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Gerhard Köpf

Palmengrenzen

ROMAN


Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

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1. Auflage 2020

© 2020 by Braumüller GmbH

Servitengasse 5, A-1090 Wien

www.braumueller.at

Coverfoto: Shutterstock / © frankie's

ISBN 978-3-99200-269-6

eISBN 978-3-99200-270-2

Dieser Roman ist kein Tatsachenbericht,

sondern ein Werk der Fiktion.

Personen und Orte sind erfunden.

Jede Ähnlichkeit mit Lebenden oder

Verstorbenen wäre rein zufällig.

Die schönsten Stunden im Leben liegen häufig ein wenig außerhalb der Legalität.

Alain Delon

Inhalt

Prolog des Herausgebers

Die Palmengrenze

Die Geräuschlosen

Der schöne Antonio

Campodivespe

Casa Nuvole

Da Bruno

Café Gondola

Klausentreiben

Grand Hotel Garibaldi

Radio Sant’Angelo

Die junge Generation

Der Commendatore

Die Witwe

Die Konferenz von Monza

Ein Anruf

Il ritorno in patria

Nachweis

Prolog des Herausgebers

Viele wussten, wer er war, aber richtig gekannt hat ihn kaum einer. Seinesgleichen findet man heute nicht mehr. Ziegler hieß er, Bruno Ziegler. Manchmal behauptete er scherzend, man habe ihn nach dem Ketzer Giordano Bruno getauft, und eines Tages werde auch er auf dem Campo de’ Fiori enden.

Von Beruf war er Notar, Doktor beider Rechte, des zivilen und des kanonischen. Unter seinen Eigenheiten stach eine hervor: Er schrieb immer alles auf. Penibel wie er war, legte er Verzeichnisse an, verfasste Aktennotizen, protokollierte, dokumentierte, wie man es ihm im Studium beigebracht hatte nach der Devise: Was nicht dokumentiert ist, existiert nicht. Daran hielt er fest. Bis zum Schluss. Stets hatte er sein Notizbuch zur Hand. Nur der letzte Eintrag fehlt.

Alles andere liegt vor. Diese Aufzeichnungen übergebe ich hiermit der Öffentlichkeit. Das bin ich ihm schuldig, und ich bin sicher, dass er es so gewollt hätte, denn ich kannte ihn gut. Bruno Ziegler war mein Freund. Er war beruflich viel unterwegs. Aber von seiner letzten Reise kam er nicht mehr lebend nach München zurück. Wie oft er schon nach Italien gefahren ist, kann ich nicht zählen. Schließlich lebte er sogar eine Zeitlang in diesem Land, in das er regelrecht vernarrt war, wohl wissend, dass es nirgendwo auf der Welt so viele „Italienkenner“ gibt wie in München. Mit denen hatte er nichts zu tun.

Als der Eurocity EC 82 aus Bologna Centrale an Josephi vergangenen Jahres mit 13 Minuten Verspätung um 22 Uhr vierzig im Münchner Hauptbahnhof einlief, fanden Angehörige der Putzkolonne seine Leiche in einem Abteil Erster Klasse, dessen Vorhänge zugezogen waren. Da waren die Waggons schon zur Reinigung abgestellt: nicht auf dem Campo de’ Fiori, sondern hinter dem Ostbahnhof. Der Tote hatte ein Loch im Kopf, allem Anschein nach war er mit einer Pistole aus nächster Nähe erschossen worden. Er war sofort tot. Es war ein Augenschuss. Jeder Krimileser weiß, dass dies gewöhnlich jemandem gilt, der etwas gesehen hat, das er nicht hätte sehen sollen. Neben ihm lagen ein zerlesenes Exemplar des Romans Palermo Connection und ein nagelneuer Hut. Ein feines italienisches Modell, ein Borghi Lorenzo. Wie der gerichtsmedizinische Befund ergab, muss die Tat nach der obligatorischen Grenzkontrolle auf dem letzten Teil der Strecke zwischen Rosenheim und München ausgeführt worden sein. Niemand hatte etwas gesehen oder gehört. Da weder Brieftasche noch Geld oder Wertgegenstände fehlten, kann Raubmord ausgeschlossen werden. Offensichtlich handelte es sich um eine Hinrichtung. Es wurde mit großer Sicherheit ein Schalldämpfer verwendet. Weder gab es Kampfspuren noch sonstige Hinweise im Abteil. Die Fingerabdrücke waren naturgemäß viel zu zahlreich, um sie sinnvoll auswerten zu können.

Die Ermittlungen gestalteten sich als äußerst schwierig. Augenzeugen gab es nicht, das Zugpersonal konnte keinerlei Auskunft geben, sämtliche Mitreisenden waren in alle Winde zerstreut, und bis zum heutigen Tag wurde kein Täter verhaftet. Von einem Motiv fehlt jede Spur. Bei Nachfragen erhält man die stereotype Antwort: Zu den laufenden Ermittlungen können wir aus taktischen Gründen keine weiteren Angaben machen. Das bedeutet alles und nichts.

