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Günter Huth
Der Schoppenfetzer
und das Riesling-Attentat
Günter Huth wurde 1949 in Würzburg geboren und lebt seitdem in seiner Geburtsstadt. Er kann sich nicht vorstellen, in einer anderen Stadt zu leben. Von Beruf ist er Rechtspfleger (Fachjurist). Günter Huth ist verheiratet und hat drei Kinder. Seit 1975 schreibt er in erster Linie Kinder- und Jugendbücher sowie Sachbücher aus dem Hunde- und Jagdbereich. Außerdem veröffentlichte er zahlreiche Kurzerzählungen. In den letzten Jahren hat sich Günter Huth vermehrt dem Genre »Krimi« zugewandt und bereits einige Kriminalerzählungen veröffentlicht. 2003 kam ihm die Idee für einen Würzburgkrimi. Der Autor ist Mitglied der Kriminalschriftstellervereinigung Das Syndikat.
Die Handlung und die handelnden Personen dieses Romans sind frei erfunden. Jede Ähnlichkeit mit toten oder lebenden Personen oder Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens ist nicht beabsichtigt und rein zufällig.
Günter Huth
Der Schoppenfetzer und das Riesling-Attentat
Der vierte Fall des Würzburger
Weingenießers Erich Rottmann
Buchverlag
Peter Hellmund
im Echter Verlag
DIE MÄRZNACHT DES JAHRES 1945 war für die Jahreszeit zu kalt und extrem finster. Es war Neumond. Der Erdtrabant hatte sich in die Lichtlosigkeit des Erdschattens zurückgezogen. Die konsequente Verdunkelung der Häuser tat ein übriges, so dass es in den Straßen der Stadt schwarz war wie in einem Sack.
Ein dunkel gekleideter junger Mann verließ das Haus in der Kärrnergasse, sah sich kurz um, dann wandte er sich in Richtung Domstraße. Er hielt ein möglichst unauffälliges Tempo bei. Vorsichtig blickte er immer wieder zurück, um sich zu vergewissern, dass er nicht verfolgt wurde. Im gleichen Maße wie sich die Situation in Deutschland immer mehr verschlechterte und auch beim harten Kern der Würzburger Nazis hie und da Zweifel am Endsieg aufkamen, wurde die Gestapo immer nervöser. Auch wenn vieles kurz vor dem Zusammenbruch stand – das Spitzelsystem funktionierte noch immer bestens. Jeden Tag wurden Menschen denunziert, verhaftet, gefoltert und getötet.
Es war der zweite Versuch eines Attentats, den seine Gruppe unternahm. Der erste Anschlag war kläglich gescheitert. Die Kugel aus einem schallgedämpften Kleinkalibergewehr hatte ihr Ziel nur knapp verfehlt und war, ohne Schaden anzurichten, irgendwo im Hinterland auf einem Acker zu Boden gefallen. Zum Glück hatte niemand die Aktion bemerkt. Der Attentäter, ein ausgebildeter Scharfschütze, war beinahe an sich selbst verzweifelt. Niemand konnte verstehen, warum das Geschoss sein Ziel verfehlt hatte.
Trotz dieses misslungenen Anschlags war es seiner Gruppe gelungen, weiterhin von der Gestapo unerkannt zu bleiben. Dies lag hauptsächlich daran, dass einer der Mitglieder im Sekretariat der Geheimen Staatspolizei arbeitete und ihnen, unter Gefährdung seines Lebens, wichtige Informationen zukommen ließ.
Heute war er auf dem Weg, um sich das Material für einen zweiten Anlauf zu besorgen. Diesmal musste das Vorhaben unter allen Umständen gelingen. Die Person, dem ihre Bemühungen galten, war ein Verbrecher. Eine Ausgeburt der Hölle, wie sie nur auf dem Nährboden dieser Diktatur gedeihen konnte. Sein Hass auf diesen Menschen war grenzenlos.
Der junge Mann näherte sich dem Seiteneingang des Kiliandoms. Als er der Mauer des wuchtigen Gebäudes näherkam, bemerkte er den schattenhaften Umriss einer menschlichen Gestalt. Er zögerte einen Augenblick, dann fasste er Mut und ging weiter. Seine Hand in der Tasche hatte er zu einer verkrampften Faust geballt. Sollte die Gestapo von ihren Unternehmungen Wind bekommen haben, wäre jetzt der richtige Moment, um zuzuschlagen.
Der Unbekannte löste sich von der Mauer der Kirche und trat einen Schritt vor.
