50 Meisterwerke Musst Du Lesen, Bevor Du Stirbst: Vol. 2

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Kapitel Drei­und­dreißig

Gärten, Berge und Inseln

Nachts, wenn man an das Fenster tritt und das Meer liegt still und keine Brise geht, dann spürt man es an dem weichen, satten, mit geheimnisvollen Ölen und Harzen durchsüßten Atem der Luft, daß man in Rio immer inmitten von Bäumen und Gärten ist. Man begegnet ihnen überall. Nie eine Minute ohne einen Blick auf Grün. Die Straßen sind vielfach mit Palmen bestanden, um jedes kleine Haus quellen dichte Büschel, mit Blumen und sonderbaren Früchten durchsprenkelt, und je mehr man sich vom Meere entfernt, um so üppiger entfalten sich die Parks, und manche der Villen verschwinden fast völlig in ihrer andrängenden Umfassung. Immer sieht man auf Grün und überall. Manchmal weitet es sich zu breiten Gärten, wie auf der Praça Paris und Praça da República, aber innerhalb der Stadt ist es immer noch gezähmte, gebändigte, gehütete Natur. In Trijuca aber schon wirft sie sich ungestüm wie ein Ozean heran, ein dicht verschlungenes Gewirr von Bäumen und Sträuchern und Lianen, es ist, als ob – so wie beim Meere die Wellen wetteifern, zuerst an den Strand zu gelangen – diese Stämme und Gipfel miteinander ringen und kämpfen würden, um aus dem grünen Dickicht hinauf an die Sonne sich durchzustoßen. Wald ist hier nicht wie bei uns dämmernder Durchblick, sondern dunkle kompakte Masse, und wenn man versucht, in ihn einzudringen – nur einige Schritte – so fühlt man sich gefangen, isoliert wie unter einer Taucherglocke; der Atem spürt die fremde und zusammengedrängte Luft wie den schwülen feuchten Atem eines riesigen und gefährlichen Tiers; man hat – eine Stunde von der Stadt – an die Zone des Urwalds gerührt.

Darum ist der Botanische Garten Rios, – der nach Aussage aller Fachleute (ich bin es nicht) auch der reichhaltigste der Welt sein soll – ein solches Wunder und eine solche Wohltat. Hier ist alles, was der Urwald enthält, ohne seinen Schrecken, seine Endlosigkeit, seine Unwegsamkeit, seine Gefahr. Hier sind alle Bäume, alle Pflanzen, alle Phänomene der Tropen in ihren großartigsten Exemplaren, und man kann sie mühelos bewundern. Schon die eine gigantische Palmenreihe des Eingangs ist ein wunderbares Bild, die Triumphallee, die sich ein König – König João VI. – vor anderthalb Jahrhunderten errichtet hat, und die so herrlich symmetrisch und aufrecht steht wie die Säulenreihe eines tausendjährigen griechischen Tempels. Man hat unzählige Palmen gesehen, hier in Brasilien und anderorts, und meint doch nie gewußt zu haben, wie herrlich majestätisch, wie wahrhaft königlich eine Palme sein kann, ehe man diese sah – kerzengrade, wunderbar rund der Stamm mit seiner arabisch-feinmaschigen Panzerhaut und hoch dann, o, ganz hoch, viel höher als man jemals den Blick erhoben, die Krone. Und rings herum, zur Rechten, zur Linken dann die Vasallen, herberufen aus allen Ländern und Zonen, aus Sumatra und Malakka, aus Afrika und vom Äquator, ein Riesengeschlecht vielfältigster Art. Man weiß sie nicht anzusprechen, man weiß ihre Namen nicht, man kennt die Früchte nicht, die sonderbar geformten und gefärbten, die sie in ihrem Laubwerk tragen, aber man spürt, daß diese Riesen uralter Herkunft sind, und man sinnt den exotischen Fernen nach, aus denen sie gekommen, um ihre Früchte und Farben vereinigt hier darzubieten. Und dann wieder, überschattet von bunten Sträuchern, im sumpfigen Teich die mächtigen Blüten der Victoria Regia und auf den höheren waldigen Teilen Bäume und Sträucher unserer Zonen, die man wie Freunde in der Fremde erkennt – ein lebendiges Museum einerseits, ist dieser Garten doch gleichzeitig ein vollkommenes Stück Natur. Denn nichts ist genialer in seiner Anlage, als daß er einem der mächtigen Hügel angelehnt ist; dadurch wird die Illusion erweckt, als ginge von hier, mitten aus einem Park und einer Weltstadt, dieses wogende Grün weiter und weiter ins Land, das ganze Reich, die ganze Welt entlang, und man sei erst am Anfang ungeheurer Überraschungen. Nicht einen Augenblick fühlt man sich umgrenzt. Es ist, wie wenn man von einem Vorgebirge jäh an das Meer tritt, eine unvergeßliche Vision von der Unendlichkeit der Natur.

