Platon und die Grundfragen der Philosophie

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3. Das Sich-Wundern (thaumazein) als Ausgangserlebnis der Philosophie

Wahrnehmen, Lernen, Nachdenken, sich ein Problem oder eine Schwierigkeit vornehmen, sich angestrengt mit etwas auseinandersetzen: All das führt zu Wissen und Erkenntnis. Doch mit jedem Ergebnis, das wir dadurch gewinnen, ist oftmals eine sonderbare Erfahrung verknüpft. Wir ersinnen neue Argumente und Begründungen für unsere Meinungen, mahnen Beobachtungen an, verbinden unser Wissen mit anderem Wissen. Und doch: Wir zweifeln daran, wir wollen das scheinbar Gewisse genauer begründen, wir suchen danach, noch genauer zu wissen; und wir wundern uns, dass die bisherige Mühe noch nicht wirklich gefruchtet hat. Unser Anspruch nach vollkommener Wahrheit und absoluter Absicherung dessen, was wir zu wissen meinen, lässt sich nicht einfach aussetzen. Unser Erkenntnisdrang geht meist über das hinaus, was wir überhaupt wissen können. Erst dadurch, dass wir immer weiter fragen, machen wir aber die Erfahrung, dass es ein totales, allumfassendes Wissen nicht geben kann.

3.1 Urteile über das Wahrnehmen und das Erkennen (Theaitetos 151d–155d)

Sokrates hat sich entschlossen, Theaitet bei seiner „Geburt“ zu helfen. Seine ursprüngliche Frage war, was denn Erkenntnis sei. Diese Frage stellt er dem Theaitet aufs Neue und ermuntert ihn, doch eine Antwort zu geben, auch wenn er sich nicht ganz sicher ist. Erkenntnis, so versucht sich Theaitet, ist das, was einer erkennt, letztlich also wohl Wahrnehmung.

Nicht schlecht! meint Sokrates. Da gebe es einen berühmten Sophisten, Protagoras mit Namen, der meint wohl ungefähr dasselbe, auch wenn er es etwas anders ausdrückt. „Er sagt nämlich, der Mensch sei das Maß aller Dinge, der seienden, daß sie sind, der nichtseienden, daß sie nicht sind“ (Theaitetos 152a).17 Theaitet erinnert sich, das auch schon öfter gehört zu haben.

Die Dinge seien also so beschaffen, wie einer sie gerade wahrnimmt. Dem einen erscheinen sie aber so, dem anderen anders. Theaitet stimmt zu. Wenn zwei Menschen im Wind stehen, sagt Sokrates, wird es den einen wohl ziemlich frieren, den anderen aber vielleicht nicht oder nur wenig. Ist jetzt aber der Wind kalt oder erscheint er dem einen nur als kalt, dem anderen aber nicht? Und dass es einem so und so erscheint, liegt entsprechend wohl auch an der Wahrnehmung? Wie jemand also etwas wahrnimmt, so scheint es für ihn auch zu sein. Und weil sich Wahrnehmung immer auf etwas bezieht, das auch da sein muss, so ist sie auch Erkenntnis. Das leuchtet Theaitet alles ein.

Der Wind allein ist für sich genommen gar nichts. Es kommt allein darauf an, wie er einem erscheint, dem einen eisig, dem anderen nicht so kalt. Das scheint wiederum auch überall zu gelten: Nichts ist für sich groß oder klein, schwer oder leicht usf. Alles, was mir heute groß erscheint, kann ich morgen schon für klein ansehen.

So gibt es hier also gar nichts Festes, sondern alles scheint irgendwie in Bewegung zu sein. Offenbar ist das Werden das oberste Prinzip von allem, weil es die Bewegung, an der alles hängt, verursacht. Bewegt sich aber etwas nicht mehr, so scheint es nicht mehr das zu sein, was es zuvor war, als es sich noch bewegte. So entsteht Feuer und Wärme auch mittels Bewegung, nämlich durch Reibung, aber auch das Leben entsteht durch Bewegung. Der Körper wird durch Ruhe und Trägheit geschwächt, durch Bewegung und Leibesübungen aber gestärkt. Auch der Geist, wenn er beschäftigt wird, schärft sich, Gedankenlosigkeit aber ermüdet ihn, so dass er auch das Gelernte vergisst.

