Alua

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Beim churrasco schnattern die Kinder aufgeregt durcheinander. Den Jüngeren merkt man die Erleichterung an, dass ihre geliebte Lehrerin zurückgekehrt ist. Sie hatten doch tatsächlich Angst, diese ginge ihnen verloren, so wie auch immer mal wieder ein Vater auf Nimmerwiedersehen verschwindet. Später, bevor die Familie zur Abendmesse aufbricht, packt Celina noch rasch ihre Reisetasche aus. Ihr Zimmer ist gelüftet und frisch hergerichtet. So, als ob sie überhaupt nicht weggewesen wäre. Solch geballte Armut wie in den letzten Wochen hat Celina noch nicht erlebt, und so wird sie wenig später bei der Abendmesse Gott aus ganzem Herzen für ihr behütetes Heim, ihre alles in allem erfolgreiche Mission und ihre glückliche Rückkehr danken. Nach dem Kirchgang findet sich die Familie auf der häuslichen Terrasse zu einem Plausch ein. Es ist Vollmond. Die Grillen zirpen und Frösche quaken in dem nahen Teich. Eine Nacht wie im Märchen. Mutter und Großvater ziehen sich alsbald zurück. Celina und João haben sich soviel zu erzählen, und Dom Augusto findet, das sollen die jungen Leute mal ungestört tun. Es wird spät werden, bis sich die jungen Lehrer trennen. Da gibt es unendlich viele Gedanken auszutauschen, und nicht zuletzt genießen Celina und João das traute Zusammensein, auf das sie so viele Wochen verzichten mussten. Später auf ihrem Zimmer fragt sich Celina, wo Alua heute abgeblieben ist. Großvater war recht einsilbig, als sie nach ihr fragte: „Dies hat Zeit bis Morgen.“ Zu mehr war der alte Herr nicht zu bewegen. Celina fällt in einen traumlosen, erquickenden Schlaf. Als sie erwacht, steht die Sonne schon hoch am Himmel. Verschlafen! Dies ist ihr schon lange nicht mehr passiert. Nach einer kühlen Dusche und einem erfrischenden Tropensaft eilt sie zu den Pferdeställen. Es ist Sonntag. Sie schwingt sich auf ihr Pferd. Natürlich erst, nachdem sie ihm das obligatorische Stück Zucker gereicht hat. Im warmen Sonnenschein reitet sie die Grenzen ihres Besitzes ab. Sie sieht das geliebte Land heute mit den Augen eines gereiften Menschen. Dieses Stück Land ist ein Juwel, den sie pflegen und wenn nötig auch verteidigen wird. Dies schwört sich die junge Lehrerin, als sie auf dem kleinen Hügel rastet. Von hier oben hat sie einen weiten Blick über die grünen Felder, den Fluss und den in der Sonne glitzernden See.

