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Gisela Schaefer

Ymirs Rolle

Eine außergewöhnliche Reise

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Inhaltsverzeichnis

Titel

TEIL 1 – Norwegen, 9./10. Jahrhundert

Ymir und Embla

Gunnars Plan

Logis Aufbruch in die Neue Welt

Teil 2 – Yucatan, Mittelamerika, 16. Jahrhundert

Felipe

Mateo sucht Gold

Zurück nach Spanien

TEIL 3 – Spanien, 21. Jahrhundert

Hein aus Niederbokelhusen

Die Dinge kommen ins Rollen

Überraschung!

Erklärungen

Impressum

TEIL 1 – Norwegen, 9./10. Jahrhundert

Ymir und Embla

Mit voller Wucht traf das Holz Ymirs Rücken, und Ymir, der Bärenstarke, sackte leicht in die Knie.

„Donnerwetter,“ keuchte er und verzog sein Gesicht zu einer Grimasse, „so stark hat sie noch nie zugeschlagen.“

Er bog seinen Arm so weit es ging über die rechte Schulter, um die schmerzende Stelle zu reiben.

„Wenn’s so weitergeht, wächst mir bald eine Hornhaut auf dem Buckel,“ brummte er und ließ sich schwer auf die Bank vor seinem Haus sinken.

Damals, vor Jahren, als es begann, da hatte er sich noch amüsieren können über ihr herrliches Temperament. Und wenn ihn das Holz traf, hatte er höchstens gefragt: „Nanu, hat ein Laubblatt mich berührt?“

Krach! – „Die Vögel haben wohl Reisig auf mich geworfen.“

Krach! – „Ich glaube, mir ist eine Eichel auf die Schulter gefallen.“

Dann hatte Embla lachen müssen, waren es doch genau die Bemerkungen der Götter aus den Geschichten gewesen, die sie Ymir so oft erzählt hatte. Ymir, der Gutmütige, hatte sie dann beschwichtigend in die Arme genommen – danach war jedesmal für eine Weile wieder Frieden. Aber mit der Zeit war es doch lästig geworden, und schließlich ärgerte ihn ihre ständige Launenhaftigkeit und Unbeherrschtheit, die selbst bei den geringsten Anlässen jederzeit aus ihr herausbrechen konnten. Heute bedauerte er fast den Tag, an dem er dieser Furie Embla zum Zeichen seiner ewigen Liebe und Treue das Holz, mit dem sie ihn so malträtierte, als Hochzeitsgeschenk überreicht hatte.

Ymir starrte hinunter auf den hellschimmernden Sandstrand, der das Ende des Fjords bildete und der einzige Zugang von See aus zu dem weiten, grünen Tal dahinter war. Auf beiden Seiten der zum Meer hin immer breiter auseinanderklaffenden Bucht ragten steile, schroffe Felswände aus dem Meer. Kahl und düster bis auf vereinzelte Mooskissen und Placken rostroter Flechten. An manchen Stellen weiß vom Kot der Seevögel, die hier brüteten und ihre Eier selbst auf schmalste Vorsprünge und Kanten legten. Wie oft schon hatte Ymir beobachtet, wie ungeschützte Gelege oder Jungvögel abrutschten, von einer Windboe hinweggefegt oder leichte Beute von Raubvögeln wurden.

„Muss daran liegen, dass es auf einen mehr oder weniger nicht ankommt bei dem massenhaften Nachwuchs, den sie haben,“ dachte er nun und seufzte tief.

„Und ich,“ grollte es in seinem Innern verbittert, „ich habe keinen einzigen Sohn, nicht mal eine Tochter! Allmächtiger Odin, warum schenkst du Embla und mir keine Kinder? Siehst du nicht, dass sie immer unausstehlicher wird und mir alle Schuld an unserem Unglück zuschiebt?“

Er lehnte seinen Kopf an die Holzbohlen hinter sich und schloss die Augen. Wie sorgenfrei und unbeschwert war sein Leben einst verlaufen – vor vielen, vielen Jahren ...