Nichts also existiert, es sei denn, es ist irgendwie bewegt und verändert sich dadurch. Die Bewegung ist also immer das Gute, sowohl für den Körper wie für den Geist, die Ruhe aber das Gegenteil davon. Gleiches gilt auch für die Natur, vor allem für die Sonne. Auch diese muss immer in Bewegung sein.

Was, fragt Sokrates, ist aber z. B. eine Farbe, was ist das, was wir weiß oder schwarz nennen? Es kann ja nach dem vorher Gesagten nichts für sich sein. Es muss also irgendetwas sein, das beim Zusammenstoßen der Augen mit der zu diesen gehörigen Bewegung entsteht, denn auch uns erscheinen die Farben nicht nur untereinander wohl anders, sondern jedem einzelnen selbst einmal so, einmal verschieden von diesem Eindruck. Wie kann es aber sein, meint Sokrates, dass wir einmal etwas so und das Gleiche wieder anders wahrnehmen, wenn es sich nicht verändert? Wenn ihm selbst nichts widerfährt, kann es sich im Grunde auch nicht ändern. Was ändert sich aber nun genau? Verändert sich das, wodurch wir etwas messen, berühren oder wahrnehmen? Wie müssen wir uns das genau vorstellen? Und wie verhält sich das mit dem Gemessenen, mit dem Berührten oder mit dem Wahrgenommenen? Welcher Vorgang findet hierbei statt? Wie geschieht es wiederum, dass wir messen, berühren, wahrnehmen?

Ein anderes Beispiel für diese Probleme haben wir z. B. bei Zahlenverhältnissen. Nehmen wir an, wir haben sechs Bohnen vor uns, das sind doch, vergleichen wir sie mit vier Bohnen, die Hälfte mehr; dagegen, wenn wir diese mit zwölf Bohnen vergleicht, sind es nur die Hälfte der Bohnen. Die Anzahl der Bohnen, sechs, hat sich nicht geändert! Einmal aber mussten wir sie als „die Hälfte mehr“ ein andermal als „nur die Hälfte“ bezeichnen. Kann also etwas mehr oder weniger werden, ohne dass es zugenommen oder abgenommen, und ohne, dass es sich geändert hat?

Nachdem, was gerade angenommen wurde, nämlich, dass wir nichts anders wahrnehmen können, es sei denn, es hat sich geändert, kann das offensichtlich nicht der Fall sein. Dass es sich so verhält, müssen wir auf der anderen Seite allerdings annehmen. Wir können freilich beides behaupten, so dass die Zunge nicht widerlegt wird, aber unser Denken mit sich selbst im Unreinen ist, weil wir doch wissen wollen, was wir annehmen sollen. Am besten ist es, man fängt noch einmal von vorne an, das sei doch alles zu verwirrend gewesen, meint Sokrates.

Wir gehen also erstens davon aus, dass sich nichts verändert, weder der Masse noch der Zahl nach, wenn es sich in dieser Hinsicht gleich bleibt. Zweitens gilt: Wenn man zu etwas nichts hinzutun oder wegnehmen würde, würde es weder wachsen noch schwinden. Und drittens glauben wir auch Folgendes: Was nicht war, kann auch nicht sein, ohne geworden zu sein. Das müssen wir alles beachten, wenn wir nicht durcheinanderkommen wollen über die Bohnen und ihre Zahl.

Aber es gibt noch andere Beispiele: Sokrates, der heute größer ist als Theaitet, wird vielleicht nächstes Jahr schon kleiner sein als dieser, ohne dass er doch etwas von seiner Masse oder Größe eingebüßt hätte und nie kleiner geworden wäre. Theaitet ist der Jüngere und wächst noch. Dass dieser dann größer geworden ist, ist ganz natürlich, er hat sich ja verändert und an Größe zugenommen. Sokrates aber verändert sich nicht mehr und dennoch kann man behaupten, Sokrates ist kleiner geworden im Verhältnis zu Theaitet.