Aber ist der andere Park Rios, der Parque da Cidade, minder großartig? Er ist nur anders. Er wollte einzig der Schönheit dienen und nicht wie der Jardim Botânico auch der Wissenschaft. Als Garten eines der Patrizier Brasiliens, der ihn der Stadt übermachte, war er geschaffen, um von einer Villa auf der Höhe mit einem Blick alles zu umfassen, was Rios Landschaft an Vielfalt enthält, das Meer und die Berge, die Täler und die Üppigkeit seiner Vegetation. Aber es wurde nicht ein Blick, sondern ein Nichtendenkönnen an Blicken; da sanfte Hänge, dort kunstvolle Blumen, die wetteifern mit den Farbenfanalen der Araras, dieser schönsten aller Papageien, und dazwischen ein Teich und hier wieder eine Terrasse; alle Künste der Gartenarchitektur sind hier wissend enthalten. Und zu all dem muß man sich in Rio immer noch den Himmel erdenken, diesen klaren, reinen Himmel, der wie eine stahlblaue Scheibe alles Licht schärfer und zugleich diffuser verteilt, so daß jede einzelne Farbe mit gleichsam explosiver Kraft sich entlädt und die feinste Kontur eines Baumes sich genau abzeichnet. Und zu all diesen Herrlichkeiten endlich noch diejenige, die Natur erst vollkommen macht: die große Stille. Denn so weiträumig erstrecken sich diese Parks, daß man selten jemandem darin begegnet; hier kann man mitten in einer Weltstadt mit dem Vollkommenen selig allein sein. Hier schweigt der Lärm, und nur mit tausend warmen unsichtbaren Lippen atmet die Erde die weiche, schwülige Luft.

Einen andern Tag hinauf in höhere Zonen. Kann man Berge sehen inmitten einer Stadt ohne die Lust, sie zu besteigen, ohne das Verlangen, klar ausgebreitet das steinerne und grüne Gewirr zu sehen, in dem man lebt? Es wird einem leicht gemacht, denn der Corcovado, der 700 Meter hoch sich über – oder eigentlich inmitten – der Stadt erhebt und sein nachts elektrisch erhelltes Kreuz mit großartiger Geste segnend über die ganze Bucht von Guanabara hebt, ist nicht einmal ein Ausflug zu nennen; in zwanzig Minuten klettert ein Auto die scharfen Kurven auf den beschatteten Wegen hinan bis zum Gipfel. Und hier tut ein unvergeßliches Panorama sich auf. Endlich, endlich überschaut man die ganze Stadt mit ihrer Bucht, ihren Bergen und Seen, ihren Inseln und Schiffen, ihren Häusern und ihrem Strand! Endlich sieht man, mit blauen, grünen, weißen Linien gezeichnet, den Grundriß ihrer Anlage und gleichzeitig ihre Mächtigkeit. Vom Wind umbraust, an die Riesenstatue des Redentor gelehnt, umfaßt man die ganze Vista; es ist wahrhaftig der Blick aller Blicke und doch unfotografierbar wie alles in Rio, weil zu groß in seinen Perspektiven ausgespannt. Denn überall ist Blick, zur Rechten, zur Linken, nach Ost und West und Nord und Süd, da das Meer, ins Unendliche blauend, dort die Bergkette von Teresópolis, da das flache Land und der Strand und die Bucht und die Stadt; jetzt erst begreift man die einzigartige Kombination aus dieser Höhe des Vogelflugs.