waren Ymirs Eltern, Skadi und Grima, aus einer Region hoch oben im Norden des Landes hierher in den milderen Süden gezogen, wo die Äcker fruchtbarer, die Weiden saftiger und, was für Skadi das Wichtigste war, Eichen, Buchen und Eschen dichter und kräftiger wuchsen – denn Skadi war Schiffbauer. Doch nicht nur wegen der Kargheit des Landes und der grimmigen Kälte hatte er seine Heimat verlassen. Skadi hatte vielmehr mitansehen müssen, wie über seinen damaligen Herrn ein Unglück nach dem anderen hereinbrach: Söhne, die nicht wiederkehrten von waghalsigen Raubzügen, zwei Missernten hintereinander, so dass ihm sein Vieh verhungerte oder im nicht enden wollenden Winter erfror. Der einst so reiche, stolze Großgrundbesitzer schrumpfte zusammen auf einen armseligen, bedeutungslosen Bauern. Hinzu kam, dass um diese Zeit erste Bestrebungen im Gange waren, aus den vielen kleinen Herrschaftsbereichen der Landbesitzer, Häuptlinge, Jarle und Kleinkönige ein geschlossenes, starkes Reich zu schmieden. Der Kampf um Land, Macht und die Krone wurde mit Gewalt oder List und Tücke geführt. Wer nicht genügend Krieger und Schiffe besaß, wer nicht durch Handel zu großem Reichtum gelangen konnte, wurde überrannt und vereinnahmt. Nach all seinen Schicksalsschlägen hatte Skadis Herr nicht mehr die Kraft, sich gegen diese Bedrängnisse weiter zu wehren.

So beschloss Skadi eines Tages zu gehen. Mit dem wenigen Geld, das er gespart hatte, kaufte er sich und Grima aus der Leibeigenschaft frei – sein Herr feilschte nicht lange um den Preis, was sollte er auch weiterhin mit einem Schiffbauer anfangen. Sie luden ihren Hausrat und Skadis Werkzeug auf einen Holzkarren, spannten ein Pferd davor und zogen nach Süden, immer möglichst nahe der Küste bleibend. Nach fünf anstrengenden Tagesmärschen erreichten sie die erste größere Ansiedlung und wurden gastfreundlich aufgenommen, aber Arbeit gab es nicht, denn der Platz des Schiffbauers war schon vergeben. Skadi und Grima setzten daher ihre Reise fort, zum ersten Mal froh darüber, dass sie noch kinderlos waren. Die Strapazen des mühsamen Weges erschöpften sie mehr und mehr, immer dichter und unwegsamer wurden die Wälder, immer zahlreicher die herumstreunenden Wölfe. In den Nächten zündeten sie helllodernde Feuer an und hielten abwechselnd Wache, damit es nur ja nicht erlosch – es wäre ihr sicherer Tod gewesen.

Das nächste herrschaftliche Gehöft, auf das sie trafen, besaß keinen Uferstreifen, also brauchte man auch keine Schiffe. Beim übernächsten wurden sie sofort verjagt, kaum dass sie angekommen waren und den Mund öffnen konnten, weil man sie für armes Bettelvolk hielt. Am vierten wären sie glatt vorbeigelaufen, ohne es zu bemerken, hätte ihnen nicht eine gebieterische Stimme zugerufen: „Wer seid ihr und wohin wollt ihr?“

Ymir rutschte auf seiner Bank weiter nach vorne und streckte die Beine weit von sich. Ja, so hatten seine Eltern damals den ehrgeizigen jungen Herrn von Drachenbergen oder Dragensfjell kennengelernt – seit nunmehr vier Jahren Ymirs Schwiegervater. Ymir konnte sich die erschreckte Grima und den kampfbereiten Skadi gut vorstellen, sie hatten ihm oft genug von dieser ersten Begegnung im Wald erzählt. Wie Skadi sich mit gezücktem Schwert angespannt im Kreis drehte, um den Frager irgendwo im Dickicht zu entdecken ...

Ich bin Skadi der Schiffbauer,“ stieß er hervor, „und das ist meine Frau Grima. Wir sind auf der Suche nach Arbeit. Und wer bist du?“

Steck dein Schwert weg, ich tu dir nichts!“

Wie vom Himmel gefallen landete direkt vor ihnen ein Mann auf dem weichen Waldboden, ging in die Knie und federte wieder hoch. Skadi warf einen kurzen Blick nach oben, der Mann musste auf einem der Felsen gesessen haben.

Du sagst, du bist Schiffbauer?“ Der Fremde sah Skadi prüfend an: „Was meinst du damit? Hast du mal ein paar Holznägel eingeschlagen oder am Teer geschnuppert. Für einen Meister scheinst du mir reichlich jung.“

Mein Vater war Schiffbauer und seit ich zurückdenken kann, habe ich nichts anderes getan, als ihm bei der Arbeit zur Hand zu gehen,“ antwortete Skadi stolz und ein wenig verärgert über den arroganten Ton dieses Mannes, der ganz sicher jünger war als er selbst.