Jetzt kennt sich Theaitet, dem es wie in der Mathematik um eine einheitliche Fassung der Begriffe geht, nicht mehr aus. Er sagt: „Wahrlich, bei den Göttern, Sokrates, ich wundere mich ungemein, wie doch dieses wohl möglich sein mag; ja bisweilen, wenn ich recht hinsehe, schwindelt mir ordentlich.“ Ja, sagt Sokrates, Theodoros – das ist der Mathematiklehrer von Theaitet und der Freund von Sokrates – habe eben ganz recht über Theaitet geurteilt, dass dieser ein echter Philosoph, ein wahrer Freund der Weisheit (philos – Freund; sophos – Weisheit; vgl. auch Phaidros 278d) sei. Es gibt nämlich nur einen Ursprung der Philosophie und dieser sei „das Sich-Wundern“, das thaumazein.

3.2 Die Frage nach der Erkenntnis

Wir haben Grund, uns ebenso zu wundern. Die Frage nach der Erkenntnis ist eine der wichtigsten Fragen in der Philosophie, und beiden Gesprächspartner waren mitten in einer Diskussion, die erwarten ließ, dass wir etwas darüber erfahren. Dann bringt Sokrates in einer recht sophistischen Art ein Argument über Werden und Sein der Dinge vor, um darauf hin über seine Relationsbegriffe eine so enorme Verwirrung zu stiften. Die Sache mit den Bohnen und der Größe von Sokrates im Vergleich zu Theaitet ist uns doch vertraut und eindeutig.

Die Bestimmung von Wissen und die von Erkenntnis sind zentral für Platons gesamtes Philosophieren. In seinen früheren Schriften geht es darum, wie wir das Gute erkennen und die Tugenden bestimmen können, und wie die Handlungen aussehen, welche wir als gut bezeichnen. Später hat er noch sehr viel grundsätzlicher nach diesen Gegenständen gefragt. Aus der Frage nach den Möglichkeiten, zu erkennen und begrifflich zu bestimmen, was die Tugend, das Gute oder eine gute Handlung jeweils ist, ergibt sich die allgemeine Frage danach, was Erkenntnis sei:

Der Sinn dieser zunächst ganz einfachen Frage erweitert sich sehr schnell. Die einfachste Antwort darauf hat nämlich nur autoritatives Wissen zur Folge: Wenn ich wissen will, wie oder was etwas ist, dann frage ich jemanden, der sich damit auskennt, oder ich sehe in einem Lexikon nach. Ich erhalte damit einen Wissensinhalt, dessen Wahrheitsgehalt vom Vertrauen in die Quelle abhängt. Wenn mich jemand dasselbe fragt, kann ich den gleichen Inhalt wiedergeben, ich werde aber auf eine Nachfrage, warum das so ist, keine Antwort geben können, denn mein Wissen beschränkt sich auf das, was ich gehört oder gelesen habe und was ich glaube. Das würden wir aber nicht als Erkenntnis oder Kenntnis des Sachverhalts ansehen.

Es geht darum, Wissensinhalte irgendwie zu sichern. Autoritätsabhängiges Wissen beruht jedoch nicht auf Einsicht in die Sache. Wenn wir nun die Bedingungen angeben wollen, um einen beliebigen Wissensinhalt als tatsächlichen auszuweisen, stellen sich sofort neue Fragen: Auf was beziehen sich Wissensinhalte? Sind das nicht ganz unterschiedliche Bezugsmomente? Die Frage nach der Farbe ist eine andere, wie die nach der relativen Größe, und die wieder eine andere als die nach den Zahlenverhältnissen. Platon konfrontiert uns aber gleichzeitig mit noch weiteren Problemen: Was meinen wir, wenn wir sagen: Etwas ist so! Bezieht sich das auf einen Sachverhalt? Nämlich auf einen, von dem wir sagen würden: Dieser besteht tatsächlich oder bezieht sich auf die Wirklichkeit? Oder geht es nur um das sprachlich ausgedrückte Urteil und die aufgeführten Gründe, welche zu diesem Urteil führen?