Eine böse Überraschung

Celina kommt mit erhitzten Wangen von ihrem Ausritt zurück. Als sie über den Hof eilt, läuft sie Dom Augusto direkt in die Arme. Der alte Herr ist glücklich, seine Enkelin wieder zu Hause zu haben. Sie ist sein ganzer Stolz und seine Vertraute. Deshalb schmerzt es ihn auch besonders, dass er ihr gleich weh tun muss. Doch Dom Augusto ist für klare Verhältnisse. Liebevoll hakt er sich bei Celina unter. Sein Rheumatismus plagt ihn heute. Leicht hinkend führt er seine Enkelin tief in den Garten hinein. Die Blütensträucher bilden hier einen lebenden Zaun. Nur ein enger Pfad schlängelt sich durch dieses blühende Labyrinth. Jetzt wird der Weg noch schmaler. Die dornigen Rosenhecken verhindern fast das Durchkommen. Bei jedem Schritt laufen sie Gefahr, sich in den Dornen zu verfangen oder im dichten Unterholz zu straucheln. Plötzlich krampft sich Celinas Herz zusammen: Alua, es kann sich nur um ihre Pflegetochter handeln, dass Großvater so schweigsam ist und mit solch einer verbissenen Miene die Dornen zur Seite schiebt. Unerwartet endet der Pfad auf einer kleinen Lichtung. Es trennen sie nur noch wenige Meter von dem alten Geräteschuppen. Nachdem die neuen Stallungen fertiggestellt sind, ist er in Vergessenheit geraten. Großvater stapft noch immer schweigend dahin. Jetzt sperrt er die Türe zum Schuppen auf, tritt ein und öffnet den Fensterladen. Celina folgt zögernd. Im Schuppen ist es dämmrig. Trotzdem fühlt sie, irgendetwas stimmt hier drinnen nicht. Sie ist irritiert. Es gibt in dem kleinen Raum keine Spinnengewebe, kein Gerümpel. Im Gegenteil, der Raum scheint bewohnt zu sein. Neugierig blickt sie sich um. Das gibt es doch nicht. Überall stehen und liegen Gegenstände, die ihr in den letzten Monaten abhanden gekommen sind. „Großvater“, stößt Celina mit brüchiger Stimme hervor. „Ich kann nachfühlen, wie dir zumute ist“, brummt Dom Augusto. „Aber je eher du es weißt, je besser ist es für dich. Dein Schützling ist eine Diebin und eine macumbeira.“ Lange betrachtet die junge Lehrerin all die Utensilien, die Alua hier zusammen geschleppt oder richtigerweise, geraubt hat. Großvater öffnet eine kleine Dose. Celina findet darin ihre Geldbörse und einhundert Reais. Es ist die Geldbörse, die sie nach Aluas Abreise so verzweifelt gesucht hat. Auf dem Kaminsims liegt ihre silberne Kette und auf dem Boden ihre seidene Bluse. Achtlos weggeworfen, wie einen alten Scheuerlappen. Mit zitternden Händen öffnet Celina Aluas schmale Zeichenmappe. Bilder flattern zu Boden. Als Celina diese wieder einsammelt, starrt sie entsetzt auf eine Kohlezeichnung. Eine riesige Schlange, in deren weit aufgerissenem Maul ein Kind verschwindet! Die Zeichnung trägt das Todesdatum des Kleinen. Dom Augusto schiebt seine verstört dreinblickende Enkelin sachte aus dem Schuppen. Sorgfältig verschließt er Fenster und Türe. Den Schlüssel steckt er ein. Schweigend zwängen sich Großvater und Enkelin durch die Dornenwand zurück. Wie in Trance schreitet Celina dem Haupthaus zu. Besorgt sieht João, wie eine bleiche, zitternde Celina im Büro von Dom Augusto verschwindet. Die junge Lehrerin berichtet ihrem Großvater nun in allen Einzelheiten die Vorkommnisse im ersten Schuldorf. Als sie mit ihrem Bericht zu Ende ist, sieht sie Dom Augusto fragend an. Nun ist es an Großvater, zu erzählen, was er in den letzten Monaten auf dem Landgut beobachtet hat: die wachsende Unruhe und Unstetigkeit des Mädchens haben Dom Augusto bewogen, ein wachsames Auge auf es zu richten. Da der alte Herr in den Vollmondnächten noch weniger Schlaf als gewöhnlich findet, verbringt er viel Zeit auf der kleinen Veranda vor seinem Schlafzimmer. Es fällt ihm auf, dass Alua, wenn es still im Hause geworden ist, über den nächtlichen Hof huscht. Er beauftragt den Nachtwächter, ihr nachzugehen. Doch Alua kann stets entwichen. Das naheliegendste ist, dass sich das junge Mädchen mit einem der Stallknechte in einer dunklen Ecke vergnügt. Dem will Dom Augusto einen Riegel vorschieben, und so bietet es sich an, Alua mit Celina auf die Reise zu schicken. Großvater ist bewusst, dass das Mädchen keine angenehme Reisegefährtin sein wird. Aber Celina wollte es unbedingt aufnehmen, so liegt es auch in ihrer Verantwortung, es zu schützen. Großvater will Alua aus dem Bereich der lüsternen Männerblicke entfernen. Er hat es so oft erlebt. Immer das gleiche Spiel. Die Burschen verführen die jungen Dinger, zeichnet sich dann aber eine Schwangerschaft ab, verschwinden sie meist auf Nimmerwiedersehen. Die Mädels sind natürlich auch nicht unschuldig. Das weiß der alte Mann aus eigener Erfahrung. Celinas Mutter ist die Frucht solch heißer Liebesnächte. Seine Gattin, Gott hab sie selig, hat das Körbchen mit dem schreienden Baby wortlos in das gemeinsame Schlafzimmer gebracht. Es war im Morgengrauen vor dem Eingang des Herrenhauses abgestellt worden. Eigene Kinder blieben seiner Gattin versagt, und so schenkte sie all ihre Liebe diesem kleinen Findelkind.