Ich habe mehr als ein Schiff gebaut, das kannst du mir glauben, und seit dem Tode meines Vaters vor drei Jahren ganz alleine. Komm nur her und schau hier herein.“

Er öffnete den Deckel seiner Werkzeugkiste und zeigte auf den Inhalt.

Sieht so das Werkzeug eines Gehilfen aus, der nur Nägel einschlagen kann?“ fragte er herausfordernd.

Mal sehen,“ sagte der Fremde gedehnt, „Breitbeil und Kratzeisen, Feilen, eine Metallsäge, Bohrer, Zangen, Meißel. Nicht schlecht, deine Ausrüstung. Kannst du einen Mastbaum am Kiel so befestigen, dass er nicht bei der ersten Brise umknickt? Oder reicht dein Können nur für Ruderboote mit Schlingen?“

Skadi sah überrascht auf: „Ich verwende schon lange keine Lederriemen, oder wie du es nennst, Schlingen mehr. Ich führe die Ruder durch Löcher in der Bordwand, groß genug, um sie eine volle Länge durchs Wasser ziehen zu können. Ich möchte einen Hammer wetten, dass du sowas noch nie gesehen hast. Schlingen reißen viel zu schnell und werden bei Frost spröde. Außerdem, wenn du genug Wind in den Segeln hast und die Ruder nicht brauchst, kannst du die Schilde deiner Krieger in die Löcher hängen … falls du denn welche haben solltest, du scheinst mir reichlich jung.“ Skadi konnte sich ein Grinsen kaum verkneifen und fuhr fort: „Jedenfalls machen sie die Bootswände schön hoch und schützen vor hohem Wellengang … oder auch schnellen Pfeilen. Ach, und noch was, keiner meiner Mastbäume ist jemals umgeknickt oder gesplittert, weil ich nämlich ...“

Skadi stoppte seinen Redefluss erschrocken, er hatte viel mehr von seinem Wissen preisgegeben als gut war.

Bist du etwa auch Schiffbauer?“ fragte er misstrauisch.

Nein, keine Angst,“ lachte der Fremde. „Kommt mit, ich zeige euch was. Kann sein, dass ihr von Odin selber hierher geschickt worden seid.“

Wie meinst du das?“ Skadi horchte auf.

Der Fremde streckte ihm seine Hand hin: „Ich bin Gunnar und die Wälder ringsum sind mein, einige Tagesmärsche nach allen Richtungen. Hast du die Eichen gesehen, die hohen Fichten und geraden Eschen? Meinst du, daraus könntest du ein paar Schiffe bauen?“

Gunnar wartete Skadis Antwort gar nicht ab, sondern fuhr fort, indem er auf die Felswand zeigte, die neben ihnen aufragte: „Das sind die Drachenberge, alles mein, und was dahinter liegt auch. Du wärst glatt vorbeigelaufen, stimmt’s? Am Eingang der Schlucht, meine ich.“

Gunnar ging nun ein Stück die Felswand entlang und Skadi und Grima folgten ihm. Sie gelangten an einen schmalen Spalt, gerade so breit, um einen Pferdewagen oder einen Schlitten durchzulassen. Nach wenigen Metern schien der Weg bereits zu Ende zu sein – eine perfekte Täuschung, denn er machte hinter einem Felsvorsprung eine scharfe Kurve nach rechts und zog sich nun gut 150 m in Windungen weiter, bis er erneut scheinbar vor einer Feldwand endete. Diesmal war es eine verborgene Linkskurve, hinter der sich der Ausgang aus der Schlucht befand.

Skadi und Grima hielten erstaunt an: Vor ihnen breitete sich ein weites, sanft abfallendes Tal aus, von allen Seiten umschlossen und geschützt von hohen Gebirgszügen. Skadi starrte auf den hellschimmernden Sandstrand in der Ferne, der das Ende eines Fjords bildete und der einzige Zugang von See aus zu diesem Tal war. Auf beiden Seiten der zum Meer hin immer breiter auseinanderklaffenen Bucht ragten steile, schroffe Felswände aus dem Meer, kahl und düster.

