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Gudrun Elisabeth Bartels

Mathildas Buch

Ein Stück Familienheimat

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Inhaltsverzeichnis

Titel

„Mathildas Buch“

oder: Ein Stück Familienheimat

Der wahre Roman einer Familie

Marissa

Emilia

Marissa

Mathilda

Emilia

Juliane

Sandrina

Mathilda

Emilia

Emilia

Nikolas

Mathildas Kleid

Mathildas Buch

Lia und Nick

Klostermansfeld

Konrad

Josef

Mathilda

Leere Seiten

Wartezeit

Ein Stück Familienheimat

Das Schmuckkästchen

Anmerkung:

Impressum neobooks

„Mathildas Buch“

Gudrun Elisabeth Bartels

oder: Ein Stück Familienheimat

Der wahre Roman einer Familie

Der Blindgänger aus dem Zweiten Weltkrieg war bei Bauarbeiten entdeckt worden. Die kontrollierte Sprengung der 5-Zentner-Bombe erfolgte am späten Abend und ließ den Himmel über der Stadt feuerhell erleuchten.

Die Detonation war noch mehrere hundert Metern spürbar und hinterließ erheblichen Schaden. Ein Gebäude in unmittelbarer Nähe brannte völlig aus. Etliche Fenster von Wohnungen und Geschäften gingen zu Bruch.

Das ganze Ausmaß der Sprengung wurde erst am nächsten Morgen sichtbar und noch Tage, Wochen und Monate danach spürten die betroffenen Menschen den Nachhall der Explosion.

Marissa

Das reetgedeckte niedrige Haus duckte sich hinter den Dünen vor dem Wind der See zusammen. Im Laufe der langen Jahre, die es hier schon kauerte, war es alt und grau geworden, hatte Falten und Furchen. Die Fenster waren blind geworden von der salzigen Gischt, die immer wieder bei kräftigem Wind und Sturm dagegen peitschte.

Der Hauseingang wurde von einem Vordach geschützt. Ein kleiner, schmaler grob gepflasterter Weg führte den Ankömmling zur Türe, an der die Jahre ebenfalls nicht spurlos vorüber gegangen waren. Das Holz war grau und porös, die Angeln rostig. Aber die massive Konstruktion hielt bisher allen Wettereinbrüchen stand.

Neben der Tür blickten rechts und links die beiden kleinen Fenster jedem Besucher freundlich entgegen. So freundlich wie jeder empfangen wurde, der den schweren, goldenen Türklopfer betätigte. Diesen hatte ein Vorfahr des letzten Eigentümers von einer seiner abenteuerlichen Reisen mitgebracht. Er war höchst kunstvoll geschmiedet und hielt jeden, der ihn berührte, erst einmal zum staunenden Betrachten an.

In der Tat war es eher ein Schmuckstück denn ein Gebrauchsgegenstand, den man da in der Hand hielt. Ein goldener Reif, kunstvoll geschmiedeter ineinander verflochtener Stränge, die sich wie ein Gitter verwoben. Geschmückt mit bunten, großen, gläsernen Steinen, die – wenn die Sonne darauf fiel – in großartigen Kaskaden funkelten und Lichtersträuße auf Tür und Eingang zauberten. Vielleicht waren es wertvolle Edelsteine. Vielleicht nur billiges Glas. Niemand hatte sich bisher die Mühe gemacht, das zu erforschen. Aber das war auch nicht wichtig. Wichtig waren nur die Freude, die der Anblick in Jedem auslöste und ein Gefühl von Glück.

Als Marissa durch die Dünen kam und die steinige Wegpflasterung zum Haus hinunterging, spürte sie sogleich dieses wundersame Glücksgefühl, das ihr entgegenwehte wie schon der Wind am Strand, über den sie zuvor hierher gestapft war. Sanft und leicht wie eine streichelnde Hand. Und das Licht hinter den milchigen Fenstern strahlte zu ihr wie eine Ermunterung. Das genügte um ihr den sonst schon dunklen Weg zu erhellen und sie sicher bis zur Haustüre zu führen.

Dort angekommen strich sie über die kunstvollen Verzierungen des Türklopfers, hob ihn an und ließ ihn gegen die Holztür fallen. Nur ganz leicht. Sie wartete nicht, bis ihr geöffnet wurde. Sie wusste, sie wurde erwartet.

