einziger seines Volkes noch die Götter besänftigen, ihren Hunger nach Grausamkeit stillen kann. Er sieht, wie das Blut von der Steinklinge tropft, fühlt, wie die Gehilfen des Priesters ihn, das nächste Opfer, fester fassen, ihn weiter über die Stufen nach oben, näher an den Himmel zerren. Er weiß, vor dem Antlitz des Gottes gibt es kein Entrinnen, kein Erbarmen von fanatisch Glaubenden. So versucht er, einen letzten Schutz suchend, sich seines eigenen Glaubens zu erinnern; wie Fetzen im Sturm fliegen die Ermahnungen der eigenen Priester vorbei, erscheint immer wieder das Bild des Gekreuzigten vor ihm, des Opfers, das auch zur Besänftigung des Gottes zu Tode gequält wurde; und so erfasst ihn ein besinnungsloser Schrecken: Auch aus der Brust dieses Opfers, dieses vor seinem Gott gequälten Menschen fließt Blut, auch sein zerschundener Körper ist von einer Lanze aufgerissen – ja, auch er wurde vor seinem Gott zu Tode gemartert, um den Zorn des Allmächtigen abzulenken, zu zerstreuen. Doch es bleibt ihm keine Zeit, sein Schicksal als Opfer mit dem des Gekreuzigten zu vergleichen: Das Steinmesser, der Priester, der Gott, sie warten ungeduldig. Der Allmächtige will das zuckende Herz, sein Herz, seinen qualvollen Tod sehen. Ist es der Irrsinn dieses Gedankens, ist es der panische Wahnsinn der Todesverzweiflung, der ihn beten lässt, oder ist es die seit Kindesbeinen eingeübte Heilsroutine?

„Herz Jesu, du Quelle allen Trostes,

Du Herz, durchbohrt von der Lanze,

Herz Jesu, du Opferlamm für die Sünder,

Herz Jesu, du Sühne für unsere Sünden!“

Die Litanei quält sich über die zerbissenen, die blutenden Lippen des menschlichen Opferlamms, dessen Herz geopfert werden wird für die Vergehen eines Volkes, das nicht das seine ist, das zuckend und sein Blut verspritzend dem Sonnengott entgegen gehalten werden wird für die Sünden von Menschen, die es nicht kennt.

„Herz Jesu, Schlachtopfer der Sünder, erbarme Dich unser!“

Er schreit es hinaus, schreit es empor an die glühende Sonne des Himmels, dessen Blau stählern leuchtet wie die blanken Klingen der Rapiere, die federgeschmückte bunte Holzrüstungen glatt durchfahren, die sich satt stechen in brauner Haut, über die das hellrote Blut so anmutig fließt. Schwebt dort nicht segnend die heilige Jungfrau über den Kämpfern der Krone, der dreifachen Krone?

„O heiligste und unbefleckte Jungfrau! Opfere Du dem ewigen Vater das kostbare Blut deines Sohnes!“

Er will zum Gebet niederfallen, will niedersinken auf seine zerschundenen Knie, doch die Diener des gnadenlosen Gottes zerren ihn weiter, dem heiligen Ort, dem Altar entgegen, auf dem jetzt er, auf dem jetzt sein Herz das Opfer sein wird. Doch dann sind es plötzlich zwei Priester, die ihn erwarten, zwei Sklaven eines erbarmungslosen Gottes, die jedem Befehl gehorchen, die die heiligen Worte hören, Worte, die sie selbst murmeln – die nur sie verstehen. Der zweite Priester trägt die Maske des Jaguars. Die gewaltigen Reißzähne des mächtigen Räubers blitzen im heiligen Licht des Sonnengottes und die Krallen seiner Pfoten strecken sich aus nach ihm, nach seinem wie wild tobenden Herzen.