Ymir lehnte sich etwas vor und sah zum Haus seiner Eltern hinüber. Es war noch immer das gleiche, das sie damals gebaut hatten, nachdem sie mit Gunnar einig geworden waren ...

denn Skadi zögerte nicht lange: Er hatte das fruchtbare Land mit den vielen kleinen Gehöften und dem großen in der Mitte, die fetten Kühe auf den Weiden, Schaf- und Ziegenherden, Schweine und Pferde mit blonden Mähnen gesehen. Er hatte die fast uneinnehmbare Lage des Tales und den perfekten Anlegeplatz für eine ganze Flotte von Schiffen bemerkt - und er fand schnell heraus, dass Gunnar äußerst ehrgeizig war, woraus er zu Recht folgerte, dass seine Ziele hochgesteckt waren. Daher war er nur allzu gern bereit, in seine Dienste zu treten, jedoch als freier Mann, anders als die meisten bereits im Tal ansässigen Handwerker und Bauern. Gunnar war einverstanden, denn er hatte genug gehört, um sicher zu sein, dass Skadi von seinem Handwerk mehr verstand als alle Schiffbauer, denen er bisher begegnet war, zudem schienen in seinem Kopf eine Menge Ideen für neue, bessere Konstruktionen zu sein. Und Gunnar fand auch heraus, dass Skadi und Grima sich seit langem Kinder wünschten, woraus er zu Recht folgerte, dass ein Mann mit Familie nicht unstet umher irrt, sondern bestrebt ist, für sich und die Seinen ein dauerhaftes Zuhause zu schaffen. So gab er Skadi ein Stück Land, die Genehmigung, sich soviel Baumaterial für ein Haus wie nötig zu schlagen und steckte mit ihm unten am Ufer seinen Arbeitsplatz ab. Weder Skadi noch Gunnar sollten jemals ihre Entscheidung von damals bereuen.

Während der Sommermonate baute Skadi Schiffe, die, sobald die kalte, dunkle Jahreszeit anbrach, abgedeckt wurden. Der Fjord blieb zwar wegen der warmen Meeresströmung eisfrei, aber neue Schiffe mussten in Ruhe trocknen – Skadi nannte es „reifen“. Grima saß während dieser Zeit am Spinnrad und ließ körbeweise Schafwolle durch ihre Finger gleiten, bis sie zu dünnen Fäden versponnen war. Dann webte sie daraus Tücher und nähte sie aneinander zu quadratischen Segeln, während Skadi, unter vielen Seufzern oder auch heftigen Flüchen, sich lange damit abquälte, furchteinflößende Drachenköpfe für die Vordersteven seiner Schiffe zu schnitzen. Gunnar hatte es ihm so oft und so anschaulich erklärt: „Aus ihren Augen soll die schiere Angriffslust blitzen. Aus ihren Rachen muß der Feind jeden Augenblick sengende Flammen erwarten und den Gifthauch ihres Atems zu spüren glauben. Ihr Anblick muss grauenvoll sein und den Arm des Feindes lähmen vor Entsetzen!“

Ymir lachte laut auf, als er sich an die freundlich grinsenden Wesen mit den gütigen Augen erinnerte, die trotz aller Bemühungen seines Vaters dabei herauskamen.

Nicht, dass Skadi nicht schnitzen konnte, im Gegenteil, selbst die kompliziertesten und verschlungendsten Ornamente gelangen ihm perfekt - nur eben Furchteinflößendes nicht. Gunnar verzichtete schließlich darauf, sie für seine Kriegsschiffe zu verwenden – er verteilte die drolligen Tierchen an seine Kinder und machte sie damit sehr glücklich. Er war Skadi deswegen nicht böse, aber eines Tages, als sie ausgelassen die Sonnenwende feierten, als in Gunnars Halle die langen Tische und Bänke mit seinen Kriegern, Bauern und Handwerkern besetzt waren, als über dem Herdfeuer ein Ochse am Spieß gedreht wurde und Met und Bier in Strömen flossen, da konnte er sich nicht mehr zurückhalten und zog Skadi damit kräftig auf. Der nahm’s gelassen hin. Als aber Gunnar dann im Vollrausch auch über seine Kinderlosigkeit spottete, wand sich Skadi vor Verlegenheit und Kummer wie ein Wurm. Niemand konnte ihm nachfühlen, wie traurig er war deswegen und wie schmerzhaft er diesen Mangel empfand. Am wenigsten Gunnar, der vor einem Jahr Freydis zur Frau genommen hatte und im letzten Monat voller Stolz seinen ersten Sohn dem allmächtigen Odin entgegengestreckt hatte, um dessen Segen für ihn zu erbitten.