Lange war sie nicht hier gewesen, doch sobald sie die Schwelle überschritten hatte, war alles wieder da. Die Vertrautheit, die Wärme, die Geborgenheit.

Gerade die Wärme tat ihr augenblicklich überaus wohl. Ihre Haare und Kleidungsstücke klebten ihr verschwitzt am Körper und sie schmeckte Salz auf ihren Lippen. Sie war sehr müde. Sie sehnte sich nach einem weichem Bett, einer warmen dicken Decke, in die sie sich kuscheln konnte, eintauchen in tiefe Traumwelten weit ab von der Wirklichkeit.

Sobald sich ihre Augen an die dämmrige Helle des Raumes gewöhnt hatten, nahm sie immer mehr die altvertrauten Gegenstände war. Den Kamin, in dem an Winterabenden ein wohliges Feuer brannte, jetzt aber dunkel vor sich hin schlief, der alte Lehnstuhl davor, auf dem noch immer die alte bunte Flickendecke lag, die die Großmutter vor langer Zeit in liebevoller Handarbeit selber hergestellt hatte und dem Großvater viele Jahre die alten, müden Beine wärmte.

Auf dem kleinen, runden Holztisch lagen Stapel von Büchern, gelesenen und ungelesenen. Daneben standen Becher und Teekanne für den sofortigen Gebrauch. Auf dem Kaminsims lehnten Schwarz-Weiß-Fotos alter Verwandter und - wie ein Fremdkörper - eine Fotografie aufgenommen in modernster Digitaltechnik. Marissa musste nicht näher gehen um zu sehen, wer darauf abgebildet war. Vielmehr ließ sie ihren Blick rasch darüber hinweggleiten, hin zu dem Schrank mit den Glastüren, hinter denen sich Schätze aus aller Welt befanden. Krüge, Gläser, Steine, Becher aus Gold, verzierte Teller und Gefäße. Errungenschaften von den weiten Reisen des alten Seefahrers, dem das Haus einst gehörte und mit dem Inventar von seinen Erben an die neuen Eigentümer verkauft worden war. Marissa fand sie wunderschön. Sie öffnete eine der Türen des Schrankes und nahm zielgerichtet ein kleines, wundersam filigranes hölzernes Schmuckkästchen heraus, welches es ihr schon als Kind angetan hatte und das sich auf besondere Weise von den anderen Sätzen unterschied, so als ob es nicht dazugehörte. Der Deckel war geschmückt mit einer kunstvoll geschnitzten Rose, die sich von oben herab um das ganze Kästchen rankte. Vorsichtig strich Marissa über die Blütenblätter, die Stile, spürte sacht die kleinen Stacheln und meinte den feinen Duft der Rose zu riechen als sie ihre Nase daranhielt. Immer wenn sie früher das Kästchen in der Hand gehalten hatte, war die Neugierde groß gewesen zu erforschen, was es wohl enthielt, aber der Deckel war verschlossen. Einen Schlüssel gab es nicht und sie hatte sich nie getraut, den versteckten Verschlussmechanismus zu erforschen. Auch niemand sonst hatte bisher scheinbar das Bedürfnis gehabt, an das Innere zu gelangen. Irgendwie gehörte dieses Geheimnis zu dem Kunstwerk und machte es wohlmöglich noch bedeutsamer.

Sie lächelte leicht als sie es zurück an seinen Platz stellte und die Schranktür schloss.

„Da bist du ja.“ Die Stimme hinter ihr klang rau und etwas heiser.

Marissa drehte sich um und sah sich von den Augen der kleinen Frau vor sich eingenommen. Klein war sie immer gewesen, aber jetzt kam es ihr vor, als hätte sie sich nochmal mehr ein Stück in sich zusammengezogen.

„Oma“. Vorsichtig trat sie zu ihr und umarmte sie leicht wie ein zerbrechliches Gut.

„Issa…“ Die warme Hand der alten Frau legte sich auf die junge Wange der Enkelin. „Wie schön.“ Dann bemerkte sie das leichte Zittern, das Marissa durchlief, sah auf ihre nackten Füße.