Sie tauschten hastig ein vereinbartes Codewort aus, dann wechselte ein kleines, unscheinbares Päckchen den Besitzer.
So schnell, wie sie sich gefunden hatten, trennten sie sich auch wieder.
Ohne auffällige Hast lief der junge Mann durch die Straßen der Stadt, der das Inferno noch bevorstand.
60 JAHRE SPÄTER
Der Abend war nicht mehr fern. Hans Huhn, der Kellermeister des Staatlichen Hofkellers in Würzburg, führte eine kleine, gut gelaunte Besuchergruppe durch sein unterirdisches Kellerreich. Normalerweise hatte er um diese Zeit längst Feierabend, aber Stadtrat Markus Näher hatte seine Beziehungen zum Chef des Hofkellers spielen lassen und für eine Besuchergruppe von Politikern aus Würzburgs Partnerstadt Dundee um eine Ausnahme gebeten. Huhn hatte selbstverständlich zugesagt. Wenn er Menschen den Frankenwein näherbringen konnte, war ihm die Arbeitszeit egal.
Wie immer hatten die Gäste einen süffigen fränkischen Begrüßungssekt bekommen und waren dann dem Kellermeister durch die historischen Gewölbe des Weinkellers gefolgt. Huhn freute sich, wenn er Menschen von der Architektur dieses Kleinods und der Geschichte des Weins, der hier erzeugt wurde, erzählen konnte.
Die Schatzkammer des Weinguts war ein Höhepunkt des Rundgangs. Es handelte es sich um einen kleinen, gesicherten Raum im Weinkeller, in dem besondere alte Weine, wahre Fürstentröpfchen, aufbewahrt wurden. Mit großem Interesse lauschten die Damen und Herren Kommunalpolitiker den Erklärungen des Kellermeisters, der es sich selbstverständlich nicht nehmen ließ, zu einigen der lagernden Weine die dazugehörenden Histörchen zum Besten zu geben.
Eine Stunde später näherte sich die Gruppe wieder dem Ausgang. Hans Huhn bedankte sich bei den Gästen für ihr Interesse und wünschte ihnen noch einen schönen Aufenthalt in Würzburg. Stadtrat Näher bedankte sich seinerseits beim Kellermeister, dann stiegen die Besucher die breite Steintreppe zum linken Vorhof der Residenz hinauf.
Hans Huhn schloss mit dem altertümlichen, überdimensionalen Schlüssel den Zugang zum Weinkeller von innen. Dann lief er durch die unterirdischen Verbindungswege hinüber zum Verwaltungsgebäude des Staatlichen Hofkellers. Auf seinem Weg löschte er hinter sich das Licht. Er hatte es jetzt eilig, denn zu Hause wartete das Abendessen auf ihn. Die vermeintlich verlassene Welt des Weinkellers lag allerdings nur für kurze Zeit in völliger Dunkelheit. Als die Schritte des Kellermeisters in den Gängen verklungen waren, stach plötzlich der Lichtschein einer kleinen Taschenlampe durch die vom Weinduft geschwängerte Finsternis. Es handelte sich um einen jungen Mann, der sich vorher, unbemerkt von der Gruppe, hinter einem der großen Fässer im Eingangsbereich des Fasskellers versteckt hatte. Er trat nun aus seinem Versteck, orientierte sich kurz und eilte dann geradewegs hinüber zur Schatzkammer. Mit Erleichterung hatte er beim Rundgang vom Kellermeister erfahren, dass die Alarmanlage, die üblicherweise den Flaschenschatz bewachte, im Augenblick wegen eines elektronischen Fehlers außer Betrieb war – ein Umstand, der seinen Plänen unvermutet entgegenkam.
Mit nervösen Bewegungen holte er Gummihandschuhe aus seiner Jackentasche und zog sie über. Das ungeschützte Schloss der kunstgeschmiedeten Eisentür zur Schatzkammer war kein Problem, weil er sich vor einiger Zeit aufgrund seiner guten Verbindungen zu einer der Damen des Hauses einen Nachschlüssel hatte beschaffen können. Die geölte Tür öffnete sich lautlos.
Flink huschte der Lichtkegel über die Flaschen, verharrte kurz hier und dort. Beiläufig holte der Mann währenddessen einen Stoffbeutel aus seiner Jackentasche. Konzentriert las er die Etiketten. Der Bocksbeutel, weswegen er diese riskante Aktion unternommen hatte, stand in einer Glasvitrine.