Ein weiteres Jahr verging und Gunnars zweiter Sohn kam zur Welt, dann sein dritter, dann waren es sogar Zwillinge, die Freydis ihm gebar. In diesem Jahr jedoch ging auch Skadis und Grimas größter Wunsch in Erfüllung – nach all der langen Zeit des Wartens und Bittens bekamen auch sie einen Sohn. Und weil er so ungewöhnlich groß und kräftig war, nannten sie ihn Ymir, nach dem Riesen aus der Weltentstehungsgeschichte. Ymir sollte ihr einziges Kind bleiben, während Gunnar noch eine Tochter und vier Söhne bekam.

Die Spiele mit Gunnars Kindern gehörten zu den frühesten Erlebnissen, an die sich Ymir selbst erinnern konnte, und daran, dass eins aussah wie das andere, nur in verschiedenen Größen. Dass einer dieser rothaarigen, vollkommen gleich gekleideten, ständig johlenden und raufenden Wildfänge ein Mädchen sein könnte, das war ihm lange Zeit nicht in den Sinn gekommen. Ymir schlug sich mit beiden Händen auf die Schenkel und schüttelte den Kopf, als wenn ihn dies auch heute noch irritierte ...

denn Embla schwang den Hammer ebenso kraftvoll wie jeder ihrer Brüder. Sie schleuderte den Speer genau auf den Punkt, den man ihr zeigte. Sie tauchte minutenlang ohne nach Luft zu schnappen und rannte mühelos bei jedem Wettlauf mit. In einer einzigen schnellen Bewegung zog sie einen Pfeil aus dem Köcher auf ihrem Rücken, legte an, spannte den Bogen und traf ihr Ziel: einen hakenschlagenden Hasen oder ein aufstiebendes Schneehuhn. Auf einem Gebiet war Embla sogar allen Jungen und Mädchen überlegen: Sie sammelte Geschichten, wie andere Kinder Muscheln sammelten. Sie kannte soviele spannende Sagen von den Göttern im Himmel und den Helden längst vergangener Zeiten wie niemand sonst. Wenn die Kinder beieinander saßen auf dem frisch ausgestreuten Stroh in einer Ecke von Gunnars Halle, wenn das lodernde Herdfeuer zuckende Schatten auf die Wände und über ihre Gesichter warf, wenn wie aus weiter Ferne das Lärmen und Grölen der Erwachsenen zu ihnen drang, das Zischen von spritzendem Fett und das dumpfe Aufsetzen der Becher, dann fing Embla an zu erzählen. Und jedesmal begann sie ihre Geschichten mit leiser, eindringlicher Stimme und den beschwörenden Worten:

Am Anfang war nur Feuer und Eis. Als sie aufeinandertrafen, entstanden aus den Wassertropfen Ymir der Riese und Audumla die Kuh.“

Das war die Stelle, an der Ymir immer betreten auf den Boden vor sich starrte, denn jeder wusste inzwischen, dass Ymir der Riese böse war und von ihm das Geschlecht der bösen Reifriesen abstammte. Embla schien sein Unbehagen nie zu bermerken.

Audumla leckte am Eis, und nach und nach kam Buri zum Vorschein. Buris Enkel war Odin. Odin schuf das Himmelsdach und stützte es an jeder Ecke mit einem Zwerg. Die Zwerge hießen Norden, Süden, Osten und Westen. Odin schuf auch die Erde. Als das Meer zwei Baumstämme an den Strand schwemmte, hauchte er ihnen seinen Atem ein und schuf Askr und Embla, die ersten Menschen.“

Nach dieser Einleitung folgte stets die eigentliche Geschichte. Oh, wie gebannt die Kinder an Emblas Lippen hingen, wie begierig sie waren, von Kämpfen und Intrigen, von glorreichen Siegen und bitteren Niederlagen zu hören. Ymir mochte am liebsten die Geschichten über Thor, Odins ältestem Sohn, den er wegen seiner gewaltigen Stärke bewunderte und um seinen immertreffenden Hammer Mjölnir beneidete. Heimlich schnitzte er sich aus hartem Wurzelholz eine solche Waffe und hoffte, dass sie Mjölnir ähnlich sei. So schwer wurde sein Hammer, dass Ymir anfangs kaum imstande war, ihn vom Boden aufzuheben. Aber eines Tages schwang er ihn so leicht über seinen Kopf wie die anderen Jungen ihre Steinschleudern. Von dieser Zeit an wurde er Ymir der Bärenstarke genannt.

