Return, Viktoria

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Return, Viktoria
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Gerhard Wolff

Return, Viktoria

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Inhaltsverzeichnis

Titel

Return, Viktoria

Verwirrung

Betrug

Impressum neobooks

Return, Viktoria

Return, Viktoria!

Roman von G. J. Wolff

Jugendbuchreihe Aufbruch

Urheberrechtlich geschütztes Material

Bibliographische Information der Deutschen Nationalbibliothek:

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutsche Nationalbibliographie,

detaillierte bibliographische Daten sind im Internet über epubli.de abrufbar.

© 2017

Gerhard Wolff,

pege.wolff@t-online.de

Herstellung und Verlag: epubli.de

Titelfoto: Franz Metelec

1

„Was für ein Talent, was für ein Talent!“, rief Jim Fisher, einer der Jugendtrainer des renommierten Tennisclubs von Los Angeles, den Eltern von Viktoria Taft zu, die ihrer Tochter dabei zusahen, wie diese gerade die letzten Minuten ihres ersten Tennistrainings hinter sich brachte. Sie hatte das Training zusammen mit einem anderen Mädchen, mit dem sie nun noch ein Abschlussspiel machte. „Sehen Sie doch nur, sehen Sie doch nur!“

Sofia und Frank Taft, Inhaber einer florierenden Wurstfabrik und stolze Eltern zweier Töchter, von denen eine gerade ihren Tennistrainer verzauberte, standen mit offenem Mund auf der Tribüne eines Nebenplatzes des Tennisvereins und starrten, wie Jim Fisher, der neben ihnen stand, zum Platz, auf dem Viktoria hin- und herflitzte. Sie hatten selbst kein Tennis gespielt -Sofia war unsportlich und Frank neigte zum American Football und zum Boxen- und wussten daher nicht, wie sie die Worte des Trainers einschätzen sollten.

„Sehen Sie nur, wie Vicky diesen Ball noch geholt hat, wie schnell sie ist, wirklich schnell!“, rief Fisher aus.

„Sie soll Tennis spielen und nicht die 100 Meter gewinnen!“, spöttelte Frank, der grundsätzlich misstrauisch gegen alles und jeden eingestellt war.

„Natürlich, da haben Sie Recht!“, bestätigte der Trainer. „Schnelligkeit allein genügt nicht!“ Er nickte. „Aber Schnelligkeit ist auch sehr wichtig im Spitzentennis.“

„Spitzentennis?“, fragte Sofia und runzelte die Stirn.

„Aber ihre Tochter ist ja nicht nur schnell!“, fuhr der Trainer fort. „Vicky hat instinktiv gefühlt, wohin der Schlag kommt, sie hat richtig antizipiert, ist fast im selben Moment losgelaufen, wie ihre Gegnerin geschlagen hat, hat den Ball noch in tiefster Position erreicht und sehen Sie doch nur, sehen Sie doch nur, jetzt schon wieder, sehen Sie doch nur, mit wieviel Gefühl sie den Ball „cross“, also quer, an ihrer Gegnerin vorbeizirkelt, unerreichbar, tödlich, genial!“ Jim Fisher kam aus dem Schwärmen gar nicht mehr heraus.

Sofia und Frank sahen einmal zu Fisher, dann zu Vicky, dann sahen sie sich gegenseitig an.

„Einfach genial!“, meinte Fisher nochmals. „So ein Talent habe ich schon lange nicht mehr gesehen, vielleicht noch nie!“

„Sind Sie sicher, dass Sie von unserer Tochter reden?“, fragte Sofia, die Ballspiele hasste, weil sie überhaupt kein Ballgefühl besessen hatte, und die ihre Tochter eigentlich nur zum Tennis angemeldet hatte, weil man einfach Tennis spielen musste in den Kreisen, in denen Vicky später verkehren sollte.

„Eigentlich müsste sie Golf lernen!“, hatte Frank gespöttelt. „Die wirkliche society ist schon zum Golf abgewandert.“

Aber Vicky hatte sich für Tennis entschieden.

„Was für ein Talent!“, murmelte Fisher vor sich hin.

Frank schwieg skeptisch, seine Miene verriet, dass er dem Trainer nicht traute. Er vermutete, dass jeder Neuling mit solchen Worten geködert wurde. „Keine Angst!“, knurrte er ironisch. „Wir melden unsere Tochter auch an, wenn sie der größte Trampel wäre, den sie je trainierten. Es geht uns eher um das Gesellschaftliche, als um das Sportliche.“

„Schauen Sie doch nur genau hin!“, meinte der Trainer nun schon fast beleidigt, weil man sein Urteil anzweifelte.