Der Einbrecher öffnete die Tür, packte die Flasche und steckte sie vorsichtig in den Beutel. Jetzt musste er nur noch zusehen, dass er hier wieder heil herauskam. Nach seinem Plan würde er allerdings eine längere Wartezeit auf sich nehmen müssen.
Er verließ die Schatzkammer und schloss wieder ab. Mit einem kurzen Schwenk der Taschenlampe durch die Gitter der Tür vergewisserte er sich, dass er keine Spuren hinterlassen hatte. Er warf einen Blick auf seine Uhr. Bis am nächsten Morgen der Keller wieder aufgeschlossen wurde, würden annähernd zwölf Stunden vergehen.
Obwohl es zwischen den Fässern recht kühl war, hatte sich auf seiner Stirn ein kalter Schweißfilm gebildet. Er war ein Mensch, der einem Abenteuer durchaus nicht abgeneigt war, aber diese Aktion wurde ihm jetzt doch langsam zuviel. Ihm fehlte die Abgebrühtheit eines Profis, und seine Nerven lagen ziemlich blank.
Er suchte die Toilette, die, wie er wusste, in einem der Seitengänge untergebracht war. Hier konnte er wenigstens ungesehen Licht anmachen und musste nicht in tiefster Dunkelheit ausharren. Der Strahl der Taschenlampe fand den Lichtschalter. Eine Sekunde später blendete ihn die grelle Deckenbeleuchtung. Er drehte den Wasserhahn auf und nahm einen Schluck Wasser. Sein Hals war ziemlich trocken. Anschließend öffnete er eine der Toilettenkabinen und ließ sich auf dem Klodeckel nieder. Nicht gerade bequem, aber besser, als auf dem kalten Fliesenboden zu sitzen.
Vorsichtig holte er den Bocksbeutel aus der Stofftasche und betrachtete das schon leicht verwitterte Etikett: 1937er Würzburger Stein Riesling Spätlese. Oben in der Mitte des Etiketts prangte der Reichsadler.
Während er den eiskalten Hauch der schlimmen Geschichte seiner Stadt spürte, dachte er darüber nach, was ihn, einen anständigen Studenten, dazu bewegt hatte, diesen Wein zu entwenden.
Gunnar van Jochem, der Eventmanager des Staatlichen Hofkellers, letzter Spross des aus dem deutsch-holländischen Grenzgebiet stammenden Handelsgeschlechts der van Jochem-Elten-Gummersbach, schaltete seinen Computer aus und streckte sich. In seinem Job, einem bayerischen Staatsweingut nach außen den Ruf eines fortschrittlich gemanagten Weinvermarktungsunternehmens zu verleihen, ließ es sich leider nicht vermeiden, Überstunden zu machen.
Er suchte auf seinem Schreibtisch nach seinem Terminkalender. Dieser war allerdings nirgendwo zu finden. Van Jochem dachte einen Augenblick nach. Verdammt, bestimmt hatte er den Organizer heute früh liegenlassen, als er im Fasskeller mit einem Verantwortlichen des Bayerischen Rundfunks über eine Veranstaltung im Keller des Weinguts verhandelt hatte. Er seufzte. Jetzt blieb ihm nichts anderes übrig, als noch einmal hinunter in den Weinkeller zu gehen. Er verließ sein Büro und fuhr mit dem Aufzug in die Tiefe des Gebäudes. Eilig durchschritt er den Verbindungsgang.
Wenig später schlugen ihm die Kühle und der vertraute Duft des Weinkellers entgegen. Er schaltete das Licht ein und eilte durch die Gänge. Der Kalender lag tatsächlich auf dem kleinen Tisch am Kopfende des Fasskellers, an dem er mit dem Vertreter des Bayerischen Rundfunks ein Glas Sekt getrunken hatte. Er schnappte sich den Ringordner und machte kehrt.
Als er auf dem Rückweg an den Toiletten vorbeikam, stutzte er. Durch eine der Türritzen erblickte er einen Lichtschimmer. Offenbar hatte jemand vom Personal vergessen, in der Herrentoilette das Licht auszuschalten. Van Jochem öffnete die Tür und ging hinein. Sicherheitshalber sah er in die Kabinen hinein. Es war gelegentlich schon vorgekommen, dass Besucher des Kellers, die bei einer der großzügigen Weinproben zu tief ins Glas geschaut hatten, auf der Toilette eingeschlafen waren.