Und doch ist der Corcovado bloß einer unter den Gipfeln und der beliebteste nur, weil für die Touristen durch Bahn und Autostraße so bequem zugänglich gemacht. Wie viele Wege noch auf diesen Bergen und Hügeln, wieviel Ausblicke auf jedem, der Blick von Boa Vista, vom Pico da Tijuca, von der Mesa do Imperador, von der Vista Chinesa, von Santa Teresa; von all den namenlosen Winkeln und Terrassen! Was von dem Gipfel des Corcovado aus zusammengeschlossen schien, vereinzelt, verteilt sich wieder, das Panorama löst sich filmisch auf in einzelne landschaftliche Szenen: man wird nicht fertig mit Rio. Man kann es nie zu Ende kennen, und das ist seine eigentliche, seine unvergängliche Schönheit.

Von den Hügeln hat man inmitten der endlos gebreiteten Bucht Inseln und Inseln erblickt, grau und felsig die einen, grün und blühend die andern, alle wie in einem Spiel von Giganten achtlos in die azurne Fläche gestreut. Soll man sie nicht auch noch besuchen? Ja, man soll es, wenigstens einige von ihnen. Ein breites, stämmiges Ferryboot steuert einen hinaus, vorbei zuerst an den Inseln knapp vor der Reede, die meist Nutzzwecken dienen, der Marineakademie oder als Petroleumdepots; erst nach einer Stunde nähert man sich den interessanteren. Manche sind nur nackte, kahle Riffe, von Vögeln umschwärmt, manche palmenbestanden und mit einzelnen alten Häusern. Endlich landet man in Paquetá, und mit einem Mal klingen in einem die alten Kindheitserinnerungen auf, die Erinnerungen an die Reisebücher: Columbus in Guanahani, Kaptän Cook in Tahiti und Robinson auf seinem Eiland. Denn Paquetá, das ist eines dieser seligen Eilande, dicht umblüht, flammend von Blumen, der erfüllte Südseetraum. Keine Autos, keine fashionablen Badeplätze wie in Honolulu und Hawaii, die dem Geld ihre Unschuld verkauft haben. Auf einem alten Pferdewagen umfährt man den Strand; ab und zu ein kleines Haus, ein Feld, ein Garten, sonst überall unverstörte, herrlich tropische Natur jenseits der Zeit und der Zeiten. Man hat das Gefühl, daß diese Insel niemandem gehört und jedem, aber – wunderbares Widerspiel – Rio ist wahrhaft unerschöpflich in der Kunst der Kontraste – nur durch einen schmalen Meerarm getrennt liegt gegenüber eine Insel, die wiederum einem einzigen gehört: Brocoió. Hier hat sich der Besitzer aus einem jahrelang unbehausten winzigen Eiland ein Paradies für sich allein gezaubert und in seine Mitte ein entzückendes Haus gestellt, frei mit seinen Terrassen nach allen Seiten, mit allem Komfort unserer Zeit, mit Büchern und einer Orgel und verlockenden Gastzimmern. Wie Paquetá ganz Natur, ist Brocoió ganz Kultur. Im wohlgepflegten, mit Steinen geränderten und gekiesten Garten spielen Hunde und Pfauen, und seltenes Getier leuchtet auf, weite Gärten führen den Weg eine Anhöhe empor, in einer halben Stunde ist das ganze Reich umzirkt; aber welch eine begnadete Einsamkeit hier unter Palmen, die gegen einen ewig blauen Himmel lehnen und niederschatten auf ein ewig blaues Meer! Und Einsamkeit, Trosteinsamkeit nur so lange, als der Sinn sie ertragen will: ein Ruck, und das Motorboot springt an, und in einer halben Stunde ist man wieder in der Stadt und umdonnert vom Leben. Und schon, wenn der Umriß mit den Palmen, den schön erhobenen, in den Wellen verschwindet, fragt man sich, ob man dies wirklich gesehen oder nur geträumt hat. Wieder hat man (und wie oft nun schon in dieser Stadt!) einen Tropfen getrunken vom goldenen Überfluß der Welt!