Nun sahen die Drei eine Weile dem Spiel zu. Und tatsächlich, Viktorias Gegnerin, deren Bewegungen und Handlungen man ansah, dass sie wusste, was sie tat, schien zu verzweifeln. Wenn sie den Ball lang in die Ecken schlug, erlief Viktoria ihn und schlug ihn hart, sicher und unerreichbar in eine Spielfeldecke des gegnerischen Feldes. Schlug die Gegnerin einen Stoppball, dann spurtete Vicky hin, erreichte ihn und konnte ihn wieder in eine Ecke schlagen. Versuchte es Vickys Gegnerin mit einem „Serve-und-Volley“, dann wurde sie jedes Mal von ihr passiert, einmal „longline“, einmal „cross“.

„Und das ist nicht irgendwer, gegen den sie spielt!“, meinte Jim Fisher schließlich. „Das ist Sylvie Jackson, die Nummer Eins unseres Clubs in ihrer Altersstufe. Selbst sehr talentiert, sehr talentiert. Aber kein Vergleich zu ihrer Tochter. Sehen Sie nur! Sie hat erst eine Trainingsstunde hinter sich und die Schlägerhaltung ist perfekt und die Schlagausführung göttlich!“

Wieder betrachteten die Eltern verwundert ihre Tochter.

„Ganz klar eine Grundlinienspielerin!“, murmelte der Trainer mehr zu sich, als zu den Eltern. Keine „Serve-und-Volley“-Spielerin! Aber ich mag eh lieber Grundlinienspielerinnen, das ist doch irgendwie eher Tennis, als das Draufgehaue!“

Viktorias Eltern bemerkten, wie Sylvie mehr und mehr die Lust am Spiel verlor, erst wurde sie wütend und schimpfte, auch auf Vicky, die es verwundert zur Kenntnis nahm. „Dann warf sie plötzlich den Schläger weg und rannte weinend zu ihrer Mutter, die sie tröstete und Viktoria böse Blicke zuwarf.

„Das tut weh!“, meinte Mr. Fisher mit bedauernder Miene. „Aber das kriege ich schon wieder hin.“

Vickys Eltern sahen ihn nur verwundert an.

Der Trainer ging zu Vicky und schickte sie unter die Dusche und zum Umkleiden.

Dann ging er zu Sylvie und ihre Mutter und munterte beide wieder auf. Dann ging er wieder zu den Tafts, die auf ihre Tochter warteten.

„Ganz ohne Zweifel!“, meinte Fisher, als er wieder auf der Tribüne bei ihnen war. „Ihr Kind ist ein richtiges Talent. Sie müssen sie auf jeden Fall wieder kommen lassen!“

„Keine Angst, sie kommt wieder. Und mit ihr der Mitgliederbeitrag!“, grinste Frank.

„Sie ist ein Genie, Mr. Taft!“, versuchte es der Trainer nochmals. „Sicher ist neben dem Talent auch die Haltung wichtig. Sie wissen schon, zehn Prozent Inspiration und 90 Prozent Transpiration!“ Er grinste, aber Frank verstand ihn nicht.

„Wenn es ihr gefallen hat, wird sie wiederkommen!“, versprach Sofia.

Der Trainer beachtete Frank nun nicht weiter. Er sah Sofia kurz in die Augen. „Dann werden wir uns noch oft sehen, Mrs. Taft, noch sehr oft!“

2

„Was ist denn hier los?“, rief Elisabeth, die um ein Jahr ältere Schwester Viktorias, als sie das Spielzimmer der Taftkinder betrat, aus. Sie blieb vor Überraschung stehen. Das Spielzimmer enthielt die Spiele und Geräte, die zu groß für die Kinderzimmer waren oder die die Kinder gemeinsam spielen konnten. Sie hatte eine Weile bei Musik auf ihrem Minitrampolin herumhüpfen wollen, musste aber feststellen, dass dieses an der Wand in der Ecke verstaut war.

Vicky war ihr so vehement hinterhergelaufen, dass sie auf Beth, wie Elisabeth genannt wurde, auflief. Die beiden mussten kurz kichern, dann sahen sie sich wieder interessiert um.

Nun war auch Sofia bei ihnen, die sie ins Spielzimmer begleitete.

„Was ist denn hier los?“, wiederholte Beth ihre Frage.