Ehe sich Van Jochem versah, kam aus einer der Kabinen eine männliche Person gestürmt und stieß ihn heftig gegen die Wand. Van Jochem seinerseits verfügte aber über ausgezeichnete Reflexe. Seine Hand schnellte instinktiv nach vorne und packte den Angreifer am Arm. Als der sich wehrte, fasste Van Jochem nochmals beherzt zu und zwang den Mann in den Schwitzkasten.
Der Angreifer war in seiner Gegenwehr sichtlich gehandicapt, weil er nur eine Hand einsetzte. In der anderen hielt er krampfhaft eine Stofftasche fest. Ein zusätzlicher Vorteil für den Manager. Wenig später gab der Fremde keuchend auf.
Van Jochem war ebenfalls ziemlich atemlos. „Sie bleiben hier und rühren sich nicht von der Stelle!“, stieß er erregt hervor. „Ich werde jetzt die Polizei verständigen.“
Der junge Einbrecher nickte, dann ließ er sich wie ein Häuflein Elend an den Kacheln der Wand herunterrutschen und blieb mit angezogenen Knien sitzen.
Van Jochem verließ die Toilette und schloss die Tür hinter sich ab. Dann eilte er zu einem der im Keller angebrachten Telefone und verständigte die Polizei.
Wie sich später bei der Vernehmung herausstellte, handelte es sich bei dem Straftäter um den sechsundzwanzigjährigen Studenten der Betriebswirtschaft Thorsten Fiedmann, mit festem Wohnsitz in Würzburg. Andere Angaben als die zu seiner Person machte er auf Anraten seines Anwalts nicht.
Es blieb also weiterhin ein Rätsel, warum der bisher unbescholtene junge Mann diesen merkwürdigen Einbruchdiebstahl begangen hatte. Da er einen festen Wohnsitz nachweisen konnte, wurde er nach der Vernehmung wieder auf freien Fuß gesetzt.
Der entwendete Bocksbeutel wurde als Beweisstück sichergestellt und wegen seines Wertes in einem Tresor der Polizeidirektion verwahrt. Kurze Zeit später landete die Anzeige gegen Thorsten Fiedmann nebst Beweis-Bocksbeutel bei der zuständigen Staatsanwaltschaft in Würzburg.
EINIGE MONATE SPÄTER
Die Geräusche der Feier hallten laut von den Wänden des verlassenen Justizgebäudes wider. Sie drangen durch das Treppenhaus bis in den dritten Stock, wo sie allerdings nur noch ganz schwach zu hören waren. Hier existierte nur eine Notbeleuchtung, die den Flur in voneinander abgegrenzte Licht- und Schattenbereiche unterteilte.
Öchsle, der treue Begleiter seines Herrchens, Mischlingsrüde von sonst eher ausgeglichenem Gemüt, wirkte verunsichert. War es der Nachhall der Geräusche, die seine Nägel auf den Steinplatten des Fußbodens erzeugten oder die gespenstisch anmutende Atmosphäre, die das verlassene Gerichtsgebäude vermittelte? Mit eingekniffenem Schwanz, auf Halbmast hängenden Ohren und aufgerichtetem Nackenfell suchte er die Nähe seines Herrchens, der gemächlich wiegenden Schrittes, die Hände auf dem Rücken verschränkt, diesen langen Flur des Justizgebäudes durchmaß.
Erich Rottmann, der pensionierte Leiter der Würzburger Mordkommission, wandelte hier gewissermaßen auf den Spuren seiner beruflichen Vergangenheit. Er wusste nicht mehr, wie häufig er im Laufe seiner zahlreichen Dienstjahre hier im Hause vor dem Schwurgericht als Zeuge der Anklage aufgetreten war. Oft waren es seine Aussagen gewesen, die dafür gesorgt hatten, dass so mancher Mörder den Rest seines Lebens hinter Gittern verbringen musste. Er bedauerte, dass es einigen wenigen, von deren Schuld er überzeugt gewesen war, gelungen war, durch die Maschen des Gesetzes zu schlüpfen. Aber auch als Polizeibeamter hatte er den Grundsatz „in dubio pro reo“, im Zweifel zu Gunsten des Angeklagten, akzeptieren müssen, wenn das auch nicht immer leicht war.
Plötzlich riss ein lauter Knall Erich Rottmann aus seinen
Gedanken. Es hörte sich im ersten Augenblick wie ein Schuss an. Öchsle zuckte zusammen.