„Was ist passiert – wo sind deine Schuhe?“

„Ach, die habe ich irgendwo am Strand liegengelassen und meinen Rucksack auch. Ich musste doch gleich zum Meer. Jetzt bin ich müde und mir ist kalt.“

Die Großmutter nickte: „Geh nach oben in dein Zimmer. Nimm dir Handtücher und ein paar Sachen aus dem Schrank. Ich koche derweil einen Tee.“

Marissa küsste die faltige Wange der Großmutter und stieg dann die enge Holztreppe hinauf. Im oberen Stockwerk war es nahezu dunkel und nicht so warm wie unten. Der Flur kam ihr sehr niedrig vor. Die Kammer links war das Zimmer ihrer Großmutter. Das große Bett war für zwei bezogen aber nur eine Decke war zurückgeschlagen. Auf dem Nachttisch neben der unbenutzten Seite stand ein Bild mit einem großen, stämmigen, gutaussehenden Mann, der auch trotz seines weißen Haupthaares und den tiefen Stirnfurchen, bubenhaft frech aus den Augen blickte. Marissa grinste kurz als sie dem Blick des Großvaters begegnete. Er war immer ein großer Junge gewesen, bis zum Schluss und hatte mit ihr, der jungenhaften Enkeltochter viele, wilde Abenteuer durchlebt.

Das Zimmer gegenüber war immer ihres gewesen. Sie liebte das schmale Bett, das sich unter die Dachschrägen zwängte und den Blick durch die Dachluke mit Sicht auf den Himmel. Der wackelige Tisch, der alte Korbstuhl, das Regal mit den abgegriffenen, zerlesenen Büchern ihrer Kinderzeit.

Im Schrank fand sie Handtücher, rubbelte sich die verschwitzen kurzen Haare trocken und schälte sich aus dem unangenehm klebrigen Kleidern.

Der dicke, blaue Pullover mit den weißen Streifen roch nach Vergangenheit als sie ihn überstreifte und die selbstgestickten Strümpfe kratzen angenehm an den nackten, kalten Füße. Das Bett war bezogen. Auf dem Kopfkissen lag wie immer ein Säckchen mit Lavendel. Marissa nahm es in die Hand, roch daran und sank hinein in die Weichheit der Daunenfedern.

Als die Großmutter mit einer Tasse Tee ins Zimmer kam, schlief sie bereits.

*

Da war eine wohlige Wärme an ihren Füßen und eine schmeichelnde Bewegung. Noch halb im Schlaf nahm sie wahr, wie da etwas unter ihre Bettdecke zu kommen versuchte. Es dauerte eine Weile bis sie sich erinnerte, wo sie war, in welchem Bett sie lag und wer sie gerne früh morgens besuchte, wenn sie hier war.

„Teo…“ Sie richtete sich halb auf, griff suchend mit der Hand an das Fußende des Bettes. „…komm her, mein Süßer.“ Eine warme, feuchte Nase berührte vorsichtig ihre Finger, bevor eine kleine Zunge anfing, daran zu lecken und spitze Zähne ein wenig ihre Haut berührten.

Jetzt setzte sich Marissa gänzlich auf und umfing das Fell des alten Katers, der kaum Halt auf dem weichen Bettzeug fand. „Wie geht es dir, alter Freund?“ Sie kraulte ihm liebevoll den Hals und sogleich schnurrte das Tier zufrieden. Sie nahm ihn auf den Schoß und sah ihn aufmerksam in die grünen Katzenaugen. Sein ehemals dickes, schwarzes Fell war merklich ausgedünnt und wies einige kahle Stellen auf.

„…wirst auch nicht jünger, was?“ sprach sie zu ihm und merkte, dass sie diese Tatsache genauso berührte wie das Erkennen des Altersprozesses bei ihrer Großmutter. Und sie selber - sie wurde auch jedes Jahr älter, ohne dass sie etwas daran ändern konnte. Noch war sie jung genug, das nicht so wichtig zu nehmen aber hin und wieder ertappte sie sich dabei, wie sie darüber ins Grübeln geriet. In letzter Zeit verstärkt und ohne einen für sie erkennbaren Grund.

Durch das schräge Dachfenster blinzelte die Sonne zu ihr und den schwarz-grauen Kater in ihrem Arm. Es sah aus als würde es ein schöner Tag werden.

„Komm, Teo – auf nach draußen.“ Der Kater sprang noch recht behende vom Bett als Marissa die Decken zurückschlug und aufstand.

Sie hörte ihre Großmutter bereits unten in der Küche werkeln. Die alte Dame stand stets vor sechs Uhr auf und blickte ihrer Enkelin munter entgegen.

„Gut geschlafen?“ wollte sie wissen.