 

In einem ersten Versuch zur Klärung der Frage nach der Erkenntnis, hatte Theaitet einige Fertigkeiten aufgezählt: Wenn einer Schuhe machen kann, muss er erkannt haben, was ein Schuh ist, und wie man einen solchen macht. Sokrates wendet dagegen ein: Mit seiner Erklärung von Erkenntnis habe Theaitet vieles aufgezählt: „Gar offen und freigebig, Lieber, gibst du mir, um eines gefragt, vielerlei und Mannigfaltiges statt des Einfachen“ (Theaitetos 146d). Theaitet scheint das so zu verstehen, dass Erkenntnis etwas zusammenbringt, was vorher nur nebeneinander und jeweils für sich verständlich war. Er bringt ein Beispiel von Theodoros, mit dem er sich über Quadratwurzeln unterhalten hatte: Wenn man die Zahlen, aus denen sich ein Produkt zusammensetzt auf eine Linie überträgt und diese im Neunziggradwinkel anordnet, erhält man entweder Rechtecke oder Quadrate. Die Zahlen, welche (gleichseitige) Quadrate ergeben, lassen auch ein ganzzahliges Ergebnis zu, wenn man die Quadratwurzel aus dem Produkt zieht. Die Zahlen aber, welche Rechtecke ergeben, erlauben das nicht. Das arithmetische Problem erhält mit dieser Erklärung eine anschauliche, weil geometrische Lösung. Theaitet hat damit etwas erkannt, aber das, was er erkannt hat, ist wieder nicht die Antwort auf die Frage, was Erkenntnis ist. In Theaitetos 152de, nach der Erklärung mit der Bewegung, dreht Sokrates den Spieß gewissermaßen um:

„Ich will es dir sagen, und es ist gar keine schlechte Rede, daß nämlich ein Eins selbst für sich selbst gar nichts ist und daß du nicht ein Etwas richtig mit einem Namen oder als wiebeschafften bezeichnen kannst, vielmehr, wenn du etwas groß nennst, wird es sich auch klein zeigen, und wenn schwer, auch leicht und so gleicherweise in allem, weil eben nichts ein Eins ist, sei es nun als etwas oder als irgendwie beschaffen; sondern durch Bewegung und Veränderung und Vermischung unter einander wird alles nur, wovon wir sagen, daß es ist, es nicht richtig bezeichnend; denn niemals ist eigentlich irgend etwas, sondern immer nur wird es.“

Nachdem Sokrates also zunächst nach dem „Einen“ der Erkenntnis gefragt hat, behauptet er nun gewissermaßen, dass Erkenntnis für sich nichts sein kann, sondern erst „werden“ muss. Wenn wir das so formulieren, verstehen wir die Frage etwas besser. Platon dynamisiert mit seiner Interpretation vom Werden die Frage. Auf der einen Seite steht die Erkenntnis als begriffener Sachinhalt, auf der anderen Seite steht das Werden von Erkenntnis. Dort die Wahrnehmung als Bezug auf etwas Bestimmtes in der Welt, hier das Wahrnehmen selbst, das ein Vorgang ist.

Die wichtigste Frage aber lautet: Wie sichere ich die Erkenntnis als eine wahre Erkenntnis? Es wird später im Dialog Theaitetos noch um die Frage gehen, auf welche Weise Erkenntnis von einer Meinung unterschieden werden kann. Dabei benötige ich einen Bezugspunkt, der bei der Erkenntnis in der Begründung liegt. Beim Wahrnehmen dagegen fragen wir einfach nach dem Sachverhalt, und ob er in der Wirklichkeit besteht, d. h. ob er wahr ist. Dieser Bezugspunkt der Erkenntnis ist schon in der Antike unterschiedlich bestimmt worden. Parmenides vertrat die Ansicht, alles bezieht sich auf das eine und unwandelbare „Sein“. Platon spielt an unserer Textstelle mit diesen unterschiedlichen Bezugspunkten von Erkenntnis, die sich einmal als Vorgang, als Erkennen, das andere Mal auf den Inhalt, die Erkenntnis und den Wissensinhalt richtet. Hinzu kommt, dass wir das Wissen auf etwas Bestimmtes beziehen. Und zudem fragen wir nach dem Grund oder der Begründung dieses Wissens. Das Verstehen, das Einsehen, die Einsicht und das Wissen bringen aber offenbar etwas zusammen, was in dieser Kombination vorher noch nicht vorhanden war.