O nein, es gibt kein Entrinnen, kein Entkommen vor dem Antlitz des Gottes. Es ist ihm, als erhebe sich jetzt zwischen den beiden Priestern ein gewaltiges Kreuz und der Gekreuzigte steige herab, komme mit dieser großen blutenden Wunde in seiner Brust auf ihn zu, stürze auf die hohen Stufen des Tempels, werde neben ihm herab gezerrt. Doch nein, es ist nicht der unschuldig gestrafte Gottessohn, es ist sein Kamerad Juan, der neben ihm kämpfte, mit ihm zusammen gefangen genommen wurde. Er sieht sein Gesicht, erkennt seinen Bart, kann aber dann nur noch in die leere Brusthöhle starren. In wenigen Augenblicken wird auch er so weggezerrt, so weggeworfen werden, ein Leichnam ohne Herz. Schon packen ihn die Helfer – haben sie nicht Tuchmasken vor ihren Gesichtern, tragen sie nicht weiße Kittel? –, werfen ihn auf den Altar. Die Goldmaske des einen Priesters glüht über ihm, seine brennenden Augen tasten seine Brust ab. Die Krallen des Jaguarmenschen ritzen schmerzhaft die Haut seiner Brust, markieren die Stelle zwischen zwei Rippen, in die im nächsten Augenblick das noch vom letzten Opfer blutige Steinmesser hineinfahren wird; ein letztes Mal bäumt sich sein gepeinigter Körper auf, sucht instinktiv dem Unentrinnbaren zu entgehen…

„Lieber Herr Kühn, bitte bleiben Sie ganz ruhig, wir wechseln nur die Elektroden des Monitors aus; wir mussten die alten abziehen, das brennt ein wenig – Sie hatten sicher einen Alptraum.“

Albert Kühn, ordentlicher Professor für systematische Theologie an der Freien Universität, versucht ein wenig zu lächeln. Die Schwester, die neben Chefarzt Dr. Schäffer steht und dem schwer herzkranken Patienten die schweißnasse Stirn abtrocknet, blickt ihren Chef kurz an; dieser wirft einen Blick auf den Monitor, doch die Sorge, die sich in seinem Gesicht ausbreiten will, ist schnell von geübter Freundlichkeit unterdrückt. Er wendet sich erneut seinem Patienten zu:

„Lieber Herr Kühn, wir wollen unter erwachsenen Menschen… “

Er stockt, lacht kurz auf.

„Entschuldigen Sie, ich falle manchmal auch dem Intellektuellen gegenüber in den üblichen Patienten-Jargon; also – die Lage ist äußerst ernst, aber das wissen Sie ja. Ich kann Ihrem Herzen nur noch bedingt helfen, kann es nur noch eine ungewisse Zeit hinhalten, Bypassoperationen und das ganze Spektrum der konservativen Therapie sind ausgereizt.“

Der Arzt beobachtet seinen Patienten, verfolgt genau, wie sich Angst und Resignation aber auch noch nicht erloschener Lebenswille in einem leidenden Antlitz vereinen. Dann hört er die leise Stimme seines Patienten:

„Ach, Sie wissen doch, unser Leben währet siebzig und wenn es hoch kommt, so sind es achtzig Jahre… “

Doch da wird Dr. Schäffer wieder ganz Arzt, Chefarzt. Fast klingt seine Stimme wie die eines ermahnenden Vaters seinem Sohn gegenüber, obwohl er der Jüngere ist.

„Lieber Herr Kühn, erstens sind Sie noch lange keine siebzig, sondern stehen mitten im Leben, wie man so richtig sagt, und zweitens ist es nicht meine Aufgabe, über das Leben und seine voraussichtliche Dauer zu philosophieren oder“,

 

er lächelt jetzt fast leutselig,

„zu theologisieren, sondern es zu retten, zu erhalten! Also, wir beide wissen, dass es ernst ist, sehr ernst – und die Situation, Ihre Lage, wird täglich instabiler. Lassen Sie es mich in aller Deutlichkeit sagen: Ihr Herz kann jederzeit, täglich, ja stündlich versagen. Ja, es ist nun mal so, wir müssen dem ins Auge sehen. Wir sind hier als kardiologische Fachklinik natürlich auf diesen Ernstfall vorbereitet, in einem gewissen Rahmen können wir das technisch auffangen. Aber das ist ja alles keine Lösung – für uns nicht und vor allem auch für Sie nicht. Darum steht noch eine weitere Entscheidung an, um die wir nicht herum kommen, die schleunigst getroffen werden sollte.“

Ein Hauch von Ungeduld läuft über das Gesicht des Kranken als er antwortet: „Aber ich bin doch auf der Warteliste, bin mit der Transplantation einverstanden, bin innerlich darauf vorbereitet, obwohl… so manchmal denke ich… ach ja, es ist eben alles in Gottes Hand.“