 

Kapitel Vier­und­dreißig

Sommer in Rio

Es wird November. Die sogenannte »Saison« von Rio geht zu Ende und die Freunde, denen man begegnet, haben alle dieselbe Frage: wohin gehen Sie über den Sommer? Es ist ein Axiom, daß man die Monate, die man bei uns Winter nennt – Dezember, Januar, Februar und März – in die Berge flüchtet, oder es ist zum mindesten ein alter Brauch, den Kaiser Pedro II. für die Gesellschaft eingeführt hat. Im Sommer verlegte er seine Residenz nach Petrópolis, ihm folgte der Hof und dem Hof die Gesellschaft; alle Gesandtschaften und Ministerien verlegten ihre Tätigkeit in diese nahe und kühlere Gartenstadt, die heute dank des Autos eine Art Vorstadt von Rio geworden ist. Während der Sommerzeit, in den schulfreien Monaten, wohnt die Familie in einer Villa in Petrópolis, und der Geschäftsmann, der höhere Beamte steuert abends mit dem Auto hinauf und morgens hinab: es ist keine Reise mehr.

Es ist keine Reise mehr und eher ein Ausflug zu nennen. Zwanzig oder dreißig Minuten durch das flache Land, das die Energie der Regierung den früher fieberbringenden Sümpfen abgewonnen. Dann steigt die breite, blank zementierte Straße in scharfen Kurven die Höhe empor. Serpentine um Serpentine schraubt sie sich hoch, allmählich öffnet sich der Ausblick über das Tal und die Bucht, Kilometer um Kilometer schmettert vorbei und die Luft, die einen anspringt, wird frischer und kühler. Endlich eine Wendung und – man ist kaum mehr als anderthalb Stunden gefahren – die Höhe ist erreicht; kleine gefällige Häuschen, von einem Kanal durchzogen, flankieren die Straße und man ist in einem Kurörtchen, einem Sommerresidenzchen, das ein wenig altväterisch anmutet mit seinen roten Brückchen und etwas antiquierten Villen. Irgendwie, man weiß nicht warum, denkt man an ein deutsches Provinzstädtchen. Und, siehe da, man hat richtig gefühlt. Hierher hatte vor vielen Jahrzehnten der Kaiser deutsche Ansiedler kommen lassen, und sie bauten ihre Häuschen nach heimischer Art; sie gaben ihnen deutsche Namen und pflanzten in ihre kleinen schmucken Gärtchen wie zu Hause die Pelargonien. Auch das kaiserliche Palais wirkt wie das eines deutschen Duodezfürstentums, das durch eine nette Zauberei auf einen brasilianischen Berg getragen wurde; alles hat ein hübsches, zierliches Format, und erst in den letzten Jahren haben die neuen Villen den Charakter anspruchsvoller gemacht. Jetzt drängt sich alles hier ein wenig zusammen, die Menschen und die Häuser; die Straßen, vormals nur für die schweren, langsamen Karossen gedacht, schwirren von Automobilen, die Unruhe von Rio rückt allmählich den Berg herauf. Aber die Lieblichkeit des Ortes wird niemals ernstlich bedroht werden können, denn die Natur selbst ist hier lieblich; die Berge zeigen keine Schroffen mehr sondern weichen in flutenden Wellen zurück, überall leuchten und flammen die Blumen in dieser Stadt der Gärten. Tagsüber klimmt das Quecksilber hier ungehemmt empor, aber die Nächte sind im Gegensatz zu Rio kühl und die Schwüle entlüftet; noch ist es nicht die starke, die ozonische Luft, die wir mit dem Bergland verbinden, aber doch schon Kühle und Reine, von dem Atem der Wälder und der Blumen leise durchduftet.