Alle Spielgeräte waren an den Rand des Zimmers geräumt, so dass sich in der Mitte ein großer Raum ergab. Dieser war jedoch durch ein niedrig aufgestelltes Badmintonnetz geteilt und an den Rändern standen Hütchen, die ein Spielfeld markierten.

„Das ist eine Art Tennisfeld!“, erklärte Sofia.

„Oh, Tennis, ich liebe Tennis!“, rief Vicky begeistert aus.

„Aber ich hasse Tennis!“, konterte die elfjährige Beth. „Ich will Trampolinspringen und zwar jetzt. Das Tennisfeld muss weg!“

„Kommt nicht in Frage!“, meinte Sofia streng zu ihr. „Du wirst dich damit abfinden müssen, dass hier Tennis geübt wird.“

Vicky sah sie fragend an. „Aber das Feld ist viel zu klein. Wie soll man denn da Aufschläge machen?“

Sofia legte die Hand auf ihre Schultern. „Du hast natürlich Recht, Liebes!“, nickte sie. „Aber dein Trainer hat gesagt, es sei auch sinnvoll, etwas für das Ballgefühl zu tun. Und das kannst du prima mit Softbällen üben, die du von unten über so ein Netz spielst. Man muss immer von unten spielen und die Bälle immer „volley“ nehmen!“

„Oh, klasse!“, rief Vicky begeistert aus.

 

„Wenn dir das Spiel wirklich Spaß macht, werden wir am Ende des Grundstücks, ganz hinten, hinter den Büschen einen Tennisplatz hin bauen, wo du dann alles richtig üben kannst!“, ergänzte sie nun.

„Oh, Mama, das ist ja wunderbar, das ist ja wunderbar!“ Vicky fiel ihr um den Hals und küsste sie.

„Und wo kann ich spielen?“, meinte Beth beleidigt.

„Du spielst auch hier, und zwar Tennis!“ Sofia sah Beth in die Augen. „Du bist von jetzt an Vickys Trainingspartnerin zuhause. Du bekommst natürlich auch ein paar Trainingsstunden. Aber das hier kannst du schon probieren.“

„Aber, aber ich hasse Tennis!“, rief nun Beth. „Erinnere dich doch, wie schrecklich es für mich war, als ihr mich letztes Jahr zum Tennis geschleppt habt. Ich habe keinen Ball getroffen und es hat mir auch keinen Spaß gemacht, mit einem Schläger auf so einen blöden Ball zu schlagen. Und dann das Getue von diesen eingebildeten, dummen Zicken, die da rumlaufen.“

„Beth!“, fuhr Sofia sie da an. „Benimm dich!“ Sie holte Luft, um ihre Fassung wieder zu gewinnen. „Ein bisschen Übung und du wirst es schon können. Natürlich nicht so gut, wie Vicky, aber vielleicht so gut, dass es dir auch Spaß macht.“

„Ich, ich will nicht!“, rief Beth aus.

„Bitte, versuch es doch mal, mir zu Liebe!“, versuchte es nun Sofia im Guten.

„Ich kann nicht!“

„Bitte, Beth, für mich!“, flehte nun Vicky.

Da begab sich Beth auf das Spielfeld und Vicky folgte ihr.

„Immer nur von unten und nur „volley“!“, erläuterte Sofia nochmals.

Obwohl man Beth ansah, dass sie sich Mühe gab, wurde allen schnell klar, dass sie überhaupt kein Ballgefühl und keine Begabung für diesen Sport hatte.

„Ich kann das nicht, Mama!“, flüsterte Beth schließlich den Tränen nahe.

Auch Vicky hatte das eingesehen und stand ratlos da.

„Es ist gut!“, meinte Sofia enttäuscht.

Beth ließ den Schläger fallen und rannte weinend hinaus.

„Willst du mal?“, fragte Vicky ihre Mutter.

Diese winkte ab und dachte nach. „Isabella!“, rief sie dann das Dienstmädchen. „Isabella, komm doch mal!“

Tatsächlich erklärte sich Isabella bereit, mit Vicky zu spielen, und sie konnte es zur Überraschung Sofias ganz gut.

„Gut genug für zuhause. Im Club bekommst du von jetzt an neben dem Gruppentraining und Partnertraining auch Einzeltraining. Und hier zuhause trainiert Isabella täglich eine Stunde mit dir Ballgefühl!“, entschied die Mutter.

„Oh, oh danke!“, rief Viktoria aus und sie begannen zu spielen.

„Und ich muss mich jetzt um Beth kümmern und versuchen, das wieder hinzukriegen!“ Damit eilte sie ihrer Tochter hinterher.