„Das reinste Gespensterhaus“, brummelte Rottmann im Selbstgespräch. „Vermutlich war’s nur eine Tür.“
Wobei man die Frage stellen konnte, weswegen die Tür zugeschlagen war. Hier herrschte kein Durchzug.
Neugierig blickte er den Gang entlang. Soweit er erkennen konnte, war der Flur nach beiden Seiten menschenleer.
„Komisch“, murmelte Rottmann. Es war schon interessant, dass er, ein gestandener Kriminaler, der wirklich nicht mehr sagen konnte, wie oft er in seinem Berufsleben lebensbedrohlichen Gefahren ausgesetzt war, sich der eigenartigen Magie einer zuschlagenden Tür nicht ganz entziehen konnte.
Öchsles gesteigerte Wachsamkeit war unübersehbar. Seine Ohren standen auf Habachtstellung, sein leicht nach oben gereckter schwarzer Nasenschwamm bewegte sich im Rhythmus der stoßweise eingesogenen Luft.
Rottmann zuckte mit den Achseln, rückte sich die braune Breitcordhose über dem kräftigen Bauch mittels der Hosenträger zurecht und marschierte weiter den Gang entlang. Dabei holte er seine gestopfte Pfeife aus der Tasche seiner geliebten Lodenjoppe und zündete das Kraut an. Der vertraute Geruch seines Tabaks gab ihm schnell seine Selbstsicherheit zurück.
Während Rottmann in Gedanken versunken über den Flur schlenderte, begann Öchsle erneut zu knurren.
„Ist ja gut, mein Junge“, versuchte Rottmann seinen Vierbeiner zu beruhigen. In diesem Augenblick hörte er Schritte, die ihm entgegenkamen. Wenig später schälte sich aus dem Dämmerlicht des Ganges die Gestalt eines jüngeren Mannes heraus, der sich ihnen eiligen Schrittes näherte. Er trug die Uniform eines Justizwachtmeisters und wies sich so als Mitarbeiter der Justizbehörden aus.
Erich Rottmann kannte den Mann nicht. Das hatte nichts zu sagen. Rottmann war schon seit geraumer Zeit nicht mehr bei Gericht gewesen. Zwischenzeitlich hatte sicher in vielen Bereichen der Justiz ein Personalwechsel stattgefunden. Ein völlig normaler Vorgang.
Der Mann war offenbar ebenso überrascht über die Anwesenheit Rottmanns, wie der Ex-Kommissar über seine. Er musterte Rottmann mit einem Seitenblick und eilte dann mit einem kurzen, grüßenden Nicken vorüber. Der Mann machte einen nervösen Eindruck auf Rottmann.
Der pensionierte Kriminalkommissar wunderte sich ein bisschen darüber, dass ihn der Beamte nicht nach dem Grund fragte, warum er sich hier auf diesem Stockwerk aufhielt. Rottmann zuckte mit den Schultern. Wahrscheinlich war es dem Mann unangenehm, dass Rottmann ihn hier auf dem Flur gesehen hatte – weshalb auch immer. Zumindest dürfte damit die schlagende Tür erklärt sein.
Vor einem der ehemaligen Sitzungssäle blieb Rottmann stehen, zögerte kurz, dann öffnete er langsam die unverschlossene Tür: Die Klinke quietschte leicht.
Der Raum wurde nur von dem Dämmerlicht, das von draußen durch die zahlreichen Fenster hereinkam, dürftig erhellt. Rottmann konnte sehen, dass der Saal weitgehend ausgeräumt war. Nur einige alte Sitzbänke, glatt gewetzt von den durchschwitzten Hosen nervöser Angeklagter, standen etwas verloren im leeren Raum.
Öchsle begann zu knurren.
„Braaav“, besänftigte der Ex-Kommissar seinen Begleiter und streichelte sachte den Kopf des Rüden. „Hier tut dir keiner mehr was. Dieses Haus ist praktisch schon tot.“
Rottmann sprach von der Tatsache, dass das alte Justizgebäude in den letzten Wochen fast vollständig geräumt worden war. Gutachter hatten schon vor geraumer Zeit festgestellt, dass sich die Statik des Hauses in einem äußerst desolaten Zustand befand. Justitia drohte im wahrsten Sinne des Wortes die Decke auf den Kopf zu stürzen.
Wenig später wurde über das Haus, in dessen Wände so viele Urteile gesprochen worden waren, selbst der Urteilsspruch der bayerischen Staatsregierung gefällt: Der historische Bau war völlig zu entkernen und mit einem neuen Skelett aus Wänden und Decken auszustatten.