Wer wirkliche Berglandschaft fordert, muß noch weiter empor nach Teresópolis, das einige hundert Meter höher liegt; es ist, als ob man von einer österreichischen Landschaft in eine schweizerische käme. Die Kulisse ist hier enger und strenger, die Wälder dunkler, die Berge schroffer im Abfall – an einer Stelle blickt man wie von einer Zinne unvermittelt, daß einem beinahe schwindlig wird, über das ganze Land bis nach Rio hinab. Nicht wie in Petropolis liegen kurorthaft die Villen nebeneinander, sondern weit voneinander wie Bauerngehöfte im Grünen zerstreut. Hier und in Friburgo, das schweizerischen Ursprungs ist, hat man zum erstenmal alpine Landschaft im europäischen Sinne, und in merkwürdiger Abscheidung sind es zumeist die Europäer, die hier übersommern (wenn man das Gegenwort zu überwintern wagen darf), während die brasilianische Gesellschaft sich traditionell in Petropolis zusammenfindet.

So fragen die Freunde, wofür ich mich entschieden habe. Und ich entschied mich für Rio. Ich wollte dort den Sommer mitleben, denn man kennt eine Stadt, ein Land nur in seinen Extremen; man weiß nichts von Rußland, wenn man es ohne Schnee, nichts von London, wenn man es ohne seinen Nebel gesehen. Und ich bereue es nicht. Es ist heiß in Rio im Sommer, vielleicht mag es sogar keine Erfindung sein, daß man an den brennenden Tagen rohe Eier dort auf dem Asphalt garkochen kann, aber ich habe New York, wenn es dort einmal feucht zu dünsten beginnt und die Häuser zu Backöfen werden, schlimmer gefunden. Was allein den Sommer in Rio so lastend macht, ist, daß er zu lange dauert, drei und eigentlich vier Monate. Bei Tage erträgt man die Hitze leicht, denn es ist, wenn man so sagen darf, eine schöne, eine volle, eine reine Hitze, die Wärme einer prallen Sonne, eines strahlenden Himmels, der sich wolkenlos über die Bucht spannt und ihre an sich schon schmetternden Farben zu ihrem äußersten Fortissimo steigert: wer nicht dieses Weiß der Häuser, wenn die Strahlen prall auf sie fallen, nicht das malachitene Grün der Palmen, nicht das einzige Blau des Meeres dort im Sommer gesehen, der kennt diese Farben nur in gedämpften, vermengten, verminderten Formen. Aber diese massive Hitze hat ihre natürlichen Linderungen. Jede paar Stunden springt vom Meere her mit ganz unbrasilianischer Pünktlichkeit eine Brise auf, die erfrischt, und muß man nicht in die innere Stadt, wo diese wohltätige Zugluft nicht zu kann, so ist es eine Lust, an dem Strand – freilich nicht zu hastig – dahinzuschlendern. Schwerer erträglich sind die Nächte, wenn diese Brise stockt und man die Feuchte, die Dicke, die Überfülltheit der Atmosphäre so dicht an die Haut drängen fühlt, daß sie mit allen Poren sich öffnet. Aber im allgemeinen dauern diese drückenden Tage nicht lang, und es macht ein Gewitter ihnen ein jähes Ende, ein Tropengewitter von jener Gewalt, die mir die Schilderungen Joseph Conrads glaubhaft illustriert haben. Das ist nicht Regen, der dann niederprasselt, das ist der ganze Himmel, der wie ein umgeworfenes Faß mit einem Male niederstürzt. Das sind keine Blitze, die wie bei uns als blaue Adern am Himmel aufspringen – das sind weiße Schüsse, und der Donner, der ihnen nachfällt, erschüttert die Häuser. Eine Viertelstunde, und die Straßen sind meterhoch überschwemmt, aller Verkehr stockt, kein Mensch wagt sich auf die Straße. Und wieder eine Viertelstunde, und der Himmel schimmert unschuldig im früheren Blau, als ob er von seinem Wutanfall nichts wüßte, das Licht glänzt scharf und klar durch die gefilterte Luft, und man atmet erstaunt und entlastet, wie nach einer Explosion, der man durch ein Wunder entkommen. Und dann wieder Tag um Tag strahlende Sonne, wolkenloser Horizont – so ist der Sommer in Rio.