3

Die Tafts saßen bei Kaffee und Kuchen auf der Veranda ihres Hauses und unterhielten sich über Vickys ersten Spieltag.

Das Haus lag im Süden von Los Angeles. Ein Bankier hatte es im letzten Jahrhundert erbaut und den Plantagenvillen der Südstaaten nachempfunden, weil er aus Atlanta in den Westen gekommen war. Es hatte 12 Zimmer mit riesigen Fenstern. Der breite und lange Balkon wurde von fünf dicken, hohen und schneeweißen Marmorsäulen getragen. Davor lag die Terrasse, die so lang war wie das Haus selbst und ebenfalls mit Marmorplatten bedeckt war. Sofias Vater hatte es erstanden, nachdem er mit seiner Firma vermögend geworden war. Das Haus war uMr.ingt von einem parkähnlichen Grundstück. Wenn man die von einem Marmorgeländer eingefasste Treppe ein paar Stufen hinunterstieg, so konnte man auf einem das riesige Grundstück uMr.undenden und zerschneidenden Kiesweg durch herrlichen Rasen und unter alten Eichen spazieren gehen oder sich auf eine der Holzbänke setzen und sich an einigen Springbrunnen mit Messingfiguren erfrischen. Sofia hatte sich den Garten so gewünscht. Frank hielt das für übertrieben, aber er wollte seiner Frau und seiner Tochter jeden Wunsch erfüllen, den er mit Geld bezahlen konnte. Ihm selbst war es gleich, wo er wohnte. Er erinnerte sich noch gut an seine Jugendzeit, als er mit seiner Mutter in einer kleinen, stickigen Wohnung in der Bronx von New York gelebt hatte. Seinen Vater hatte er nie gekannt. Er erinnerte sich umso besser an seine Mutter, sah immer, wenn er an sie dachte, ihr von der schweren Arbeit ausgemergeltes Gesicht vor sich und hörte ihre feste und entschlossene Stimme, mit der sie ihn angetrieben hatte, etwas aus sich zu machen. Die Arbeit hatte sie kaputt gemacht, und ehe er so richtig erwachsen war, starb sie vor Schwäche und er begann eine Lehre als Kaufmann. Er arbeitete sich schnell nach oben und heiratete schließlich die Tochter des Chefs, Vickys Mutter Sofia. So war er selbst Herr einer großen Firma geworden.

Vicky war schon nach wenigen Wochen im Club in die Ligamannschaft ihrer Altersstufe berufen worden und so verbrachte sie die folgenden Wochenenden auf den Tennisplätzen der umliegenden Vereine. Mr.s Taft hatte sie zum Spielort gefahren, hatte ihre Spiele von der Tribüne aus beobachtet, hatte sich über Vickys Siege über Spielerinnen, die schon seit sie laufen konnten Tennistraining erhielten, gewundert und war dann beim gemeinsamen Mittagessen oder beim Abschlussessen der beiden Mannschaften zu ihrer Überraschung mehrfach auf Vickys Talent angesprochen worden. Genauso stolz wie nachdenklich fuhr sie schweigend nach Hause. Sie überlegte, was da gerade mit ihnen geschah. Und das tat auch ihr Mann, der auch am Wochenende für die Firma arbeitete, wenn sie ihm davon erzählte. Und das tat auch Beth, die ihr Wochenende lieber mit ihren Freundinnen verbrachte, als ihre Schwester zu bewundern.

Nachdem sie irgendwann am späten Nachmittag alle wieder zuhause angekommen waren, trafen sie sich auf der Veranda zum Kaffee oder zum Abendessen. Dann war aber nur noch Vicky das Gesprächsthema.

„Du warst einfach spitze!“, meinte Sofia voller Bewunderung. „Wie leicht du deine Spiele gewonnen hast, unfassbar!“

„Ist das wahr?“, fragte Frank stolz.

„Und wie du dich bewegt hast, wie du die Bälle getroffen hast, wie du die Gegnerinnen ausgespielt hast!“, schwärmte Sofia weiter. „Ich bin kein Tennisfachmann, bei Gott nicht, aber das konnte jeder sehen.“

„Unglaublich!“, kommentierte Frank.

Beth saß nur schweigend da und verzog die Miene.