Der Mathematikschüler Theaitet wird von Platon gewissermaßen als philosophisch Fortgeschrittener gezeichnet, nicht weil er im Metier des Sokrates besonders sicher ist, sondern weil er bestrebt ist, einen Sachverhalt unbedingt auf den Begriff zu bringen (vgl. Theaitetos 148d). Theaitet ist das Verfahren durch seine Auseinandersetzung mit der Mathematik bereits geläufig. Seine philosophische Unbeholfenheit drückt sich dagegen dadurch aus, dass er mit einer geometrischen Anschauung operiert; allerdings merkt er dabei sofort, dass der Vergleich bei einer begrifflichen Bestimmung der Erkenntnis nicht die ganze Wahrheit aufzeigt. Gleichzeitig lässt Platon seinen Sokrates ein – freilich leicht durchschaubares – sophistisches Verwirrspiel anzetteln. Sokrates hatte doch die Frage danach gestellt, was Erkenntnis ist, um gleich darauf auszuführen, dass es so etwas gar nicht geben kann, weil nichts ist, sondern alles wird. Die Frage auf diese Antwort lautet: Wie erlangen wir Erkenntnis? Diese Frage kann ich aber offensichtlich nicht beantworten, wenn ich nicht weiß, was das ist: Erkenntnis. Die Antwort bleibt uns Platon an dieser Stelle noch schuldig, denn die Definition: Erkenntnis ist Bewegung! würde uns nicht viel weiterhelfen; zudem ist sie in sich „statisch“: Sie drückt einen Zustand aus, gesucht aber war ein Vorgang, ein Prozess.18

In dem Gespräch mit Theaitet hatte Sokrates noch vor seiner Geschichte mit der Hebammenkunst schon einmal gefragt, was Erkenntnis sei. Für Theaitet bestand Erkenntnis dabei noch in jeder Art von Wissen, umfasste also auch das Wissen davon, wie man Schuhe verfertigt oder Möbelstücke usf. Das sind allerdings ganz unterschiedliche Dinge, denn die Frage nach der Erkenntnis will auf eine Bestimmung hinaus, was allen diesen Künsten und Fertigkeiten gemeinsam ist. Ganz ähnlich stellte sich das dar, als Theaitet sein mathematisches Beispiel mit den Quadratwurzeln vorbrachte, bei dem er ein ähnliches Problem hatte, alles auf Eines zurückzuführen, das die Sache näher bestimmt. Insofern ist das mit den Bohnen und der Körpergröße zwar doch ein Problem, aber keines worüber sich Theaitet unendlich wundern müsste. Das Ganze scheint für Platon also eine Spielerei gewesen zu sein, die er sich leistete, um die Sache mit dem thaumazein als Ursprung der Philosophie einzuführen. Zudem nutzt er die Gelegenheit, bereits einige Grundprobleme und methodische Herangehensweisen anzusprechen.

Wäre das nicht weiter motiviert, wäre Platon nicht Platon. Dass diese im ersten Moment etwas hanebüchene Konstruktion zur Grundlage des philosophischen Ursprungs im Wundern geformt wird, ist dann mindestens auffällig. Das Problem mit den Bohnen wird erst zu einer echten Schwierigkeit, wenn man tatsächlich nach einer einheitlichen Bestimmung von etwas fragt. Theaitet, der sich aufs Äußerste bemüht, Sokrates in seiner Argumentation zu folgen, geht, nachdem er es einmal begriffen hat, von dieser Frage nach einer einheitlichen Definition auch aus. Letztlich wundert er sich, weil es sich um einen ganz einfachen Zusammenhang handelt.

3.3 Das thaumazein als Ursprung der Philosophie

Um das thaumazein richtig einzuordnen, fehlt uns noch ein kleiner Aspekt: Wir müssen das Erkennen wollen. Kurz nach dem Beispiel mit den Quadratwurzeln und vor der Stelle mit der Hebammenkunst ist Theaitet schon einmal recht verwirrt. Sokrates bestätigt ihm, dass die Frage nach der Erkenntnis durchaus eine schwierige Frage ist. Er fordert ihn daraufhin auf, in seinem Bemühen nicht nachzulassen: „Bestrebe dich aber, wie von anderen Dingen, so besonders von der Erkenntnis die Erklärung zu finden, was sie eigentlich ist.“ Und Theaitet antwortet: „Sofern es nur am Bestreben liegt, soll sie wohl ans Licht kommen“ (Theaitetos 148d).