„Und wie…“ Marissa reckte ihre Arme hoch über den Kopf. „ - himmlisch, wie immer hier.“

„Möchtest du draußen frühstücken? Auf der Terrasse ist es schon warm.“

Noch bekleidet mit ihrem dicken Wollpullover und den Socken lief Marissa durch die Küche hinaus ins Freie. Die Sonne strahlte ihr sogleich hell ins Gesicht und ließ sie die Augen schließen. Als sie diese wieder öffnete, blickte sie auf das blühende Prachtmeer aus Blumen, Sträuchern und Gräsern, Kräutern, Obstbäumen und Gemüsebeete, das wie eine Naturorgie den Garten hinterm Haus vereinnahmte. Lediglich die kleine Terrasse ließ Platz zum Niedersetzen auf der alten Holzbank mit dem selbstgezimmerten Tisch. Auf diesem stand bereits alles für ein ausgiebiges Frühstück bereit.

Marissa ertappte sich dabei, wie sie gleichsam wie der Kater anfing zu schnurren vor lauter Wohlbefinden. Das war das Paradies.

Ihre Großmutter kam mit der dicken, geblümten Teekanne aus der Küche und lachte. „Meine kleine Katze. Setz dich und lass es dir schmecken.“

Marissa zog die Socken aus, krempelte die Ärmel des Pullovers hoch und ließ sich mit allen Sinnen in diesen Sonnenmorgen gleiten.

*

Und dann - das Meer.

Eine Stunde später lief sie barfuß in dem alten Kleid, das sie im Schrank ihrer Großmutter hatte hängen sehen, hinunter zum Strand. Aus einem Impuls heraus hatte sie sich das augenscheinlich selbstgenähte Kleidungsstück übergeworfen. Es war aus leichtem Stoff, altmodisch mit großen Blumenmuster bedruckt und ihr viel zu weit, aber es schmiegte sich angenehm weich an ihre Haut und flatterte jetzt luftig um ihrem Körper als sie über den Sandstrand lief.

Das Meer rauschte in einiger Entfernung gemäßigt vor sich hin, zog sich mit der Ebbe immer mehr vom Land zurück und ließ den Wattboden mit seiner einzigartigen Welt sichtbar werden. Marissa konnte es kaum erwarten, ihre Füße im Schlick zu versenken und durch die Priele zu waten. Aber erstmal musste sie ihren Rucksack finden, den sie gestern irgendwo am Rande des Strandes hatte fallen lassen als sie ihre Schuhe und Strümpfe auszog, um über den noch warmen Sand zu laufen. Das war ihr erster Gang gewesen. Gleich nachdem sie die Fähre verlassen hatte, war sie hierhergekommen. Zu ihrem Strand. Zu ihrem Meer. Die Abendsonne war schon dabei gewesen, einzutauchen in das Wellenmeer, dessen Schaumkronen rötlich schimmerten.

War das tatsächlich erst gestern gewesen? Nach der schier endlosen Reise durch ganz Deutschland schien es ihr schon wie eine Ewigkeit her, dass sie aufgebrochen war um sich hierher auf den Weg zu machen. Hierher in das Oasen-Paradies ihrer Kindheit, in dem sie sich sicher und aufgehoben fühlte.

Sie spürte bereits wie sie hier freier atmete, sich ihre Muskeln entspannten, ihre Seele anfing Flügel zu bekommen. Die noch junge Morgensonne glitzerte auf dem fernen Wasser, nur wenige feine Federwolken durchzogen den blauen Himmel.

Außer dem Meeresrauschen war nichts zu hören. Noch waren keine Menschen am Strand, bis zu dieser entfernten Stelle verirrte sich kaum Jemand, der sich in der Gegend nicht auskannte. Ein stilles Fleckchen Erde abseits der lauten Welt. Genau der Ort, wo sie jetzt sein wollte.

Ihr Rucksack wartete auf sie. Ihre Schuhe und Strümpfe waren voller Sand und feucht von der Nacht. Sie schlug sie aus, setzte sich den Rucksack auf und lief mit den Schuhen in der Hand Richtung Wasser. Endlich versanken ihre Zehen in dem matschigen Wellenboden. Genüsslich suhlte sie diese darin und freute sich, wenn es ein schmatzendes Geräusch gab, sobald sie den Fuß wieder herauszog. Ein kleiner Krebs kam ihrem großen Zeh bedrohlich nahe. Marissa stieg leicht über ihn hinweg, wich so gut es ging einem Haufen Wattwürmer aus.