„Und die Leute, die saßen mit offenem Mund da und staunten über dein Spiel!“, ergänzte Sofia. „Ständig wurde ich gefragt, ob du meine Tochter bist.“

Frank nickte stolz. „Das muss ein schönes Gefühl gewesen sein, ich muss schon sagen.“ Er dachte nach. „Ich glaube, da muss man aufpassen, dass man nicht größenwahnsinnig wird, wenn man so eine Tochter hat!“

In diesem Moment sprang Elisabeth so heftig auf, dass ihr Stuhl nach hinten fiel, und stürzte schluchzend davon.

„Was, was hat sie denn?“, fragte Frank nichts ahnend.

Sofia sah ihn kurz nachdenklich an. „Ich glaube, ich weiß es!“, versicherte sie und stürmte hinter Elisabeth her. Gleich darauf war sie vor ihrem Zimmer, sie klopfte an, öffnete die Tür, obwohl sie nicht herein gebeten worden war, die Tatsache, dass die Tür nicht verschlossen war, zeigte ihr, dass Elisabeth wollte, dass sie herein kam. Sie ging ohne Umschweife zu ihrer Tochter, die weinend auf dem Bett saß, setzte sich neben sie und nahm sie in den Arm.

Elisabeth stürzte sich auch gleich in ihre Arme, genoss die Umarmung, weinte jedoch bitterlich weiter.

Sofia schwieg, ließ sie sich ausweinen, schließlich war es totenstill im Raum. „Schon schwer, wenn man so ein Wunderkind als Schwester hat!“, meinte die Mutter.

„Furchtbar schwer!“, bestätigte Elisabeth. „Ihr seht ja nur noch sie. Vicky hier, Vicky da! Ich glaube, ich könnte entführt werden oder sterben und ihr würdet es nicht merken!“ Sie sah ihre Mutter vorwurfsvoll an.

„Mach dir keine Sorgen, Beth!“, beruhigte sie Sofia. „Wir haben dich genauso lieb, wie Vicky.“

„Leicht gesagt, Mama. Ich empfinde es ganz anders.“ Sie sah ihre Mutter mit einer Mischung aus Trauer und Verzweiflung an.

„Keine Angst!“, tröstete sie die Mutter. „Es ist halt jetzt erst mal auch für uns neu. Wir müssen das auch erst mal alles verarbeiten. Du wirst sehen, das legt sich bald, bald haben wir uns daran gewöhnt und dann ist alles so wie früher.“

„Versprochen?“, wollte Elisabeth mit flehendem Blick wissen.

„Versprochen, Beth!“, meinte die Mutter und drückte die Tochter nochmals fest in den Arm. „Weißt du, ich glaube, man kann leicht überschnappen, wenn man so ein Wunderkind hat, jemanden, der in irgendeinem Bereich einzigartig ist und der von allen deswegen hochgejubelt wird. Man muss in so einer Lage versuchen, sich normal zu verhalten!“ Sie dachte nach. „Es sind schon viele übergeschnappt, die das nicht wussten. Das wird uns nicht passieren!“

Beth atmete auf.

„Ich werde gleich mit Vater darüber reden, damit ihm das auch bewusst wird.“

Nun war Elisabeth völlig beruhigt und lächelte ihre Mutter wieder an.

4

Einige Monate waren vergangen, alles war für Vicky eingerichtet und zur Routine geworden und so trainierte sie fleißig, entweder in der Gruppe mit den anderen Spielerinnen, oder mit einer Sparringspartnerin oder im Einzeltraining mit ihrem Trainer Tom.

„Was, was ist denn nun los?“, rief Frank fragend über den Trainingsplatz, sprang von seinem Tribünenplatz auf, von wo aus er Vickys Training mit kritischem Blick beobachtete, stützte sich auf den Vordersitz und beugte sich hinüber, so als wolle er auf das Spielfeld springen. „Warum, warum hört ihr denn schon auf zu trainieren?“

Tatsächlich hatten sich Vicky und ihr Trainer Tom zu der Bank begeben auf der ihre Tasche und ihr Schläger lagen und Vicky hatte begonnen, ihre Sachen einzupacken. Da sie ihren Vater akustisch nicht ganz verstanden hatte, winkte sie ihm lächelnd zu.

Frank lächelte jedoch nicht zurück, sondern hastete durch die Tribünenreihen und dann nach unten zu den Beiden. „Was soll das? Warum hört ihr denn schon mit dem Training auf?“

Tom schwieg vorsichtig, aber Vicky sah ihren Vater fragend an. „Aber hat dir denn Mutti nicht gesagt, dass ich zum Kindergeburtstag eingeladen bin. Und der beginnt in einer halben Stunde.“ Sie hob den Zeigefinger. „Da ich noch schnell duschen will und wir sicher fünfzehn Minuten Fahrt haben, ist es jetzt höchste Zeit, aufzuhören.“ Damit wandte sie sich wieder dem Einpacken zu.