Dom Augustos Blick scheint aus weiter Ferne zurückzukehren, als er seinen Bericht fortsetzt: nach eurer Abreise verfängt sich der Drachen eines der Kinder des Nachtwächters in den Blütenhecken. Tja, und bei der Suche nach dem Drachen finden die Kinder den verborgenen Pfad, der zu dem Schlupfwinkel führt. Dom Augusto öffnet den Schuppen und so wird Aluas Treiben Stück für Stück, wie ein Puzzle zusammengefügt. In diesen Tagen trifft auch Celinas erster Reisebericht ein. Der Brief wirkt zum Ende hin so verkrampft, dass Dom Augusto weiß, dass etwas schreckliches vorgefallen sein muss. Sofort tippt er auf Alua und beordert sie zurück. Dem Nachtwächter schärft er ein, Stillschweigen über die Entdeckung zu wahren. Er will das Mädchen auf frischer Tat ertappen. Es dauert nicht lange, bis Alua zu dem Schuppen schleicht. Letzter schlüssiger Beweis sind die kleine Geldbörse, das Abschiedsgeschenk von Dom Augusto an seine Enkelin. Müde erhebt sich Celina. Sie wird noch ein letztes mal zur Hütte der Krabbenfischer gehen. Die junge Lehrerin fühlt sich wie in einem bösen Traum, aus dem sie unversehrt zu erwachen hofft. „Nimm João mit“, brummt Großvater. Er versteht nur zu gut die Enttäuschung seiner Enkelin. Aluas Eltern begrüßen den Besuch freudig. Trotzdem klingt ein leiser Vorwurf in der Stimme der Mutter, als sie fragt, weshalb Celina ihr Töchterchen alleine zurückgeschickt habe. Solch ein junges und unerfahrenes Kind sei doch gegen die Bosheiten der Welt noch nicht gewappnet. Erst jetzt fällt den Fischerleuten auf, dass Celina merkwürdig ernst dreinschaut. Gönnerhaft beendet die Fischerfrau ihre Beschwerde mit den Worten, dass ihre Tochter selbstverständlich am nächsten Morgen ins Herrenhaus zurückkehre. Offensichtlich hat das Mädchen ihren Eltern nichts von dem berichtet, was sich auf der Reise und im Herrenhaus zugetragen hat. Nun liegt es an den Besuchern, die Krabbenfischer aufzuklären. Die Eltern schweigen. Sie sind sichtlich erschüttert. Betroffen geht man auseinander. Beim Abendessen im Hause von Dom Augusto herrscht eine gedrückte Stimmung. Großvater, Celina und auch João stochern lustlos auf ihren Tellern herum. Allen ist klar, für Alua gibt es kein zurück. Sie hat ihre Chance gehabt und vertan. Da tritt Chica in den Speisesaal und verkündet, für Celina sei Besuch angekommen. Júlios massige Gestalt füllt bedrohlich den Türrahmen aus. Celinas erster Gedanke beim Anblick ihres Verlobten: „Fett ist er geworden und dieser schmierige Zwirbelschnurrbart, einfach widerlich.