Das ist gar keine so einfache Voraussetzung, vor allem, wenn es um schwierige Fragen geht. Das Sich-Wundern stellt sich nämlich gar nicht unbedingt ein, nämlich dann nicht, wenn mich die Sache, welche ich gerade nicht verstehe, nicht weiter interessiert. Ich muss also ein Interesse daran haben, etwas zu verstehen, was ich im Moment noch nicht verstehe. Erst dann werde ich mich wundern. Theaitet ist vollkommen überzeugt davon, dass ihn die Sache mit der Erkenntnis als solche interessiert. Er hat gehört, dass Sokrates sich mit solchen Fragen beschäftigt und außerdem hält er etwas davon, wie Sokrates mit solchen Fragen umgeht, vielleicht weil dieser ein Freund des Theodoros, seines Mathematiklehrers, ist.

Theaitet ist also nicht nur der Überzeugung, dass Sokrates ihm erklären kann, was Erkenntnis ist, er folgt ihm auch auf dem Weg zu dieser (vgl. Theaitetos 146c), und das, obwohl Sokrates die Grundfrage erweitert und ihn zuweilen in eine ergebnislose Richtung führt. Platon ist es besonders wichtig, dass wir selbst die Fragen, die er uns stellt, untersuchen und lösen wollen, dass wir uns nicht mit einfachen Antworten zufrieden geben („Erkenntnis ist dies und jenes“), sondern der Sache auf den Grund gehen wollen. Genau das sichert Theaitet dem Sokrates zu. Als Sokrates ihn dann mit seinen Spitzfindigkeiten verwirrt, wundert er sich, und steht nach Platons Ansicht damit am Anfang der Philosophie.

Um in dieser Frage weiterzukommen, müssen wir ein wenig über Platon hinausgehen. Auch Aristoteles schreibt, dass der Ursprung der Philosophie im Wundern liegt:

„Denn Verwunderung war den Menschen jetzt wie vormals der Anfang des Philosophierens, indem sie sich anfangs über das nächstliegende Unerklärte verwunderten, dann allmählich fortschritten und auch über Größeres Fragen aufwarfen, z. B. über die Erscheinungen an dem Mond und der Sonne und den Gestirnen und über die Entstehung des Alls. Wer sich aber über eine Sache fragt und sich wundert, der glaubt sie nicht zu kennen“ (Aristoteles Metaphysik A,2, 982 b 11–21).

Und Aristoteles ist der Meinung, dass man dieses Erkennen offenbar wegen des Wissens und nicht wegen eines Nutzens suchte, denn Wissenschaft entsteht erst, wenn für das Notwendige und das Überleben schon gesorgt ist.

Die Metaphysik ist das Buch über die ersten Erkenntnisse. Wie bei so vielen Philosophen muss auch bei Aristoteles jede Erkenntnis von der Erfahrung ausgehen. Zur Kunst wird Erfahrung dann, wenn sich durch viele Gedanken, die alle auf Erfahrung beruhen, etwas Ähnliches im Gegenstand der Erfahrung zeigt. Erfahrung ist also Erkenntnis vom Einzelnen, Kunst dagegen vom Allgemeinen. Kennen wir das Allgemeine, sagen wir, dass wir verstehen. Zum Verstehen gehört nicht nur das Wissen darum, dass etwas der Fall ist, sondern auch das Wissen, warum etwas der Fall ist. Wir kennen dann auch die Ursachen. Die Kenntnis des Allgemeinen, bzw. der Prinzipien, und der Ursachen für ein bestimmtes Sachgebiet nennt man Wissenschaft. Aristoteles geht es aber nicht um das Wissen des Einzelnen, also die Kenntnis bestimmter einzelner Erfahrungen, sondern um die Kenntnis der ersten Prinzipien und des Allgemeinen. Ein Philosoph muss das kennen, er braucht aber keine Kenntnis von allem Einzelnen, das kann er anderen überlassen, auch deshalb, weil nicht einer alles wissen kann.

Während bei Aristoteles das Sich-Verwundern als Ursprung der Philosophie klar auf das Fragen nach dem noch Unerklärten in den Welterscheinungen geht, führt es Platon nach einer Diskussion ein, die direkt eher der Irreführung durch die Argumentation von Sokrates entspringt. Der Sachverhalt, um den es dabei geht, ist relativ einfach aufzulösen. Das eigentliche Problem aber liegt im Hintergrund, nämlich in der Frage, an was wir uns, wenn wir die Erkenntnis bestimmen wollen, halten sollen: An die Wirklichkeit der Welt? An ein über das Wahrnehmbare hinausgehende eine Sein? An unsere Wahrnehmungen? An das, was sich bewegt oder das was ruht? Während Aristoteles gleich den Punkt trifft, dass es bei der Erkenntnis um das Allgemeine, die Prinzipien und die ersten Gründe geht, müssen wir das bei Platon aus dem Kontext des gesamten Textabschnitts herauslesen.