Einmal, so erinnerte er sich jetzt auf seiner Bank, hatte Embla ihm einen gewaltigen Schreck eingejagt, indem sie seinen Glauben an den unbezwingbaren Thor erschüttern konnte, aber – Odin sei Dank – nur für kurze Zeit. Embla erzählte nämlich folgendes:

Thor kam wähend einer Wanderung nach Utgard, dem Land der Reifriesen, und traf dort auf einen seiner Bewohner. Dieser Riese nun machte Thor durch allerlei Bosheiten so zornig, dass er ihm mit seinem Hammer Mjölnir auf den Kopf schlug. Der Riese zeigte sich jedoch wenig beeindruckt und sagte lediglich: „Nanu, hat ein Laubblatt mich berührt?“

Thor schlug erneut zu – aber alles, was der Riese von sich gab war: „Ich glaube, mir ist eine Eichel auf den Kopf gefallen.“

Ungläubig schwang Thor den Hammer ein drittes Mal und schlug mit der ganzen Kraft, die er aufzubieten hatte, zu.

Die Vögel haben wohl Reisig auf mich geworfen,“ sagte der Riese nur leichthin.

Ymirs Herz hatte wild gepocht und es hatte eine Weile gedauert, bis er sich wieder beruhigt hatte, selbst nachdem Embla den unerhörten Vorfall aufgeklärt hatte. Nach einer langgedehnten Pause sah sie Ymir direkt an und in ihren Augen funkelte es schelmisch: „Du Leichtgläubiger! Warum bist du so blaß geworden? Zweifelst du wirklich an der Stärke Thors? Nun, ich will dich von deinen Qualen befreien. Nicht die Stärke Thors, nicht die Treffsicherheit seines Hammers haben versagt, nein, der Riese war nämlich der Utgard-Loki höchstpersönlich, der König der Reifriesen, der über Zauberkräfte verfügt. Loki hatte bei jedem Schlag einen für Thor unsichtbaren Berg vor seine Stirn gehalten und erst als Thor Utgard verlassen hatte, gab er sich zu erkennen und rief ihm nach: „Ich bin froh, dass du aus meinem Land raus bist und ich werde dich auch nie wieder hineinlassen. Siehst du den Berg da drüben mit den drei tiefen Tälern? Diese Täler hast du mit deinem Hammer geschlagen. Ohne meine Zauberkunst hätte selbst dein schwächster Hieb mich auf der Stelle getötet.“ Dann machte sich Loki unsichtbar und ließ den wutschnaubenden Thor allein zurück.“

Ymir streckte sich und spürte wieder seinen geschundenen Rücken. „Ich brauche einen Berg wie der Utgard-Loki, um mich vor den Schlägen von Gunnars Tochter zu schützen,“ fluchte er. Dann fiel ihm ein, dass Gunnar seinerzeit keineswegs erfreut war über Emblas Geburt, jedenfalls erzählten die Älteren im Tal auch heute noch, wie er nach einem ersten kurzen Blick auf das Neugeborene achselzuckend gebrummt hatte ...

Was soll’s … einmal ist keinmal! Beim nächsten Mal wird’s wieder ein Junge.“

Damit war die Angelegenheit vorerst erledigt, zumal alle folgenden Kinder tatsächlich wieder Söhne wurden. Embla wuchs ganz selbstverständlich als Gleiche unter Gleichen zwischen all ihren Brüdern und deren Freunden auf – niemanden kümmerte das, erst recht nicht, nachdem Emblas Mutter Freydis bei der Geburt ihres elften Kindes gestorben war. Embla selber kam auch nicht auf die Idee, dass es anders sein könnte, und Gunnar war mit dieser Entwicklung zufrieden.

Nur gelegentlich erinnerte er sich daran, dass sie ein Mädchen war, und zwar immer dann, wenn ein Fremder in seiner Halle saß und, vom Met berauscht, leichte Beute für ein Spielchen wurde. Dann ließ Gunnar nämlich seine Kinderschar vorführen und sich in einer Reihe aufstellen. Alsdann forderte er seinen Gast auf herauszufinden, welches davon kein Junge sei und versprach als Belohnung für die richtige Antwort einen Silberbecher. War die Antwort falsch, erhielt Gunnar einen. Eine einfache Sache, so dachte jeder, zumal die Kinder allerlei Wettkämpfe und Geschicklichkeitsspiele vorführten – dabei muss doch ein kleines Mädchen auf den ersten Blick zu erkennen sein. Wenn es so leicht gewesen wäre, dann hätte Gunnar diese Wette ganz sicher nicht angeboten, was jeder, der ihn kannte, hätte wissen müssen. Jedoch die stets gut gefüllten Becher und die alle Sinne benebelnden Duftschwaden von Gebratenem und Frischgebackenem schalteten jede Vorsicht aus. Nicht ein einziges Mal büßte Gunnar einen Silberbecher ein, dagegen nahm die Anzahl seiner eigenen ständig zu, denn eine ganze Weile lang fand er immer wieder neue Opfer.