“ Als Júlio ihr einen Willkommenskuss auf die Wange haucht, möchte Celina angeekelt zurückweichen. Ein Alkoholdunst umgibt ihren Verlobten, und sein glasiger Blick lehrt sie fürchten. „Warum verlassen Großvater und João den Speisesaal?“, denkt sie verzweifelt. Sie geleitet ihren Verlobten in den kleinen Salon. Auf seine Vorwürfe, von wegen nicht geschrieben, antwortet sie nicht. Sie fühlt sich zu müde und ausgelaugt, um zu den unberechtigten Vorwürfen Stellung zu nehmen. Als Júlios Stimme an Schärfe zunimmt, wird Celina bewusst, dass sie ihm überhaupt nicht mehr zuhört. Wie aus weiter Ferne dringen seine nächsten Worte in ihr Bewusstsein: „Wir müssen über unsere Vermählung reden. Ich gehe in die Politik, und da brauche ich eine Frau, mit der ich repräsentieren kann,“ „und ihr Geld“, tönt es trocken von der Türe her. Es ist die Köchin Chica, die soeben ein Tablett mit Saft hereinträgt. Kein anderer Dienstbote würde es sich anmaßen, in die Unterhaltung der Herrschaften einzugreifen. Gläser klirren über die Kacheln. Júlio verlässt fluchend das Haus. Celina sitzt am nächsten Morgen schon früh mit einem Espresso auf der Terrasse. Vergangene Nacht hat sie kaum Schlaf gefunden. Das „in die Hände klatschen“ verrät ihr, dass jemand um Einlass bittet. Wer mag das zu so früher Stunde sein? Fragend schaut sie zum Tor? Da stehen Alua und ihre Eltern. Verlegen treten sie ein. Aus Dona Elisas Mund sprudeln die Worte wie ein Wasserfall: ihre Tochter habe gestanden, den kleinen Geldbeutel entwendet zu haben. Celina sieht Alua forschend an und fragt, ob sie nicht ein umfassendes Geständnis ablegen will. Trotzig schüttelt das Mädchen den Kopf und bestreitet heulend all die anderen Diebereien. Mit traurigem Blick erhebt sich Celina. Auf Lügen kann sie keinen neuen Anfang aufbauen. Es ehrt zwar Dona Elisa und Dom Pedro, dass sie den Mut aufbringen und sich für ihre Tochter entschuldigen, aber Tatsache bleibt, das Mädchen zeigt keine Reue. Als Celina die drei nach kurzem Gespräch verabschiedet, ist eine Freundschaft unwiderruflich zerbrochen. Natürlich hat Dona Elisa, vielleicht sogar ungewollt, dazu beigetragen, dass ihre Tochter zur Diebin wurde. Die vielen versteckten Forderungen seitens der Mutter an das Herrenhaus konnte die Lehrerin nicht erfüllen, und Alua wusste das. Es gibt leider viele solche Konflikte in diesem so unterschiedlich strukturierten Land, und nicht wenige Menschen versuchen, auf diesem schmalen Grad zwischen Recht und Unrecht zu balancieren. Mit festen Schritten eilt die junge Lehrerin zur Schule. Das neue Schuljahr beginnt, und Celina ist trotz der großen Enttäuschung, die sie gerade erfahren hat, bereit, ihren Schülern aufs Neue ihre Hilfe anzubieten.