Liebend gerne wäre sie stundenlang so weiter durch das Watt gezogen, aber der Rucksack drückte ihr unangenehm auf den Schultern und die Schuhe in der Hand schränkten ihre Bewegungsfreiheit zusätzlich ein. Sie lenkte ihre Schritte Richtung Strand, hob eine große weiße Muschel auf und stapfte durch ihr Gepäck beschwert durch den Sand zurück.

Wenn sie die Sachen im Haus abgeladen hatte, würde sie wiederkommen.

Sie hatte vor, die Zeit, die sie hier sein würde, fast gänzlich am Strand zu verbringen, das Meer zu beschauen, den Himmel zu sehen, die Sonne zu spüren. Wind zu schmecken und Wasser zu riechen. Sich fallen zulassen und in sich zu horchen, sich selbst zu begegnen und Klarheit zu finden. Bilder, Gedanken und Ideen. Oder auch nur die Stille und Ruhe des Augenblicks.

Ohne Zwang, ohne Druck, ohne Ziele. Und dann – wer wusste schon, was kommen würde. Sie wollte Vertrauen gewinnen, Zuversicht und Glauben. An sich, an das Leben.

Die Sachen in ihrem Rucksack waren allesamt zerknüllt, sauber zwar aber ohne Sorgfalt hineingestopft, wahllos auch und ohne Überlegung. Ihr Aufbruch war recht überstürzt geschehen und hatte ihr nicht viel Zeit zum ausgiebigen Planen gegeben. Doch ihr Lieblingskleid mit den schmalen, fliederfarbenen Streifen fand sich inmitten des Kleiderknäuels und Marissa tauschte es sofort gegen das Blumengewand der Großmutter aus. Gleich fühlte sie sich mehr als sie selbst.

Das altmodische Kleidungsstück hatte ihr gleichsam ein Stück Vergangenheit angezogen, in der sie sich irgendwie unwohl fühlte. Als ob an dem Stoff etwas haftete, das sie in einen Strudel von gestrigem Geschehen ziehen wollte. Erst hatte sich alles so weich und luftig angefühlt und als sie über den Strand gelaufen war, war es gewesen als könne sie gleich davonfliegen. Aber hinter dieser Leichtigkeit war auch etwas Dunkles, Schweres zu spüren, was sie frösteln ließ.

Jetzt wo sie ihr eigenes Kleid anhatte und das alte neben ihr auf dem Boden lag, merkte sie den Unterschied. Irritiert nahm sie dieses in die Hand, befühlte es, drehte es hin und her als erwarte sie, etwas zu entdecken. Aber da war nichts. Es war nur ein Kleid.

Sie schüttelte den Kopf, nahm einen Bügel aus dem Schrank und hängte das Kleidungsstück hinein. Dann sortierte und faltete sie oberflächlich ihre mitgebrachten Sachen, legte sie ebenfalls in den Schrank, verstaute unten den Rucksack. Dann lief sie die Treppe hinunter in die Küche. Sie hatte es plötzlich ganz eilig. Die Großmutter erwartete sie schon, hielt ihr einen Beutel entgegen und meinte: “Du willst doch sicher den Tag am Strand verbringen. Ich hab dir etwas Proviant zusammengepackt.“

Marissa nahm den Beutel und drückte die Großmutter an sich. „Du bist lieb, Oma. Ist es dir denn recht, wenn ich dich einfach so alleine lasse?“

Die warme Hand der Großmutter legte sich liebevoll auf die Wange der Enkelin.

„Ich bin es gewöhnt, allein zu sein. Wenn du später wiederkommst, freue ich mich auf eine nette Unterhaltung. Genieß die Sonne und lass Gedanken, Gedanken sein.“ „Danke, Oma“. Marissa küsste sie leicht auf die Wange. Der lächelnde Blick der alten Dame begleitete sie über den Pfad hin zum Strand.

*

Die Morgensonne war von der Terrasse weggewandert über die Beete und Gewächse, hin zu den Heckenrosen, wo es von Insekten summte.