Der Arzt unterdrückt seinen aufkeimenden Ärger darüber, dass er sich mit diesem Gerede aufhalten muss, wäre dies doch Aufgabe der Angehörigen, meinetwegen auch einer ehrenamtlichen Sitzwache für Todkranke. Die machen – als Klinikarzt weiß er das aus langer Erfahrung – so etwas gern, befriedigen auf diese Weise ihren Helferinstinkt, vielleicht auch ihr Bedürfnis nach endlich so richtig praktizierter Nächstenliebe – ja, um Gottes Willen, ja und meinetwegen! Aber doch nicht mit ihm, er hat andere Dinge gelernt, muss sich um Wichtigeres kümmern. Doch er nimmt sich zusammen; schließlich hat er es nicht mit einem Allerweltspatienten zu tun, dem üblichen Patientengut. O nein, hier hat er einen nicht nur gesellschaftlich geachteten, sondern auch einflussreichen und wohlhabenden Kranken vor sich, der für ihn auch ansonsten von höchstem Interesse ist. So zwingt er sich zur Geduld, kann aber einen leicht ironischen Unterton nicht unterdrücken:

„Aber Herr Kühn, sehen Sie doch mal, die Wissenschaft, und gerade die Medizin, sie hat Gott schon so manches aus der Hand genommen. Ach wissen Sie“, er wendet sich von dem Patienten ab, blickt aus dem Fenster, sieht ins Leere, „als Kind habe ich den Robinson Crusoe gelesen. In einem der Kapitel geht es darum, soweit ich mich erinnere, wie Robinson sein Leben auf der Insel aufbaut; und da steht als Überschrift darüber, so in diesen schön altmodischen, ausführlichen Kapitelbeschreibungen: Robinson lernt die Wahrheit des Wortes zu erkennen: Hilf dir selbst, dann hilft dir Gott! So oder ganz ähnlich war es formuliert.“

Auf der Stirn von Professor Kühn erscheint eine nachdenkliche Falte. Er verlässt für einen Augenblick sein jetziges, sein sterbendes Leben, kehrt in seine Jugend zurück. Aber dann schüttelt er ganz leicht den Kopf auf dem breiten Kissen: „Da kann ich mich gar nicht dran erinnern. Eigentlich kenne ich den Robinson doch ganz gut.“

Er lächelt in der Erinnerung:

„In meiner Jugend wurde so etwas ja noch gelesen.“

Aber Dr. Schäffer kommt es auf den Inhalt dieses Satzes an, der sich nicht so ohne weiteres erschließt. Er drängt das Gespräch nach vorn, auf das von ihm angepeilte Ziel zu.

„Als Kind habe ich mich immer über diesen Satz gewundert. Wieso hilft einem Gott, wenn man sich selber hilft? Das ergibt doch keinen Sinn. Dass es aber doch einen Sinn ergibt, und sogar einen sehr vernünftigen, dass es nämlich zu entschlossener Eigeninitiative auffordert, deren Erfolg dann im nachhinein als göttliche Hilfe verstanden wird, das, ja das habe ich erst später begriffen, dann aber gründlich. Man muss sich nur vom kindlichen, vom allmächtigen, vom lieben Gott lösen, dann wird das im Robinson Crusoe Gemeinte klar – und man begreift nicht nur dieses! Aber wem sage ich das?“

Er lacht.

„Einem ausgewiesenen Fachmann, einem richtigen Ordinarius der Theologie – systematische Theologie, wenn ich mich richtig erinnere.“

Professor Kühn lächelt erneut, jetzt ein wenig verlegen. Er weiß nicht so richtig, auf was der Arzt hinaus will, fühlt sich aber doch als ‚Fachmann‘ – seine Eitelkeit lässt ihn die in diesem Wort auch verborgene Ironie überhören – direkt angesprochen. So antwortet er erst einmal vorsichtig, abwartend, will zuerst noch hören, erst richtig verstehen, was sein Gegenüber von ihm will. Denn er begreift langsam, dass dies kein mitfühlend freundliches Gespräch ist, das einen Kranken ein wenig von seinem Leiden ablenken soll. Nein, das wird ihm immer klarer: hier wird eine Absicht verfolgt, hier wird ein Interesse vertreten. Leise sagt er, jetzt ganz demütiger Patient:

„Ja ja – aber deswegen weiß ich nicht mehr von Gott als jeder andere auch. Sie als Arzt, gerade als Herzchirurg, Sie sind ihm wahrscheinlich viel häufiger begegnet, sind mit ihm sicher auf Du und Du. Sie sind auch hier der Praktiker, bei mir ist da viel mehr Theorie dazwischen – ja… und das schafft manchmal Abstand.”