 

Geschichte erleben

Die Schüler jubeln und klatschen Beifall. Zum Beginn des neuen Schuljahrs präsentiert ihre Lehrerin soeben eine tolle Überraschung: Dona Celina, die junge Lehrerin, wird den Geschichtsunterricht in diesem Jahr in die Baia do Marajó verlegen. Einen vollen Monat dürfen die Schüler in Großvaters kleinem Bauernhof zu Gast sein, um dort die Geschichte Brasiliens nicht nur aufzuarbeiten, sondern auch hautnah nachzuerleben, „wir werden weit zurückgehen. Ihr wisst, die Kolonisierung Brasiliens beginnt lange vor der Entdeckung durch die Portugiesen im April 1500. Da gibt es Wissenschaftler, die Zeichen der ersten Besiedlung festgestellt haben wollen, die 30.000 Jahre zurückliegen. Andere sprechen von 12.000 Jahren. Tatsache ist, dass wir uns diese Zeiträume kaum vorstellen können. Die ersten uns bekannten Menschen, die in dem heutigen Brasilien ihr Zuhause finden, sind Indianer. Die überwiegende Zahl der Wissenschaftler vertritt die Meinung, dass diese Ureinwohner von Asien gekommen sind. Es muss zu jener Zeit gewesen sein, als es zwischen Sibirien und Alaska eine Landverbindung gibt. Der Meeresspiegel hatte sich aufgrund klimatischer Einflüsse vorübergehend gewaltig gesenkt. Die wieder verschwundene Landverbindung ist dort, wo sich die heutige Behringstraße befindet,“ erklärt die Lehrerin einer gespannt zuhörenden Schülerschar. Die Reisevorbereitungen nehmen Lehrer und Schüler voll in Anspruch. Die Zeit verrinnt wie im Fluge und plötzlich ist der Tag der Abreise angebrochen. Die Schüler können es kaum fassen, dass sie in ihrem eigenen Omnibus reisen werden, und dass derselbe ihnen auch in Marajó für kleine Exkursionen zur Verfügung stehen wird. Die Abfahrt zur Schiffsanlegestelle ist für pünktlich fünf Uhr früh angesetzt, denn die Autofähre läuft nur einmal täglich aus. Eine halbe Stunde später stehen die Schüler aufgeregt an der Reling des Schiffes. Für die meisten ist es die erste Reise. Den Eltern fehlt einfach das Geld, um eine Schiffspassage kaufen zu können. Pünktlich lassen die starken Schiffsmotore die zweistöckige Autofähre erzittern. Rasch nimmt sie Fahrt auf. Die erste Amazonasinsel ist schon passiert, gerade taucht ihre Insel auf. Die Schüler suchen aufgeregt nach Erkennungsmerkmalen. Der markanteste Punkt ist natürlich der hohe Sendeturm für die Telefonanlagen des gesamten Staates. Die Fischerjungen, welche die Insel von der Flussseite kennen, schneiden natürlich ganz schön auf und haben, wie kann es anders sein, sofort eine Schauergeschichte parat: Da soll doch tatsächlich der Großraum Belém auf dem Rücken einer mächtigen Schlange erbaut sein. Wenn sich die Schlange eines Tages auf Futtersuche begibt, dann wird die Stadt, mit all ihren Bewohnern, in die Tiefe der Guajará-Bucht gerissen. Die Kleinen sind sichtlich beunruhigt und atmen hörbar auf, als sie den Einzugsbereich der Schlange verlassen und die nächste Insel in Sicht kommt. Hier dreht die Fähre ab und fährt weit in die Bucht hinaus. Es dauert nicht allzu lange, bis der schmale Küstenstreifen von Marajó die Kinder in Aufregung versetzt. Celina mahnt sie, ihre Siebensachen zusammenzusuchen. In knapp einer halben Stunde wird man im Hafen von Camará an Land gehen. Welche Abenteuer wird die kleine Gruppe auf der Insel erwarten? Gespannt fiebern die Schüler der nun schnell näher kommenden Küste entgegen.