Von ihrem Platz auf der Bank, die nun angenehm im Schatten lag, genoss die alte Dame den prachtvollen Anblick ihres wilden Gartens. Er war ihre Freude und angenehme Beschäftigung, die ihr allerdings zunehmend schwerer fiel, was sie aber kaum zugegeben hätte. Manchmal ging es recht langsam voran mit Jäten, Unkrautzupfen, Schneiden und Pflücken. Doch die Pflanzen schienen es dieser Langsamkeit zu danken, indem sie üppig wuchsen und gediehen ohne mangelnde Pflege gleich mit Welken oder Verdorren zu beantworten. Als ob sie damit zufrieden waren, überhaupt da zu sein und ihrer Gärtnerin Lebensfreude zu schenken.

Der Garten und das alte Haus waren es, was ihr geblieben war. Vieles hatte sich im Laufe der vergangenen Jahre verändert, Menschen waren aus ihrem Leben verschwunden, die ihr viel bedeutet hatten, Umstände und Lebenssituationen waren andere geworden.

War es Schicksal oder Vorsehung, was alles so kommen ließ wie es kam? Emilia dachte kaum mehr darüber nach, nahm jeden Tag wie er war, ließ geschehen, was geschah. War zufrieden mit dem, was sie hatte und lebte jeden Augenblick als einmalig und einzigartig. Das machte sie zu einem zufriedenen, dankbaren Menschen. Wenn sie ein Wort für ihr jetziges Leben verwenden sollte, konnte ihr nur das Wort „Glück“ über die Lippen kommen.

Der Weg hin zum „Glück“ war lang gewesen, hatte ihr viel abverlangt und sie manchmal daran zweifeln lassen, dass sie ein Gefühl von Glück jemals erleben würde. Alt musste sie werden, um es zu erreichen und um zu erkennen, dass ihr das Glück trotz allem Unglück, das sie überstehen musste, immer zur Seite gestanden und über alle Widrigkeiten hinweggetragen hatte.

Jetzt wünschte sie sich nur noch, dieses Wissen um das Glück weiterzugeben an die, die es gerade nicht spüren konnten, die meinten, es wäre von ihnen gewichen. Sie wünschte, sie könnte es irgendwie verpacken und wie ein Geschenk vor sie stellen, damit sie es sahen und annahmen.

Zu allererst hätte sie es am liebsten ihrer Tochter Juliane überreicht, die es, wie sie fand, am nötigsten hatte. Aber sie wusste, sie würde dieses Geschenkglück nicht sehen, auch wenn es ganz nah vor ihr schweben würde. Sie würde einfach daran vorbeilaufen, blind und eilig.

Aber Marissa, ihre Enkelin mit dem jugendlichen Lebenssinn, die würde es wohl sehen. Bei ihr würde sie leichter Erfolg haben damit, ihr zu zeigen, dass trotz all dem schmerzvollen Leid, das ihr schon begegnet war, auch eine Helligkeit daneben stand. Und dann – so hoffte Emilia, würde dieses Erkennen auch die Augen ihrer Tochter öffnen. Ihre Augen – und ihr Herz. Es konnte nicht sein, dass sie sich dem Leben entzog. Und sich und die Tochter vergaß. Die Tochter, die noch da war und so viel Leben vor sich hatte.

Emilia hatte im Gesicht ihrer Enkelin eine große Menge an Lust und Freude gesehen als sie zum Strand gelaufen war. Schnell. Leicht. Da war nichts gewesen von dem Schatten, der manchmal um sie strich. Und das hatte Emilia aufatmen lassen. Es würde alles gut werden. Trotz dem Traurig-sein von gestern.

Schicksalhafte Wendungen gab es immer, würde es immer geben. Man wusste nie, ob und wann das Leben sie für einen bereithielt. Wie konnte man jemals sicher sein, vorbereitet oder stark genug für Einschläge, die plötzlich und aus scheinbar heiterem Himmel neben einem explodierten.

Auch die Menschen, die vor über siebzig Jahren sorglos den Jahrhundertsommer genossen, waren nicht im Geringsten darauf vorbereitet gewesen, was in den nächsten Jahren auf sie zukommen würde – auch wenn es Vorzeichen für die Katastrophe gegeben hatte. Sie lebten ihr Leben, lachten, liebten, gingen ihrer Arbeit nach, fuhren in den Sommerurlaub voller herrlicher Sonne.