Doch der Arzt lässt sich den schwarzen Peter nicht zuschieben, beharrt auf der Fachkompetenz des Anderen, antwortet als klopfe er diesem auf die Schulter: „Das finde ich ja gerade so gut an den Theologen, die können diese Dinge mit wissenschaftlichem Abstand sehen, nüchterner.“

Aber der kranke Theologe wehrt sich, will sich noch immer nicht in diese Ecke drängen lassen, aus der heraus er Entscheidungen treffen muss, die angeblich anstehen und doch für ihn schon vorentschieden sind. Darum antwortet er, fast ein wenig heftig:

„Und kommen damit richtig in eine Diskussion, die dem Laien so gar nicht passieren kann: Auferstehung des Fleisches – und dann mit einem fremden Herzen, einem geliehenen? Nein, mir wird manchmal ganz anders bei diesem Gedanken. Und dann – Geh aus mein Herz und suche Freud… “

Der Piepser, an den Kittel des Arztes gesteckt, ertönt. Aber Dr. Schäffer ist routiniert genug, weiter zuzuhören und seinen Patienten dabei zu beobachten, der leise, mehr für sich, spricht:

„Vielleicht begehe ich eine furchtbare Sünde? Wollte mein Traum mich vielleicht warnen?“

Aber der Arzt lächelt nachsichtig, fast mitleidig.

„So wie wir als Jungens dachten, genau so – nach dem Onanieren, jedenfalls in unserer Generation noch. Aber heute denken wir anders darüber, schlicht und einfach weil wir es besser wissen. So ist es mit vielen Dingen. Auch Wertgefühle und Moralvorstellungen wandeln sich.“

Professor Kühn aber hat jetzt festeren Boden betreten, fühlt sich auf sichererem Terrain.

„Meinen Sie zu wissen, mein Lieber, meinen Sie! Bloße Doxa nannten das die Alten, diese Allerweltsmeinung, die keine Wahrheitsbedeutung hat. Sehen Sie doch… “

Doch der Arzt unterbricht ihn, will so nicht weitermachen. Etwas harsch sagt er noch:

„Ich werde gerufen, ins OP, Sie verstehen. Wir reden in Bälde weiter miteinander, ohne Störungen. Bis bald, Herr Kühn! Und – halten Sie sich tapfer!“

2

„Benito ist ein guter, ein stolzer Name, der die Freiheit und die Würde Mexikos wie kein anderer wiedergibt. Erinnert er doch an Benito Juarez, den größten Sohn Mexikos.“ Dies hatte sein Vater oft zu ihm gesagt. Und regelmäßig hatte er dann hinzugefügt: „Und er war einer von uns!“ Doch seinem Kind, seinem Sohn gegenüber war es weniger Stolz, den er empfand, sondern es war innige väterliche Liebe, die ihn mit seinem kleinen Sohn verband. Hart hatte er dafür arbeiten müssen, dass die junge Familie in einen etwas besseren Stadtteil ziehen und die kleine Wohnung einfach, aber doch freundlich einrichten konnte. Neben der zermürbenden Arbeit, zehn und mehr Stunden am Tag, hatte er eine Schulung zum Brückenbauingenieur absolviert, hatte das Examen mit Bravour bestanden und plante jetzt bereits die spätere Ausbildung seines begabten Sohnes. Immer wieder träumte er davon, wie dieser später an die Universität ginge und ein schöner und großer, ein erfolgreicher Mann würde. Doch dann geschah dieses furchtbare Unglück; es war kurz vor Benitos sechstem Geburtstag und der Spielzeugkran, wie er im Original auch beim Brückenbau eingesetzt wird, stand schon eingepackt für den schönen Tag bereit. Ein Kollege, der mit Benitos Eltern befreundet war, behauptete später, es wäre kein Unfall gewesen, sondern der junge Brückenbauingenieur wäre ein wenig zu aufmüpfig gewesen, hätte oft vor den Kollegen und auch vor den Arbeitern gesagt, dass es eine Schande sei, wenn nur ausländische Firmen die Brücken bauen würden, seien sie als Mexikaner denn nicht dazu in der Lage? Die Firmenleitung habe das gar nicht gemocht – und dann dieser Unfall! Dass es gerade Benitos Vater getroffen habe, nein, das sei bestimmt kein Zufall gewesen! Aber es war nur ein Gerücht und der Kollege sagte es nur heimlich, denn er hatte Angst um seinen Job. Auch nutzte es Benitos weinender Mutter nichts, die jetzt plötzlich ohne jegliches Einkommen dastand und als erstes die kleine Wohnung aufgeben, die mühsam ersparten Möbel für ein paar Pesos verkaufen musste. Wieder wohnten sie in diesem entsetzlichen Vorort und Benito spielte wieder im Dreck der manchmal verschlammten, manchmal staubigen Straße. Seine Mutter arbeitete so viel und so lange sie konnte, aber es reichte nicht dafür, sich aus dem Elend zu erheben. Das Wenige, was ihr aus dem kurzen besseren Leben geblieben war, das war ein Foto ihres Mannes, vor dem sie immer wieder betete und dann eine Kerze anzündete – und ihr Benito, den sie oft in den Arm nahm und ihre Tränen über sein schwarzes Haar fließen ließ.