Irgendwann bekam Ymir mit, dass Embla ein Mädchen ist, wunderte sich kurz, und dachte dann nicht weiter darüber nach. Bis die Zeit kam, als es für jedermann unübersehbar wurde: mit der äußerlichen Veränderung trat auch eine innere ein, denn sie zog sich von nun an zurück von ihren bisherigen Spielgefährten, kein Fluch kam ihr mehr über die Lippen, Schwertkämpfe wurden ihr zu rauh und Fische harpunieren zu grausam. Sie trug ein langes Gewand wie die anderen Frauen und hielt es an der Schulter mit einer hübschen Spange zusammen. Über ihre Arme streifte sie Silberreifen und ihr Haar ließ sie wachsen, bis es zu einem Zopf geflochten werden konnte, in den sie ein blaues Tuch band.

Es ist das gleiche Blau wie das ihres Kleides, und es passt gut zu ihren roten Haaren,“ dachte Ymir verwirrt. Wieso war es plötzlich wichtig, was sie trug und in welcher Farbe? Und rote Haare hatte sie doch schon immer gehabt. Er kam sich ziemlich albern und kindisch vor. Dabei war er schon lange kein Kind mehr. Die Wettkämpfe zwischen ihm und seinen gleichaltrigen Freunden fanden zwar noch statt, aber sie waren ernster geworden und heftiger. Er ging fischen und jagen, wenn Grima was für den Kochtopf brauchte, die meiste Zeit jedoch verbrachte er mit Skadi auf der Werft, denn für Ymir stand fest, dass er ein Schiffbauer wie sein Vater werden wollte.

Das Schlimme jedoch war, dass er sich auf nichts mehr richtig konzentrieren konnte, seit er dieses blaue Band in ihren roten Haaren bemerkt hatte. Er vermisste auch ihre Geschichten, obwohl er sie alle kannte, und sah sie nicht einmal mehr regelmäßig so wie früher. Ymir hatte das Gefühl, dass sie sich immer weiter von ihm entfernte, immer unerreichbarer wurde. Bedrückt und unruhig zugleich lebte er von einem Tag zum nächsten. Gar nichts konnte ihn herausreißen aus seinem Zustand, nichts ging ihm mehr leicht von der Hand. Skadi musste ihn oft unwirsch aus seinen Träumereien wecken: „Glaub ja nicht, dass ich mir deine Faulheit und Vergesslichkeit noch lange mit ansehe, nur weil du mein Sohn bist.. Ich werde mir einen anderen Lehrjungen suchen,“ schimpfte er verärgert. Grima indes ahnte, was in Ymir vorging und hoffte, dass es schnell vorübergehen würde, denn, so vermutete sie, Gunnar würde für Embla sicher einen Häuptlingssohn aus einem anderen Tal aussuchen und sie nicht einem Handwerker zur Frau geben.

Ymir verschränkte die Arme vor seiner Brust, es war kühl geworden.

„Das war eine schlimme Zeit,“ dachte er, „und sie dauerte bis zu dem Tag, der mein Leben mit einem Schlage veränderte.“

An diesem alles entscheidenden Tag war Ymir frühmorgens tief in den Wald hineingegangen, um Bäume zu markieren, die er mit Skadi später fällen wollte. Während er sorgfältig Ausschau hielt nach Stämmen in der passenden Stärke und mit geradem Wuchs, hörte er plötzlich ein leises Schluchzen. Vorsichtig bog er die hochgeschossenen Farnkräuter auseinander – und wer hockte da zusammengekauert mit Tränen in den Augen? Ymir war zu verdutzt, um auch nur ein Wort herauszukriegen. Embla wischte sich über die Augen und sprang erfreut hoch, wobei sie so unglücklich auftrat, dass sie mit einem Fuß umknickte, strauchelte und – hätte sie sich nicht geistesgegenwärtig an Ymir geklammert – unweigerlich in’s Gestrüpp gefallen wäre. Ymir war von den Ereignissen so überrumpelt, dass ihm die naheliegendste Frage, wieso gerade sie sich verlaufen hatte, kannte sie doch den Wald so gut wie kaum ein anderer, gar nicht in den Sinn kam. Dieses zitternde, hilflose, über alle Maßen dankbare, ihn vertrauensvoll umklammernde Geschöpf brauchte seinen Schutz. Welch ein glücklicher Zufall, dass er zur rechten Zeit am rechten Ort war zu ihrer Rettung.