1939 war Emilia fünf Jahre alt. Ein kleines Mädchen, das gerade seine Welt und sich entdeckte. Was wusste sie von der Welt draußen, was dort geschah, was sich langsam aber sicher zusammenbraute, bis es am 1. September 1939 zu dem verheerenden Angriff Deutschlands auf Polen kam. Und dann rollte ein unvorstellbares Inferno über ganz Europa und die Welt, das noch bis zum heutigen Tag seines Gleichen sucht und allen nachfolgenden Generationen immer wieder das Entsetzen ins Gesicht und die Tränen in die Augen treibt.

Emilias Vater war Postbeamter in Berlin, ihre Mutter arbeitete stundenweise in einem Laden für Schreibwaren, der für Emilia ein kleines Paradies war mit den vielen Farben und Stiften, mit denen sie die großen Bogen Papier verschönern durfte, die ihr die Ladeninhaberin in die Ecke legte, wo Emilia bleiben konnte, wenn ihre Mutter arbeitete. Sie war ein braves, ruhiges Kind, das sich gut selbst beschäftigen konnte. Stundenlang malte sie eifrig an einem Kunstwerk, wobei ihre kleine Zunge genauso eifrig von einem Mundwinkel zum anderen wanderte. Oder sie blätterte in bunten Büchern mit vielen Bildern und erzählte sich ihre eigenen Geschichten dazu.

Manchmal sang sie auch mit kräftiger, ausdrucksstarker Stimme, die jeden Zuhörer sogleich in den Bann zog. „Das Kind hat aber eine Stimme“, bemerkte wohl ein Kunde, der im Laden Briefpapier kaufte. Und Emilias Mutter nickte voller Stolz. Heimlich dachte sie bei sich: vielleicht wird sie mal eine große Sängerin. Wer konnte das schon wissen. Wer konnte schon wissen, was in den nächsten Jahren alles geschah. Welche Welten und Träume zusammenbrachen, welche Leben, kaum gelebt, wieder endeten, welche Städte zu Ruinen wurden.

Dieser Krieg. Immer wieder sehr präsent – gerade jetzt - durch den nahenden Jahrestag, die Berichterstattungen im Fernsehen, Dokumentation, Gedenkfeiern, Ansprachen, Umarmungen früherer Feinde und der besorgte Blick gen Osten, wo sich Unheilvolles zusammenbraute.

Emilia war es kaum möglich, die Bilder und Kommentare zu verfolgen. Doch ganz konnte sie sich diesen nicht entziehen. In ihr war sofort alles wund und schmerzend sobald sie nur den Ton des Fliegeralarms vernahm oder das Geräusch der sich im Anflug befindenden Maschinen….

Hier bei ihr war es friedlich und beschützt. Traumumfangen ruhig.

Sie blickte hinüber auf das Fleckchen Rasen mit den Gänseblümchen, auf dem sich gerade eine Amsel niedergelassen hatte. Später zum Tagesende hin würde sie wieder ihr Abendlied singen. Laut und zwitschern, voller Koloraturen in den höchsten Tönen, die Emilia sehr bewunderte. Niemals hatte sie es selber zu solcher Kunstfertigkeit geschafft, obwohl ihr Gesangstalent tatsächlich nicht unerheblich gewesen war, wie bereits im Kindesalter vermutet. Zur großen Gesangskarriere hatte es aber nicht gereicht. Wer wusste schon genau warum.

Aber sie bedauerte das nicht. Alles war letztlich für ihre Persönlichkeit so richtig gewesen, wie es gekommen war. Und schließlich hatte der Krieg das seinige dazugetan, eventuelle Träume und Wünsche verlöschen zu lassen.

Ein leiser Seufzer stieg in ihr auf. Sie schluckte ihn hinunter ohne ihn weiter wahrzunehmen, gab sich einen Ruck und erhob sich etwas mühsam von der Bank. Sie würde jetzt eine Kleinigkeit essen und dann ihr Mittagsschläfchen halten. Dann würde sie noch ein wenig im Garten arbeiten, wenn es nicht zu heiß war und schließlich würde Marissa wiederkommen.