Die drei Behörden, die das Haus über viele Jahrzehnte beheimatet hatte, waren bereits zum großen Teil in das neue Strafjustizzentrum gezogen, das nur einen Steinwurf weit entfernt anstelle der alten Justizvollzugsanstalt entstanden war. Die verbliebenen Gerichtsabteilungen und deren Bedienstete waren mittlerweile in Zweigstellen über die ganze Stadt verstreut – ein Zustand, der nach der Sanierung des Altbaus wieder rückgängig gemacht werden sollte. Im Gebäude befanden sich noch Reste der Aktenarchive und ein Teil der Richterschaft.
Das bevorstehende Ende des Justizgebäudes erfüllte die Bediensteten mit einer gewissen Trauer. Daher hatte der Präsident des Landgerichts, der Hausherr des Justizgebäudes, dem Vorschlag des Personalrats gern zugestimmt, in den alten Räumen eine Art Abschiedsfeier zu veranstalten.
Was als kleine Feier der Bediensteten gedacht war, entwickelte sich im Laufe der Planung zu einem ausgewachsenen Event, der auch in der Presse Erwähnung fand. So kam es, dass neben den Justizangehörigen auch Persönlichkeiten aus Kommunalpolitik, Rechtsprechung und Polizei eingeladen wurden, die diesem Haus verbunden waren. Auf diese Art und Weise war auch Erich Rottmann zu einer Einladung gekommen.
Man hatte für die Feier das Untergeschoss ausgesucht, um der mangelhaften Statik Rechnung zu tragen.
Der Staatliche Hofkeller, der die Feier mit Wein belieferte, hatte den originellen Vorschlag gemacht, dem ältesten noch lebenden Beamten einen Bocksbeutel mit Frankenwein aus der Zeit seiner Ernennung zu überreichen. Man ermittelte aus den Personalakten des Hauses einen 81-jährigen, noch rüstigen Justizobersekretär, dem die Ehre zuteil werden sollte. Aus Gründen, die bei der Feier nicht angesprochen wurden, war dieses Vorhaben aber dann nicht wie geplant durchgeführt worden – offenbar, weil aus dem Ernennungsjahr des Beamten, 1937, entgegen ursprünglicher Behauptung des Managements kein Jahrgang in den Beständen des Hofkellers zur Verfügung stand.
Der Mann erhielt statt dessen eine Spätlese aus dem Jahr 1950, was seiner Freude keinen Abbruch tat.
Das Knurren des Hundes wurde intensiver und steigerte sich zu einem verhaltenen Bellen. Öchsle starrte dabei in die Dunkelheit des Raumes. Als der pensionierte Polizeikommissar der Blickrichtung seines vierbeinigen Kameraden folgte, nahm er eine Bewegung wahr.
„Ist da jemand?“, fragte er leicht angespannt.
Aus der Dunkelheit löste sich eine kräftige Männergestalt. „Halten Sie bitte den Hund zurück“, sagte der Mann, der nun in den helleren Bereich des Saales trat.
Rottmann zog erstaunt die Augenbrauen in die Höhe. „Herr Bürgermeister, haben Sie sich verlaufen?“
Es handelte sich tatsächlich um den Bürgermeister der Stadt Würzburg, Andreas Farmer, den Rottmann vor einer halben Stunde noch unten auf dem Fest gesehen hatte.
„Nein, ich habe mich nicht verlaufen. Ich bin nur mal von dem lauten Fest weggegangen, weil ich in Ruhe telefonieren wollte.“ Er hielt sein Handy in die Höhe. „Wenn es Ihnen nichts ausmacht, würde ich gerne zu Ende telefonieren … es ist privat.“ Er sah Rottmann bittend an. Rottmann nickte, dann rief er Öchsle, der sich zwischenzeitlich wieder beruhigt hatte, zu sich und verließ den Sitzungssaal.
Ein bisschen verwunderlich war es schon, dass sich der zweithöchste Mann des Stadtparlaments zum Telefonieren in einen dunklen Sitzungssaal im 3. Stock zurückzog.
Rottmann zuckte mit den Schultern. Es war nicht seine Aufgabe, die merkwürdigen Gepflogenheiten von Kommunalpolitikern zu bewerten. Er streichelte Öchsle über den Kopf, dann wanderte er weiter. Irgend etwas, was er bei der Begegnung beiläufig registriert hatte, passte nicht ins Bild. Der Gedanke verflüchtigte sich so schnell, wie er gekommen war.