„Ha, von wegen Zufall, von wegen hilflos,“ dachte er und musste trotz allem grinsen, „war alles von ihr genau geplant.“ Embla hatte schon immer genau gewusst, was sie wollte – und es auch immer bekommen. „Das ist das Problem,“ Ymir kniff die Lippen zusammen, „zum ersten Mal in ihrem Leben läuft es nicht so, wie sie es will. Darum ist sie so unzufrieden, so aufbrausend, so giftig.“

Der Heimweg von Ymir und Embla durch den Wald von Dragensfjell an diesem denkwürdigen Tag zog sich in die Länge, denn obgleich Ymir sie fest um die Taille gefasst hatte um sie zu stützen, kamen sie nur langsam vorwärts. Als sie beide schließlich gegen Abend den Eingang zur Schlucht erreicht hatten, waren sie sich einig: sie würden heiraten. Ymir kam sich wie in einem Traum vor, zweifelte aber nicht daran, dass dieser wundervolle Traum in Erfüllung gehen würde – Embla hatte entschieden, das genügte. Als sie auseinandergingen, hüpfte sie vergnügt heim.

Gunnar machte keinerlei Anstrengungen, seiner Tochter den selbsterwählten Bräutigam auszureden. Nicht unbedingt aus Vaterliebe, Gunnar hatte ganz andere Gründe: Kein ehrgeiziger Schwiegersohn, der ihm zum Konkurrenten werden konnte, die nächste Generation hervorragender Schiffbauer fest an seinen Hof gebunden – mit der Aussicht auf die übernächste. Gunnar hatte schon immer weit in die Zukunft geplant und seine eigene war eng verbunden mit seinen seit Jahren im Geheimen, aber konsequent verfolgten Zielen. So forderte er als einzige Bedingung, dass Ymir vor der Hochzeit auf Reisen gehen solle. Auch dabei ging es nicht darum, dass Ymir was von der Welt sehen sollte, nein, Gunnar fehlte einfach noch ein kräftiger Bursche in einem seiner Boote für die bevorstehende Fahrt ins Sachsenland, wo eine größere Gruppe von seinen Leuten eine Siedlung gegründet hatte, von der aus sie Beutezüge ins Landesinnere unternahm. Von Zeit zu Zeit holte sich Gunnar seinen Anteil und kontrollierte gleichzeitig, ob die Gruppe weiterhin loyal ihm gegenüber war. Das erreichte er dadurch, dass immer einige seiner Männer aus dem Tal für ein oder zwei Jahre im Sachsenland blieben, „um die Siedler zu unterstützen“ wie Gunnar es nannte.

Ymir schaute auf das breite, farbige Band am Horizont. Um die schmale Kuppe der untergehenden Sonne glühten orangerote Streifen, durchzogen von langsam dahingleitendem Gewölk, übergehend in ein dunkles Rot, dann in ein tiefes, ruhiges Violett, an den Rändern sich auflösend im Dunkelblau der Nacht. Morgen würde es wieder einen strahlend schönen Frühlingstag geben.

„So schön wie der Tag der Abreise damals,“ erinnerte er sich ...

als er aufrecht in seinem Boot stand, den ungewohnten schweren Helm auf dem Kopf, die Streitaxt am Gürtel, den Wurfspeer in der rechten und den Schild in der linken Hand. Reglos, den Blick abwechselnd auf Embla, auf seine Eltern und auf Gunnar gerichtet. Während sie mit prall geblähtem Segel aus dem Fjord hinaus aufs offene Meer glitten, stürmten sehr gemischte Gefühle auf Ymir ein: Freudige Erwartung, Lust auf Abenteuer, Tatendrang, aber auch die bange Frage, ob Embla ihm wohl treu bliebe, und der nagende Zweifel, ob er sich bewähren oder überhaupt zurückkehren würde, denn Seefahrten waren gefährlich. Stürme und hoher Wellengang bedrohten sie ebenso wie Seeräuber, die kein Erbarmen mit den Besatzungen eroberter Schiffe kannten.