Der Bus holpert schon geraume Zeit über die endlosen Viehweiden. Fünf große Jungs sind dafür abgestellt, die Gatter, welche die Weiden voneinander trennen, zu öffnen und, nachdem der Bus passiert ist, wieder zu schließen. Die bulligen Büffel, die in kleinen Trupps den Wasserstellen zustreben, flößen schon Respekt ein. Die Jungen möchten ihnen keinesfalls zu Nahe kommen. Gerade entdeckt eines der Kinder hinter einer Baumgruppe den kleinen Bauernhof. Im Bus wird es unruhig, als sie in die palmengesäumte Allee einbiegen. Kaum hält der Bus, da stürzen die älteren Kinder auch schon los, um im Schlafsaal einen ihnen genehmen Platz für die Hängematte zu ergattern. Doch diese Eile war umsonst. João kennt seine Rasselbande. Er weiß genau, wen er vor wem fernhalten muss, damit die Kleinen die nötige Nachtruhe bekommen. Er zückt seinen Plan, liest mit erhobener Stimme die Hausordnung vor und weist die Schlafplätze zu. Die Hängemattenhaken am Ausgang sind selbstverständlich dem Betreuer vorbehalten. Mit dieser Maßnahme will er sicherstellen, dass des Nachts niemand zu verbotenen Streifzügen aufbricht. Der Schlafsaal der Mädchen liegt auf der anderen Seite des Gebäudes. Die sechs Waschanlagen im Freien und die Stehklosetts erwecken allgemeine Heiterkeit. Nachdem das Reisegepäck verstaut ist, begeben sich die Schüler mit ihren Lehrern auf einen gemeinsamen Rundgang durch das Gehöft. João stellt nochmals klar, was erlaubt und was verboten ist. Er lässt keinen Zweifel daran, dass diejenigen, die gegen die Hausordnung verstoßen, mit der nächsten Fähre zurückgeschickt werden. Nach der gemeinsamen Begehung des Hofes bleibt den Schülern bis zum Abendessen Zeit, auf eigene Faust ihr neues Domizil zu erkunden. „Der Schulunterricht beginnt morgen zur gewohnten Zeit“, fügt Celina den Ausführungen des Lehrers hinzu. Die junge Lehrerin versteht es meisterhaft, die Geschichte Brasiliens mit einfachen Worten so fesselnd darzustellen, dass alle Augen gespannt an ihren Lippen hängen. Die Schüler erfahren, dass die Ureinwohner Brasiliens, nämlich die Indios, in vier große Sprachräume eingeteilt waren: Es sind die tupi, beheimatet im Gebiet zwischen den heutigen Bundesstaaten Amazonas und Rio Grande do Sul; die gê, ansässig im weiter östlich liegenden Araguaia – Tocantins – Becken; die carib, anzutreffen im Mato Grosso und Nordamazonas und die arauaque, zu finden im Pantanal und Westamazonas. Die Ankunft der Portugiesen am 22.04.1500 unter Pedro Álvares Cabral ist natürlich eine bekannte Tatsache. Das Aufeinanderprallen dieser so unterschiedlichen Kulturen und ihre Auswirkung auf das Leben der Indios wird vielen Schülern aber erst jetzt so richtig bewusst. „Die Menschen, in der Abgeschiedenheit des tropischen Regenwaldes, können sich nicht vorstellen, dass man im fernen Europa für den Winter Vorsorge treffen muss, weil da eben sogar nichts mehr wächst, und dass man zudem warme Kleidung und eine geheizte Wohnung benötigt. Wer es während der Besiedlungszeit Südamerikas im von Hungersnöten geplagten Europa nicht versteht, rechtzeitig für die kalte Jahreszeit vorzusorgen, spielt mit seinem Leben. Diese Notwendigkeit liegt außerhalb des Vorstellungsvermögens der Indios. Für sie gibt es nur ihren eigenen begrenzten Lebensraum. Da auch lange Zeit keine sprachliche Verständigung mit anderen Indios möglich ist, leben die verschiedenen Volksgruppen recht isoliert nebeneinander her. Man bedenke, es konnten weder die einzelnen Indiostämme untereinander kommunizieren, geschweige denn, die Indios mit den Europäern. Auffällig ist, dass alle Indios unbefangen und freundlich auf die Fremden zugehen. Ganz anders die Europäer: bedingt durch den ständigen Überlebenskampf in ihrer fernen Heimat ist ihr Handeln von Anfang an auf Profit und Unterjochung ihrer Umwelt ausgerichtet.