Das ungleiche Gespann hatte fast das Ende des Flures erreicht, als Öchsle, der die letzen Meter etwas vor seinem Herrchen gelaufen war, abrupt anhielt. Dies geschah so überraschend, dass Rottmann fast über ihn gestolpert wäre. Der Ex-Kommissar wollte gerade einen verwunderten Kommentar abgeben, als er schon wieder das tief aus der Brust kommende Knurren seines Hundes hörte. Was war heute nur los? Diesen Laut ließ Öchsle eigentlich nur in besonders gefährlichen Situationen hören. Der Rüde starrte dabei wie gebannt auf eine der Bürotüren im Flur.
Da sich diese Tür durch nichts von den anderen Türen unterschied, musste der Hund mit seinen feinen Sinnen etwas wahrnehmen, was sich in dem Raum hinter der Türe befand und für Rottmann nicht erkennbar war. Offensichtlich witterte Öchsele eine unsichtbare Gefahr.
Erich Rottmann legte seinem Hund zur Beruhigung die Hand auf den Kopf. Er lauschte. Sein menschliches Gehör vernahm nichts. Bei genauerem Hinsehen schien es ihm allerdings, als würde unter der Tür ein kaum wahrnehmbarer Lichtschimmer hervorscheinen. Rottmann wunderte sich. Konnte es sein, dass um diese Zeit noch jemand arbeitete? Egal. Jedenfalls stimmte hier etwas nicht, sonst hätte sich der Rüde nicht so auffällig verhalten. Entschlossen nahm Rottmann einen tiefen Zug aus der Pfeife, dann ging auf die Tür zu.
Öchsle hielt sich dicht an seinem Herrchen.
Rottmann klopfte an. Als er keine Antwort bekam, drückte er die Klinke herunter. Es war nicht abgeschlossen.
Er musste die Augen zusammenkneifen, um von dem grellen Lichtschein nicht geblendet zu werden.
Bei der Lichtquelle handelte es sich um eine Schreibtischlampe, die auf die Tür gerichtet war.
Als sich seine Augen ein wenig an das Licht gewöhnt hatten, bemerkte er den Mann, der in einem Sessel am Schreibtisch saß. Seine Körperhaltung war ein wenig ungewöhnlich. Der Kopf lag auf der Schreibunterlage, die Hände hingen beidseitig schlaff herunter. Das Gesicht war abgewandt.
Rottmann zögerte. Der Raum war noch weitgehend eingerichtet. In der Ecke standen allerdings schon einige Umzugskartons, die davon zeugten, dass auch dieses Zimmer bald geräumt werden würde.
Der anspruchsvolleren Ausstattung nach handelte es sich um das Zimmer eines Richters oder Staatsanwalts.
Es sah so aus, als wäre der Mann hinter dem Schreibtisch eingeschlafen.
Der Kommissar wollte sich gerade wieder diskret zurückziehen, als Öchsle, der ihm gefolgt war und von Rottmann unbemerkt an den Beinen des Schlafenden schnüffelte, ein kurzes Blaffen hören ließ.
„Komm, lass gut sein“, rief Rottmann seinen Hund flüsternd zur Ordnung. Es wäre ihm peinlich gewesen, wenn der Besitzer des Büros durch ihn aufgeweckt worden wäre. Schließlich war er ein Eindringling und hatte hier nichts zu suchen.
Er wandte sich in Richtung Tür. Öchsle war damit aber gar nicht einverstanden. Wieder gab er das halblaute Bellen von sich, diesmal fordernder. Auffordernd sah er sein Herrchen an.
Seufzend machte Rottmann ein paar Schritte um den Schreibtisch herum, um seinen Vierbeiner am Halsband hinauszubefördern. Manchmal konnte die Dickköpfigkeit des Burschen ganz schön lästig sein.
Durch diese Handlung veränderte sich zwangsweise sein Blickwinkel auf den Kopf des Sitzenden, und er konnte ihm ins Gesicht sehen.
Der Schrecken verschlug ihm für einen Augenblick den Atem. Der Mann schlief keineswegs! Seine weit geöffneten Augen starrten auf den Fuß der Schreibtischlampe. Seine regungslose Miene war leicht verzerrt, sein Mund halb geöffnet.