Für Aristoteles hat der Mensch einen unmittelbaren Erkenntnisdrang in sich: wir wollen wissen, einsehen und verstehen. Für Platon ist das nicht so selbstverständlich. Gerade bei den schwierigen Dingen vergeht uns schnell die Lust, die Anstrengung des Nachdenkens und immer wieder Bezweifelns auf uns zu nehmen. Sokrates ist da die große Ausnahme. Theaitet möchte zwar auch gerne einsehen, was Erkenntnis ist, er braucht aber die Methode von Sokrates, um mit seinen Fragen weiterzukommen. Und ganz wichtig für ihn ist es, dass er Sokrates vertraut, die beste Methode für die Behandlung solcher Fragen zu haben.

 

3.4 Die Frage nach dem „Einen“ und das Sich-Verwundern

Der Mensch will wissen. Er sucht nach Erklärungen für Sachverhalte, die er nicht versteht. Sokrates scheint mit seinen Fragen überzeugt davon zu sein, dass es eine Erklärung, was es mit der Erkenntnis auf sich hat, gibt. Die Verwunderung darüber, dass da etwas ist, was wir nicht verstehen, gibt dem Ausdruck. Die Lösung des Problems nennen wir Erkenntnis. Wie aber ist ein Sachverhalt beschaffen, für den es mit der Erkenntnis eine Erklärung gibt, die wir verstehen?

Sokrates war unzufrieden mit der folgenden Bestimmung der Erkenntnis: Ich erkenne etwas, wenn ich weiß, wie es geht. Das ist sozusagen Sachverstand, Fertigkeit, die das Erkennen dessen, was man da tut oder herstellt, schon voraussetzt. Es ist aber nicht die Erklärung von Erkenntnis. Wenn jemand einen Schuh herstellt, dann bringt er die Teile eines Schuhs, Leder, Sohle, Nägel, Schnüre usf. in einer bestimmten Weise zu einer Einheit des Schuhs.

Offenbar stellt sich Sokrates das genauso bei der Erkenntnis vor: Etwas Verschiedenes wird zu einer Einheit zusammengebracht, auch wenn es nicht um die Lederteile, sondern um Begriffe und Einsichten geht. Allgemeine Erklärungen, wie etwas zusammengebracht wird, nennen wir Gründe oder Ursachen. Eine solche allgemeine Erklärung besteht z. B. in der Feststellung des Kausalverhältnisses von Blitz und Donner. Hier bringen wir zwei Ereignisse, die für sich besehen unabhängig voneinander bestehen, aber immer aufeinander folgen, in einer Erklärung zusammen. Wenn wir eine Erklärung haben, wundern wir uns nicht mehr.

Das ist der Sinn, wenn Aristoteles sagt, die Philosophie geht auf das Allgemeine: Wir schaffen einen Zusammenhang, eine Einheit, aus Elementen, die vorher disparat sind. Wenn wir dabei immer weiter fragen, fügen wir immer mehr Weltinhalte zusammen. Erst allmählich kommen wir auf die obersten Prinzipien, welche unter sich die konkreten Verhältnisse erklären. Wenn wir wissen, warum etwas ist, haben wir den Sachverhalt verstanden; das setzt aber voraus, dass wir ihn als Einzelfall allgemeiner Ordnungsvorstellungen begreifen.

Sokrates geht von vorne herein immer aufs Ganze. Er fragt nach dem einen Begriff für Erkenntnis und ist nicht zufrieden, wenn ihm mehrere Erfahrungsbereiche genannt werden. Er will wissen, was das Allgemeine, das Prinzipielle, das Eine der Erkenntnis ist. Der Alternativvorschlag, Erkenntnis ist Wahrnehmung, problematisiert sofort, was mit Wahrnehmung eigentlich gemeint ist. Das Problem wird nur in einen weiteren Erklärungszusammenhang überführt, nämlich den der Bewegung. Alles, was ist, alles, was wir wahrnehmen, was wir erkennen und verstehen, ebenso das Leben, Denken usf. liegen folglich in der Bewegung. Dieser Unterschied zwischen dem Erkenntnisvorgang und dem Ergebnis, dem Wissen, thematisiert Platon immer wieder.