In summa: er ist erträglich. Und zwei Millionen Menschen ertragen ihn, ohne zu klagen und sogar vergnügt. Sie passen sich ihm nur an. Alles trägt Leinenkleider, die ganze Stadt funkelt in Weiß wie bei einer Marineparade, und vom November an wird Rio ein einziger Badestrand; zwei, drei Straßen vom Ufer her – und fast überall ist Ufer – gehen die Leute in Schwimmhosen und Badekostümen, um rasch ein- oder zweimal des Tags den erfrischenden Sprung ins Meer zu tun; um fünf Uhr morgens, ehe sie frühstücken oder zur Arbeit gehen, rücken die ersten an, und das geht bis tief in die Nacht, an manchen Tagen sind an dem einen Strand von Copacabana hunderttausend Menschen zu finden. Nichts irriger als zu glauben, die Cariocas, die Leute von Rio, würden durch den Sommer erschöpft und ausgelaugt: im Gegenteil, es ist, als sammelte sich in ihnen diese aufgestaute Hitze zu einem einzigen impulsiven Ausbruch, der dann mit kalendarischer Regelmäßigkeit im Karneval erfolgt. Der Karneval von Rio ist, man weiß es, ein Unikum an heiterem und leidenschaftlichem Überschwang in unserer seit Jahren reichlich verdüsterten Welt. Monatelang zuvor wird gespart und geübt, denn jeder Karneval bringt neue Lieder und Tänze. Und da der Karneval ein demokratisches Fest hier ist, ein Lustausbruch, eine Temperamentsmanifestation des ganzen Volks, hört man diese Lieder schon überall vorausgeübt, damit jeder einstimmen könne; man hört sie in den Kasinos, den Restaurants, im Radio, im Grammophon und in den Negerhütten; überall wird geübt und exerziert zu der großen Parade der kollektiven Freude. Wenn der Kalender dann endlich die Verstattung gibt, schließen für drei Tage alle Geschäfte, und es ist, als sei die ganze Stadt von einer riesigen Tarantel gestochen. Alles lebt auf den Straßen, bis tief in die Nacht wird getanzt, gesungen und mit allen denkbaren Instrumenten bis zur Raserei gelärmt. Jeder soziale Unterschied ist aufgehoben, Fremde wandern Arm in Arm mit Fremden, jeder spricht jeden an, und allmählich steigert sich die gegenseitige Erhitzung, das unaufhörliche Lärmen zu einer Art Tollheit; man findet Menschen erschöpft auf der Straße liegen, ohne daß sie einen Tropfen Alkohol getrunken, sie haben sich nur krank getanzt und gelärmt. Aber das Merkwürdigste, das typisch Brasilianische ist, daß selbst in diesen Ekstasen die Leute selbst des niedersten Volkes nicht ihre innere Humanität verlieren und zum Pöbel werden; trotz Maskenfreiheit geschieht nichts Brutales, nichts Unanständiges inmitten einer kindlich tobenden und Tag und Nacht durcheinanderquirlenden Menge; einmal sich Ausschreien, Austanzen, das Leise, das Zurückhaltende orgiastisch loswerden zu dürfen, erlöst sich im Taumel dieser drei Tage – es ist wie eines jener Tropengewitter des Sommers. Und nachher wieder das alte stille Gebaren, die Stadt kehrt in ihre alte Ordnung zurück. Der Sommer ist gefeiert, die gestaute Hitze aus den Menschen gleichsam herausgefahren, Rio ist wieder Rio, die Stadt, die still und stolz ihre eigene Schönheit spiegelt.

Niemand nimmt gern Abschied, der hier einmal gewesen. Bei jedem Fortreisen und von jedem Ort wünscht man sich zurück. Schönheit ist selten und vollendete beinahe ein Traum. Diese eine Stadt unter den Städten macht ihn wahr auch in düstersten Stunden; es gibt keine tröstlichere auf Erden.