Aus der besseren Ausbildung Benitos, wovon seine Eltern geträumt hatten und die in greifbare Nähe gerückt schien, wurde nichts. Er musste sich wie seine Mutter im Gewühl der großen Stadt durchschlagen. Einmal hatte ein Cousin seiner Mutter den beiden Hilfe angeboten, doch die erst vorsichtig und dann immer unverschämter geforderte Gegenleistung, nein, dazu war seine Mutter nicht bereit gewesen und als Benito später als Heranwachsender davon erfuhr, da brach er alle Beziehungen zu dieser Familie ab; doch diese hatte sich sowieso kaum noch um die armen Verwandten gekümmert. Aber Benito glitt nie in das Straßenkindermilieu ab, die Liebe seiner verzweifelt schuftenden Mutter, die Erinnerung an den Vater und an seinen Stolz – auch trug er schließlich den Namen des großen Mannes, der Mexiko seine Würde gegeben hatte – hielten den Heranwachsenden aufrecht, ließen ihn nicht vollends ins Elend und die Kriminalität abstürzen.

Doch dann hatte Benito beschlossen, eine richtig bezahlte Arbeit zu finden, koste es, was es wolle. Er will, er muss seiner Mutter zu einem besseren Leben verhelfen, schließlich ist er bereits achtzehn Jahre alt, kräftig und gesund. Sein Vater hatte es auch nur durch eigene Kraft geschafft; die Mutter hatte ihm früher oft davon erzählt. Und jetzt ist es seine von Gott gewollte Aufgabe, seinem Vater nachzueifern, seine Mutter endlich aus dem Elend zu erlösen, ihr Weinen zu beenden. Er zieht ein sauberes T-Shirt, frisch gewaschene Jeans an, ist auf dem Weg in den Stadtteil, in dem die großen ausländischen Firmen ihre Niederlassungen haben. Er hat sich genau überlegt, was er sagen, wie er es anfassen wird – es muss gelingen. Er betet zu seinem Gott, hat mit dem Priester vorher darüber gesprochen, der ihm zugesagt hat, dass der Allmächtige ihn nicht fallen lassen würde, wenn er es nur mit Vertrauen in die Güte Gottes und mit Fleiß und unerschrocken beginnen würde. Das hatte der Pater gesagt und er hatte mild dazu gelächelt, so wie sich Benito als Kind die Güte Gottes vorgestellt hatte.

Doch genutzt hatte es alles nichts. Was helfen die schönsten und wohl überlegtesten Formulierungen, wenn sie keiner hören, wenn kein Zuständiger das saubere T-Shirt, die gewaschenen Jeans sehen will. Bereits an den Pforten hatten ihn die Wächter und Pförtner abgewiesen; nur einer hat einmal nach einer Empfehlung gefragt, doch wo sollte er die her nehmen? Aber er hat sich nicht klein kriegen lassen, ist weiter gegangen, von Firma zu Firma, hat gebetet und Kerzen für den Altar versprochen, doch: keine Ausbildung, keine Empfehlung, keine Beziehung – kein Geld um Hilfe zu erkaufen! „Probier es bei den Gringos jenseits des Zauns!“ hat ihm einer höhnisch geraten – oder war es doch gut gemeint gewesen? Er denkt an die Mutter, die dann ganz allein ist – und versucht es weiter. Aber jetzt ist er am Ende, ist ohne Hoffnung, geht ziellos durch die Straßen, nähert sich automatisch wieder dem Slum, in dem er und die Mutter hausen, der Baracke, in der sie leben, ohne dass sie ihnen zu Hause, Heimat ist.