Für Erich Rottmann gab es keinen Zweifel. Er hatte in seinem Berufsleben schon zahllose tote Menschen gesehen – und der Mann dort war tot, eindeutig! Trotzdem tastete Rottmann vorsichtig nach der Halsschlagader des Vornübergesunkenen. Wie erwartet, war der Puls nicht zu fühlen. Die Haut des Mannes war allerdings noch warm. Lange konnte der Tod noch nicht eingetreten sein.
Trotz der Veränderungen im Gesicht des Mannes, hervorgerufen durch den Tod, und der ungünstigen Lage konnte Rottmann ihn erkennen. Er war bestürzt. Es gab keinen Zweifel: Es handelte sich um den Stadtrat und Rechtsanwalt Dr. Alexander Scharpf. Noch vor einer guten Stunde hatte er den Mann unten bei der Feier gesehen. Putzmunter und bester Laune. Mit leichter Schlagseite, wenn er sich recht erinnerte. Nicht verwunderlich, denn der ausgeschenkte Schoppen war ausgezeichnet. Viele Gäste teilten diese weinselige Stimmung.
Angesichts des Todes bewegten Erich Rottmann beim Anblick des Mannes widerstreitende Gefühle.
Er konnte Dr. Scharpf eigentlich nicht leiden. Der Grund lag allerdings schon lange zurück. Der Rechtsanwalt hatte vor vielen Jahren einen Mandanten vertreten, gegen den Rottmann, damals noch Kommissar im Betrugsdezernat, wegen umfangreicher Straftaten ermittelte. Dieser Mandant hatte eine ganze Reihe von Menschen mittels eines Schneeballsystems um ihr Geld gebracht. Rechtsanwalt Dr. Scharpf hatte damals mit äußerst harten Bandagen gegen Rottmann gekämpft. Das war soweit gegangen, dass er seine berufliche Integrität angezweifelt und gegen Rottmann einen richtigen Feldzug in den Medien geführt hatte. Wenn er nicht loyale Vorgesetzte gehabt hätte, die ihm den Rücken stärkten, hätte ihm dies seine berufliche Existenz kosten können. Das hatte Erich Rottmann dem Mann nie verziehen. Aber jetzt war er tot. Der Sensenmann hatte einen Schlussstrich gezogen.
Diese Gedanken schossen Erich Rottmann blitzartig durch den Kopf, während er den Mann untersuchte.
Schnell gewann jedoch seine Professionalität die Oberhand, und er überlegte nüchtern. Was hatte der Mann in diesem Zimmer zu suchen, und wessen Büro war das eigentlich?
Während er sich aus seiner gebeugten Haltung wieder aufrichtete, glitt sein Blick über die Schreibtischplatte. Dort stand ein kleines Weinglas mit etwas Restflüssigkeit. Es handelte sich um ein Glas, wie es üblicherweise bei Weinproben Verwendung fand. Daneben lag, Rottmann traute seinen Augen kaum, eine Einwegspritze! Der Kolben der Spritze war heruntergedrückt.
Der pensionierte Kriminalbeamte zog verwundert die Augenbrauen in die Höhe. In seinem Kopf wirbelten die Gedanken. Was bisher nach einem natürlichen Tod ausgesehen hatte, bekam mit einem Male ein ganz anderes Gesicht. Was hatte das alles zu bedeuten? Schließlich befand er sich hier nicht in einer billigen Absteige für Junkies, sondern in einem
Dienstzimmer im Justizgebäude! Unwillkürlich schoss ihm das Wort „Skandal“ durch den Kopf.
Was sollte er tun? Normalerweise wären jetzt der Notarzt und die Polizei zu verständigen gewesen. Der Arzt hätte sicher ungeklärte Todesumstände festgestellt, und die Polizei würde dann ihre Ermittlungen aufnehmen.
Das wäre das übliche Prozedere gewesen. Aber das hier war weder ein typischer Fall, noch ein gewöhnlicher Ort.
Rottmann konnte sich lebhaft ausmalen, was es für einen Wirbel unter den Gästen der Feier auslösen würde, wenn plötzlich die Mordkommission angerückt käme. Speziell für die ebenfalls anwesenden Pressevertreter wäre dies ein gefundenes Fressen. Gewissermaßen ein unerwartetes „Dessert“ nach den auf der Feier genossenen Schnittchen.
Ihm war klar, dass das hier ein Tatort war. Trotzdem war es wegen dieses besonderen Ortes erforderlich, zunächst den Hausherrn, den Präsidenten des Landgerichts, zu verständigen. Scharpf war sowieso nicht mehr zu helfen.