Das erklärt natürlich nichts, sondern erweitert nur das Problem, dazu auf einer ganz anderen Ebene, denn die Vorgänge (und insbesondere der Prozess, wie wir Erkenntnis gewinnen) dürfen nicht mit dem Ergebnis, dem Wissen, verwechselt werden. Dass Theaitet dabei nicht mehr mitkommt, ist verständlich. Die Textstelle ist ganz typisch dafür, wie Platon Fragen aufwirft, schnell durchspielt, in verschiedene Kontexte stellt, um erst nach und nach die Einzelfragen zu ordnen und durchzugehen. Oft irrt er an einer Stelle ab und lässt uns ratlos vor einem ganz und gar unbefriedigenden Ergebnis stehen. Das ist für ihn allerdings weder ein bloßes Spiel noch pure Rabulistik, also gewollte Streitlust. Ihm ist es so ernst mit dem Sich-Verwundern, dass er seinen Lesern möglichst andauernd die Motivation, selbständig weiterzudenken und die Fragen immer wieder aufs Neue zu untersuchen, erhalten möchte. Das Vertrauen, dass Theaitet dem Sokrates und seiner Methode entgegen bringt, sollen wir, seine Leser, auch ihm entgegen bringen. Die Antwortmöglichkeiten und möglichen Bezüge seiner Fragestellung, soweit er sie selbst sieht, führt er uns anschließend im Wesentlichen schon vor. Wir müssen nur aufpassen und uns nicht in die Irre führen lassen. Das Sich-Verwundern sollen wir uns, wenn wir Philosophen im sokratischen Sinne werden wollen, bewahren.

17Der so genannte homo mensura Satz des Protagoras kann freilich auf zweierlei Weise verstanden werden. Sokrates wird im Folgenden nur die individualistische Lesart wählen, nämlich dass dem einen etwas so, dem anderen das Gleiche aber ganz anders oder wenigstens ein wenig anders erscheint. Man kann den Satz aber auch kollektiv auf den Menschen beziehen: Alles ist so, wie es dem Menschen, also jedem Menschen, erscheint; es gibt keine Wahrheit an sich, sondern immer nur die, welche für die Menschen gilt. Voraussetzung dafür ist, dass man sich darüber auch mit den anderen einig werden kann.

18Sokrates bringt verschiedene Argumente vor, um eine Behauptung als richtig zu erweisen. Ein Argument ist ein Beweisgrund, auf dem die Sicherheit eines Beweises ruht. Wir unterscheiden dabei verschiedene Arten: Das argumentum ad hominem gilt nicht als Beweis, es geht auf einen einzelnen Menschen, für den etwas Bestimmtes festgestellt wird. Das Argument gilt nur für ihn, für andere aber nicht; die persönliche Zuschreibung bringt dabei aber in der Sache nicht weiter. Das argumentum e consunsu gentium ist gewissermaßen das Gegenteil: ein solches nehmen alle für wahr an, wenigstens alle Menschen; sie sind sich also darüber einig. Das argumentum e contrario schließt aus dem Gegenteil; wir können eine bestimmte Behauptung nicht belegen, also nehmen wir das kontradiktorische Gegenteil an, und zeigen, dass es falsch ist; folglich muss die Kontradiktion wahr sein, der Satz, den wir ursprünglich mit einem Argument beweisen wollten. Das argumentum a priori ist eine rein logische Erklärung; z. B. dass Schimmel weiße Pferde sind; das steckt sozusagen schon im Begriff. Das argumentum a posteriori schließt dagegen aus der Erfahrung. Die bekanntesten Fehlschlüsse sind die petitio principii, d. h. dass der Schluss inhaltlich schon in den Prämissen, also den Voraussetzungen, steckt, und die contradictio in adjecto, ein Fehlschluss, der vorliegt, wenn sich in den Attributen eines Prädikats ein Widerspruch zu einem anderen Inhalt einer Prämisse findet. Auch wenn Platon die Begriffe nicht verwendet, finden sich diese Argumentarten überall in seinen Texten.