Marissa, die ihren Namen von Anfang an verkleinert hatte. Marissa kam ihr nie über die Lippen. Als kleines Mädchen brachte sie gerade mal „Issa“ zustande. Eine Marissa wie sie sich selber vorstellte, war sie nicht. Das klang nach exotischer Schönheit mit langen, schwarzen Haaren und tiefdunklen Augen. Sie hielt sich weder für eine Schönheit, noch besaß sie eine lange, schwarze Haarpracht. Allein die Augenfarbe mochte etwas mit dem Bild einer Marissa übereinstimmen. Sie waren zwar nicht tiefdunkel, doch von einem angenehm warmen braun-grünen Farbton, der mitunter zu wechseln schien. Abhängig von der jeweiligen Stimmungslage, in der sie sich gerade befand. Ihre Haarfarbe war eher dunkelblond und derzeit mit einigen rötlichen Strähnchen durchzogen. Emilia fand ihre Enkelin durchaus hübsch, auch wenn sie sich mit ihrer bunten Frisur nicht ganz anfreunden konnte. Aber so war die Jugend nun mal.

Was war es für eine Revolution gewesen als Emilia sich nach dem Krieg gegen den Willen des Vaters ihre langen Zöpfe abschneiden ließ und eines Tages mit einem Bubikopf zuhause erschien. Das Donnerwetter darüber hatte sie noch heute in den Ohren. Aber für sie war es ein Sieg gewesen, ein Triumph über die despotische Strenge des Vaters und die weiche Nachgiebigkeit der Mutter, die immer auszugleichen versuchte und gerade dadurch mitunter Missstimmung hervorrief. Dabei hatte sie es als Jüngste immer noch vergleichsweise gut gehabt. Ihr älterer Bruder Nikolas war den Launen des Vaters ungleich häufiger ausgesetzt und lieferte sich mit ihm heftige Wortgefechte, die das eine oder andere Mal beinahe ins Handgreifliche überzugehen drohten, wenn die Mutter sich nicht rechtzeitig zwischen die beiden Streithähne gestellt hätte.

Das war jetzt schon eine Ewigkeit her doch für Emilia waren die Bilder dieser Szenen noch sehr präsent genauso wie das Gefühl von damals. Nicht schön.

Sie schüttelte unwillkürlich den Kopf während sie sich eine Scheibe Brot hinunterschnitt und es dick mit Käse belegte. Schüttelte die Bilder weg in die Vergangenheit. Die Decke auf dem alten Sofa lud sie schmeichelnd ein, sich auszustrecken, die Augen zu schließen und für eine Weile Erinnerungen und Jetztzeit zu vergessen.

*

Marissa fühlte sich im siebten Himmel. Der Strand schien ihr allein zu gehören. Hierher ans äußerste Ende verirrten sich kaum ein paar Strandläufer. Hin und wieder kam ein Hund angejagt, der seinem Besitzer ausgerissen war, blieb vor ihr stehen, umkreiste sie misstrauisch und jagte schließlich weiter, wenn der Ruf seines Herrchens ertönte.

Aber das alles war keine wirkliche Störung für sie, die sie ausgestreckt auf dem großen Handtuch lag, das sie mitgenommen hatte. Da sie keinen Hut hatte, hatte sie sich kurzer Hand ihren langen, weißen, dünnen Schal, den sie fast ständig bei sich trug, um den Kopf gewunden, um sich vor der intensiven Sonneneinstrahlung zu schützen. Sie kam sich ein wenig vor wie eine Beduinenfrau und hätte gerne noch einen weiten Kaftan gehabt, denn Sonnencreme hatte sie keine und musste befürchten, dass sie sich mit ihrer hellen Haut, die schnell zu Rötungen neigte, einen Sonnenbrand einfing. Aber letztlich wollte sie daran nicht denken, überhaupt nicht denken – an nichts - nur das Hiersein genießen. Schon als sie gestern hier ankam, hatte sie sich sofort leichter gefühlt. In der Stadt hatte sie immer den Eindruck, eingezwängt zu sein. Die Enge der Häuser, die Straßen, die vielen Menschen und der ewige Verkehr nahmen ihr die Luft und Raum, frei zu atmen. Das merkte sie immer besonders, wenn sie davon ausbrach und wie jetzt die Freiheit des Alleinseins und die wohltuende Ausgeglichenheit der Natur spürte, die sich ausbreitete wie es ihr gefiel. Dann fragte sie sich, was sie in der Großstadt zu suchen hatte. Warum sie nicht am Meer war, auf der Insel, in der frischen Luft.

Das Studium und München waren schon in weite Ferne gerückt, nicht nur durch die räumliche Entfernung. Das alles war jetzt unwichtig.

Es war so schön hier. Im Sand, in der Sonne…

Sie ließ sich von all dem umhüllen, von der weit entfernten Brandung des Meeres einlullen… von dem Gesang der Möwen wegtragen…