Allerdings hatte sie nicht mit ihrem Vater gerechnet. Dieser packte ihre Tennisschlägertasche und holte den Schläger heraus. „Nichts da!“, brüllte er die Beiden an. „Dein Training dauert bis vier Uhr und so lange wirst du auch trainieren!“

Vicky sah ihn überrascht und ratlos an. „Aber, dann komme ich zu spät zur Eröffnung des Kindergeburtstages. Da gibt es immer lustige Vorstellungsspiele. Und wenn man nicht von Anfang an dabei ist, dann gehört man irgendwie den ganzen Tag nicht dazu. Da kann man gleich wegbleiben.“ Sie schüttelte den Kopf und wollte den Schläger wieder wegpacken, weil sie nicht mit der Beharrlichkeit ihres Vaters gerechnet hatte und seinen Willen auch noch nicht begriff.

„Gut!“, antwortete dieser. „Dann gehst du eben gar nicht. Jetzt jedenfalls trainierst du noch!“ Damit packte er den Schläger wieder aus und drückte ihn ihr in die Hand.

Vicky sah ihn unsicher an, verstand noch immer nicht, dass er es ernst meinte.

Da packte er ihren Arm so fest, dass sie leise aufschrie und zog sie in Richtung Trainingsplatz.

Tom begriff, dass mit Mr. Taft nicht gut Kirschen essen war, wenn dieser etwas durchsetzen wollte. Er wollte aber auch Vicky beistehen. „Wir haben heute wirklich schon genug geübt, Mr. Taft. Ich denke eine halbe Stunde mehr oder weniger macht den Kohl da auch nicht fett.“ Er lächelte verbindlich.

Frank ließ sich jedoch davon nicht beeindrucken. „Erstens hat Sie niemand nach Ihrer Meinung gefragt, Tom. Zweitens geht Sie die Sache auch nichts an. Und drittens werden Sie bis vier Uhr bezahlt, also erfüllen Sie Ihre Arbeitszeit!“ Er sah ihn wütend an.

Tom war klar, dass mit Frank nicht zu reden war, er bemerkte jedoch das traurige Gesicht Vickys, die den Tränen nahe war. Da versuchte er es nochmals gegen besseres Wissen. „Ich glaube, Vicky wünscht sich sehr, pünktlich beim Geburtstag zu sein. Und wir haben heute wirklich schon so viel geübt, dass Vicky kräftemäßig am Ende zu sein scheint. Wir wollen sie doch nicht verheizen oder riskieren, dass sie die Lust verliert. Sie übt ja eh am meisten von allen Spielerinnen.“ Er hoffte, Frank mit der Aufzählung der Risiken beeindruckt zu haben, irrte sich jedoch.

„Das lassen Sie mal meine Sorge sein!“, meinte dieser nur leise und jeder, der ihn kannte, wusste, dass das ein sicheres Zeichen war, dass er sehr zornig war. „Und jetzt gehen Sie bitte an Ihre Arbeit. Sonst müsste ich mich vielleicht nach einem anderen Trainer umsehen.“

 

Tom warf Vicky einen bedauernden Blick zu und begab sich auf das Spielfeld.

„Bitte, Vater!“, flehte Vicky. „Ich muss jetzt gehen!“

„Wenn du jetzt nicht noch eine halbe Stunde trainierst, wirst du heute nirgendwo mehr hingehen!“, drohte der Vater.

Da trottete auch sie verzweifelt auf das Trainingsfeld.

„Ihr Aufschlag ist noch nicht stark genug!“, rief Frank den Beiden zu. „Ich habe genau aufgepasst. Das Messgerät zeigte einen viel zu schwachen Wert.“

„Aber sie ist eine Grundlinienspielerin!“, warf Tom ein. „Dafür ist er ganz gut! Sie wissen doch selbst, dass Grundlinienspielerinnen nicht so einen harten und schnellen Aufschlag haben.“

„Eben deshalb müssen wir ihn trainieren!“, bellte Frank die Beiden an.

Sie sahen ihn noch kurz hilflos an, dann begannen sie mit der Fortsetzung des Trainings.

5

„Geh doch ans Netz, verdammt noch mal!“, rief Jim Brower, Vickys neuer Trainer, der auf ihrer Bank saß und fuchtelte wie wild mit den Armen.