“ Celina macht es Spaß, nach ihrem einleitenden Vortrag die Schüler in eine lebhafte Diskussionen zu verwickeln. Sie weiß, eine gesunde Portion Selbstbewusstsein gehört zum Rüstzeug eines tüchtigen Menschen. Die Lehrerin muss lächeln, wenn sie daran zurückdenkt, welch eine passive und desinteressierte Schülerschar ihr bei Übernahme ihres Lehrauftrags gegenüber saß. Heute morgen hat João eine Überraschung für die Kinder. Er schlägt vor, man könne doch nächste Woche, nämlich am 22. April, die Ankunft der Portugiesen schauspielerisch darstellen. Anstatt mit dreizehn Karavellen würden sie eben mit einem Floß anlanden, und die Ankunft müsse ja auch nicht unbedingt in Porto Seguro, das im heutigen Bundesstaat Bahia liegt, stattfinden. Der Strand von Joanes auf der Insel Marajó wäre der Baía Cabrália durchaus ebenbürtig. Gesagt, getan. Die kommenden Tage verbringen die Schüler mit dem Zuschneiden von Floßteilen, die dann am Wochenanfang mit dem Bus zum Strand transportiert und dort unter der fachkundigen Anleitung von João zu einem seetüchtigen Floß zusammengefügt werden. In die über vierzig Kilometer breite Bucht von Marajó dringt schon das Wasser des Atlantiks. Folglich kann es hier recht stürmisch werden. Meterhohe Wellen donnern an diesen Tagen zum Strand. Celina überprüft sorgfältig die Schwimmkenntnisse der Schüler. Nur sichere Schwimmer werden mit dem Floß anlanden. Währenddessen stellen die jüngeren Kinder unter Anleitung der Ehefrau des Verwalters Baströckchen her. Andere sammeln Beeren und Früchte, die dann an den langen Abenden im Schein der Petroleumlampen zu Halsketten und bunten Haarbändern verarbeitet werden sollen. Am Nationalfeiertag fehlen selbst die braunen Kutten nicht, welche die Jesuiten tragen. Die erfinderische Celina hat Kaffeesäcke braun einfärben lassen. Die Bewohner aus den umliegenden Dörfern kommen an dem Feiertag schon frühzeitig zum Strand. Es hat sich schnell bei den Inselbewohnern herumgesprochen, dass eine kostenlose Theateraufführung stattfindet, und zudem noch Freiwillige als Statisten gesucht werden. Die improvisierte Ankunft der Portugiesen wird ein voller Erfolg, und die Besucher halten nicht mit Beifallskundgebungen zurück. Dom Augusto und Celinas Mutter sind bereits am Vorabend angereist. Sie wollen sich dieses Spektakel ebenfalls nicht entgehen lassen, das, wie Dom Augusto in seiner anschließenden Rede gerührt zum Ausdruck bringt, all seine Erwartungen übertrifft. Als Dank lädt er die Schüler für den nächsten Vormittag zu einem Ausflug in das Museum in Cachoeira do Ararí ein. Das Museum ist in einer schlichten Halle untergebracht. Umso reicher sind jedoch die Funde, die von den Archäologen hier zusammengetragen werden. Die Sammlungen spiegeln fünf Zeitalter der indianischen Geschichte wieder: Es sind: ANANATUBA 980 v.Chr. +/- 200 Jahre, MANGUEIRAS zeitgleich mit dem letzten Drittel von ANANATUBA/FORMIGA 100-400 n. Chr., MARAJOARA 480 n.Chr. +/- 200 Jahre, 580 n. Chr. +/- 200 Jahre und 690 n. Chr. +/- 200 Jahre und ARUA 12. – 18. Jahrhundert. Die ältesten Funde werden der Zeit 980 v.Chr. Zugeordnet. Bemerkenswert ist, dass es selbst innerhalb einer Epoche unterschiedliche Lebensstandards unter den Indianern gibt. Noch bewahren die Grabstätten auf der Insel Marajó und in ganz Amazonien viele Geheimnisse. Erstaunlich ist, dass die Chronik der Missionare keine Hinweise darauf geben, dass die Indianer bereits eine beachtenswerte Kulturstufe erreicht hatten. Es drängt sich die Frage auf, ob diese bei der Ankunft der Portugiesen schon wieder untergegangen war oder ob die europäischen Einwanderer in ihrer Überheblichkeit die fremden Kulturen überhaupt nicht erkannten? Celina kündigt rechtzeitig an, dass man über den Museumsbesuch einen Aufsatz schreiben werde. Damit will sie erreichen, dass die Schüler den Ausstellungsstücken die gebührende Beachtung schenken. Die Schüler erfahren ferner, dass durch die Kolonisierung Brasilien bald zum Tummelplatz der Europäer wird. Portugiesen, Spanier, Franzosen und Holländer werden sich im offenen Kampf um die Vorherrschaft in Südamerika gegenüberstehen. Sie werden die Indios versklaven und damit nicht genug, sie werden schwarze Sklaven aus Afrika heranschiffen und unter miserablen Bedingungen auf ihren Zuckerrohrplantagen schuften lassen. „Woher nehmen sich diese Fremden das Recht, andere Völker zu unterjochen und sich als weiße Herren aufzuspielen?“, fragt die Lehrerin empört. Ruhiger fährt sie fort: „Es ist schon eine große Arroganz, wenn man bedenkt, dass sie in ihren eigenen Ländern den Hungersnöten und Krankheiten hilflos gegenüberstehen. Bewohner ganzer Landstriche Europas werden in jener Zeit durch Epidemien, wie zum Beispiel die Pest, dahingerafft. Betrachten wir Lissabon: vor dem fürchterlichen Erdbeben am 1.11.1755 leben die Menschen in dieser Stadt in engen, dunklen Gassen, in denen der Schmutz ein ständiger Begleiter und Nährboden für Infektionen ist. Diebesbanden streichen zudem des Nachts durch die Gassen, und so zieht es die verängstigte Bevölkerung vor, bei Einbruch der Dunkelheit ihre Häuser nicht mehr zu verlassen. Ein anderes großes Problem Lissabons ist der Mangel an Trinkwasser. Es ist eines der kostbarsten Güter jener Zeit und durchaus nicht für alle Bevölkerungsschichten bezahlbar. Unglücklicherweise haben die Ureinwohner Brasiliens keine Vorstellung davon, welch widrige Umstände mit ein Grund dafür sind, dass die Weißen in ihrer Heimat aufbrechen, um neue Lebensräume zu erschließen. Hätten sie die Probleme und Absichten der Fremden auch nur ansatzweise gekannt, wären sie ihnen wohl nicht so unbefangen entgegengetreten.“ Das soeben Gehörte stimmt die Schüler nachdenklich. Die Geschichte ihres Landes wird künftig nicht mehr nur aus Jahreszahlen und Fakten bestehen, die man büffeln muss. Da gibt es Hintergründe zu beachten und es drängen sich Fragen auf, wie die Entwicklung ihres Landes verlaufen wäre, wenn das eine oder andere Ereignis nicht, oder zu einem anderen Zeitpunkt eingetreten wäre. Zum Ende des Geschichtskursus blicken nicht nur die Schüler, sondern auch die Lehrkräfte mit Freuden auf die gemeinsam verbrachte Zeit auf Marajó zurück.