Die Tafts hatten Tom gegen Brower ausgetauscht, weil dieser ihnen zu lasch gewesen war und nachdem sie viele Leute von dem Talent ihrer Tochter überzeugt hatten, aber gemeint hatten, dass sie mehr gefordert und gefördert werden sollte.

„Brower macht aus jeder eine Spitzenspielerin!“, wurde behauptet.

Brower war auch einer der Clubtrainer. Er galt als harter Hund und so musste Vicky viel trainieren. Allerdings hatte ihr das Training mit ihm von Anfang an keinen Spaß gemacht. Nun coachte er sie das erste Mal bei einem Nachwuchsturnier.

„Du musst Gas geben! Du musst dich schon voll reinhauen!“ Er sah seinem Schützling skeptisch zu, schüttelte den Kopf und raufte sich die Haare. „Na, los! Ran ans Netz, verdammt noch mal! Aber schneller! Man schläft ja ein, wenn man dir zusieht. Wenn du noch langsamer läufst, dann denkt man, du rennst rückwärts!“ Er brach in Gelächter über seinen Witz aus.

Viktoria war den Tränen nahe. Sie gab alles, schlug ihren Aufschlag so hart sie konnte, aber für ihren Trainer und für jeden, der objektiv urteilte und auch für sie gefühlt, kam er nicht hart genug. Sie stürmte so schnell sie konnte zum Netz, aber für ihren Trainer und für jeden, der objektiv urteilte und auch für sie selbst, war sie zu langsam. So kam es, dass sie stets zu spät kam und ihre Gegnerin sie gnadenlos und mit spielerischer Leichtigkeit auskonterte. Dann stand sie mit gespreizten Beinen hilflos am Netz, der Ball hatte sie längst passiert, sie blickte in das hämisch grinsende Gesicht ihrer Gegnerin, hörte den Spott und das Gelächter des Publikums und die wütenden Schreie ihres Trainers.

Dann gingen sie auch noch ihre Eltern an. „Was ist denn los mit dir, Vicky?“, schrie sie ihr Vater an. „Zeig doch mal, was du kannst!“

Die Bemerkung des Vaters spornte Vicky an, denn sie wollte ihm gefallen. Aber alles wiederholte sich, der zu schwache Aufschlag, das Zu-langsam-ans-Netz-Vorrücken-, das Locker-ausgespielt-Werden, das Entgeistert-am-Netz-Stehen und die Häme der Zuschauer.

Brower tobte. Er beschimpfte sie, rannte wie ein wild gewordener Stier auf seinem Platz hin und her und rief ihr Kommandos zu.

Da brach Viktoria tatsächlich in Tränen aus. Langsam schlich sie zur Grundlinie zurück und versuchte, sich zu fangen.

„Was, was ist denn nur mit unserer Kleinen los?“, murmelte Sofia fassungslos. „Ich dachte, sie sei so ein Talent!“

„Sie ist einfach keine „Serve-und-Volley-Spielerin“!“, meinte plötzlich jemand neben ihr. „Sie ist eine Grundlinienspielerin!“

Vickys Eltern drehten sich um. Neben ihnen saß ein braungebrannter Sonnyboy und lächelte sie an.

Er bemerkte ihre Blicke. „Marc Tanner“, stellte er sich vor und reichte den Beiden die Hand. „Ich bin ebenfalls Trainer im Club.“ Er zeigte auf Brower. „Er hat ihre Kleine völlig falsch eingestellt! Und jetzt will er nicht zugeben, dass er einen Fehler gemacht hat. Das ist immer so bei ihm. Wahrscheinlich kann er auch nicht anders.“ Er dachte nach. „Ein hervorragender Trainer für „Serve-und-Volley-Spielerinnen“, keine Frage. Vielleicht der Beste des Clubs. Aber ihre Tochter ist keine „Serve-und-Volley-Spielerin“. Für sie ist er der Falsche, eigentlich eine Katastrophe.“

Die Tafts sahen ihn überrascht an.

„Und man muss mit seiner harten Art auskommen. Ich fürchte, ihre Tochter ist dafür zu sensibel!“

Vickys Eltern sahen den Mann schweigend an und versuchten zu verarbeiten, was er ihnen erklärt hatte. Dann drehten sie ihre Köpfe fast gleichzeitig hinunter auf das Spielfeld, wo Brower mit Vicky schimpfte.

„Was müsste Vicky machen, um zu gewinnen?“, wollte Frank wissen.

„Einfach von der Grundlinie spielen und die Gegnerin ausspielen. Die kann doch nichts außer Aufschlag!“

Frank sah Tanner kurz an. „Würden Sie meine Tochter trainieren?“, fragte er dann.

„Liebend gern!“, meinte dieser. „So ein Talent hatte ich schon lange nicht mehr unter meinen Fittichen!“

„Abgemacht!“ Frank reichte ihm die Hand und Marc schlug ein.

Dann erhob sich Frank, ging langsam die Stufen der Tribüne hinunter aufs Spielfeld, ungeachtet der Tatsache, dass das Spiel in vollem Gange war und stiefelte hinüber zu Brower.

Der Schiedsrichter traute seinen Augen nicht, dann ermahnte er Frank, der sich jedoch nicht darum scherte. Vielmehr baute er sich vor dem erstaunten Brower auf.

„Verschwinden Sie und lassen Sie meine Tochter in Ruhe!“, meinte Frank. „Sie sind gefeuert. Sie sind nicht der Richtige für meine Tochter. Und sehen Sie zu, dass Sie mir aus dem Weg gehen, sonst kann es sein, dass ich mich vergesse!“

Brower war für einen Augenblick sprachlos, da ihm so etwas noch nie passiert war. „Sind Sie verrückt?“, brüllte er Frank an. „Noch nie hat mich irgendjemand gefeuert. Man feuert einen Tom Brower nicht!“ Er sah Frank mit blitzenden Augen und geballten Fäusten an. „Ich bin der beste Trainer des Clubs!“

Der Schiedsrichter tobte auf seinem Stuhl und das Publikum raste. Die einen schrien Frank verärgert an, die anderen genossen jauchzend das Spektakel.

Da packte Frank Brower am Kragen und zog ihn zu sich hoch. „Wenn du nicht sofort verschwindest, verprügele ich dich hier vor dem ganzen Publikum.“

Brower begriff, dass es ernst war und taumelte rückwärts aus der Arena. „Das, das vergesse ich Ihnen nicht!“, schrie er außer sich. „Niemand behandelt mich so. Sie haben sich einen Feind erworben, einen Todfeind!“ Gleich darauf war er draußen.

Nun kehrte plötzlich Stille ein. Alle harrten der Dinge, die nun geschehen würden.

„Sie müssen das Spielfeld verlassen!“, rief der Schiedsrichter Frank zu.

„Ich habe nicht vor, hier zu blieben!“, konterte dieser.

„Und ihre Tochter bekommt einen Punkt Abzug! Es steht dann 5:0 im zweiten Satz.“

„Ist in Ordnung! Ich bin gleich weg.“

Dann wandte er sich an Vicky. „Hör zu! Geh jetzt nicht mehr ans Netz! Spiel nur noch von der Grundlinie, hörst du? Spiel das Mädchen einfach aus!“ Er nickte Vicky lächelnd zu.

Vicky nickte zurück.

Frank ging zurück auf seinen Platz und sah mit zunehmender Freude, wie Vicky ihre Gegnerin nach Belieben ausspielte. Am Ende stürmte eine überglückliche Tochter hinauf zu ihrem Vater und fiel ihm vor Freude weinend in die Arme. Das Publikum, das zunächst ungläubig die Wende des Spieles wahrgenommen hatte, empfand mit zunehmendem Spielverlauf Sympathie für Vicky und dankte ihr nun mit stehenden Ovationen für dieses Spektakel, ja zeigte Begeisterung und Rührung für die Szenen, die sich nun zwischen Eltern und Tochter abspielten.

Als sich alles ein bisschen beruhigt hatte, zeigte Frank auf Marc Tanner. „Sag „Hallo“ zu deinem neuen Trainer!“

Vicky sah in das strahlende Gesicht des Sonnyboys. „Hallo!“, sagte sie, ohne zu begreifen, was geschehen war.

6

Wieder waren einige Monate vergangen, in denen Viktoria fleißig und auch mit Freude trainiert hatte, was vor allem an Marcs abwechslungsreichem Training lag. Sie gewann auch alle ihre Ligaspiele und einige Nachwuchsturniere, bei denen er sie auch coachte, weil er auch der Trainer der Ligamannschaft ihrer Altersgruppe war. Er verstand es auch, hervorragend mit ihr umzugehen. Und so sammelten sich in einer extra eingerichteten Vitrine in ihrem Zimmer schon Pokale und andere Siegestrophäen.

Umso überraschender war es dann, als Vicky eines Tages nicht aufzufinden war, als sie zum Training sollte.