Bruno Ziegler hatte keine Feinde. Sein Tod muss meines Erachtens etwas mit seiner letzten Reise nach Mailand zu tun haben, und er muss etwas gewusst oder gesehen haben, das ihn das Leben kostete. Hatte ihm sein letzter obskurer Bekannter, der ebenfalls ermordete Hotelier Aniello Sidara, ein Geheimnis anvertraut, über das nichts in seinen Aufzeichnungen stand? Mussten die beiden Männer deshalb sterben? Ein Sprichwort der Mafia sagt: Drei können ein Geheimnis wahren, wenn zwei tot sind.

Da es Bruno Ziegler nie um persönliche Reichtümer oder materielle Güter zu tun war, konnte es auch irgendetwas mit dem Allgäu zu tun haben, dem Land, aus dem er stammte und dem er sich, im Gegensatz zu mir, mit wachsender Sorge verbunden fühlte.

Außer seinen Kleidern konnten jene Papiere Zieglers sichergestellt werden, die ich mit ausdrücklicher Zustimmung der Staatsanwaltschaft dem Leser hiermit übergebe.

Damit verbinde ich die aufrichtige Hoffnung, etwas zur Aufklärung des scheußlichen Verbrechens an meinem besten Freund beitragen zu können. Sollten Sie also etwas wissen, verehrte Damen und Herren, so bitte ich Sie inständig, sich zu melden. Jede Kleinigkeit kann von Bedeutung sein, und jeder, dem etwas Verdächtiges aufgefallen ist oder der von dem außergewöhnlichen Fall Kenntnis hat, möge sich umgehend mit der Polizei oder der Staatsanwaltschaft in Verbindung setzen. Dabei kann auf Wunsch auch Vertraulichkeit zugesichert werden.

Bruno und ich kannten uns seit vielen Jahren. Wir stammten beide aus dem Allgäu, beide studierten wir in München, lebten ein Jahr gemeinsam in Rom und haben uns trotz unterschiedlicher beruflicher und privater Entwicklungen nie aus den Augen verloren. Beide hatten wir eine bewegte Jugend hinter uns. Um diese zu charakterisieren, muss die Chiffre 68 genügen. Allerdings war ich nicht so kompliziert gestrickt wie er. Bruno entschied sich damals für Jura und interessierte sich zuletzt für die Kulturgeschichte der Henkersmahlzeit, ich wurde Apotheker und sammle seit Jahren Schneekugeln der Marke Rosebud. Wir waren beide verwitwet und ohne Nachkommen, gewissermaßen die letzten Mohikaner.

Insbesondere in den letzten Jahren nach unserer Pensionierung hat sich unser Kontakt wieder intensiviert. Wenn Bruno gerade nicht auf Reisen war, sahen wir uns mehrfach wöchentlich oder telefonierten miteinander. Beide lebten wir zurückgezogen und nahmen kaum noch am kulturellen Leben teil, zumal es überwiegend von Prosecco-Intellektuellen beherrscht wurde. Im Alter nimmt die Zahl der Freunde auf natürliche Weise ab. Alte Feindschaften unterliegen demselben Gesetz, und zu neuen hat unsere Energie nicht mehr gereicht. Die großen Schlachten waren geschlagen, für Prügeleien waren wir zu alt. Dafür trafen wir uns in Cafés und plauderten über Rotwein, tote Dichter und die Politik. Dabei zitierte Bruno gern Karl Heinz Bohrer, der die Kohl-Republik einst eine „Fußgängerzone des Geistes“ genannt hatte, und er stellte zuletzt die Frage: Und heute?

Zwischen uns gab es nur ein Tabu: Das Thema Krankheiten. Darüber wurde geschwiegen. Ebenso über die Adressen irgendwelcher medizinischer „Spezialisten“. Wir besaßen auch keine E-Bikes und spielten weder Tennis noch Golf. Stattdessen tauschten wir uns über unsere Forschungen als Privatgelehrte aus und führten jene sokratischen Dialoge fort, die wir Mitte der 80er-Jahre in Rom im Restaurant Al Pompiere begonnen hatten. Vor diesem Hintergrund geistiger Verbundenheit bestimmten wir uns, wie notariell hinterlegt, wechselseitig als Nachlassverwalter. Deshalb bin ich im Besitz der folgenden Aufzeichnungen.

Es gab für uns alte Knaben nicht mehr viel, was wir wirklich ernst nahmen. Wir gehörten jener wertekonservativen Generation an, die allmählich im Aussterben begriffen ist. Unser Interesse an Frauen war erfahrungsgemäß nur noch von einer sanften, selbstironischen Misogynie geprägt. Wir glichen Darstellern in einem alten Film, den man schon hundertmal gesehen hat, den man in- und auswendig kennt, was jedes Mal zutiefst beruhigend wirkt und einen gründlich davon abhält, sein Leben doch noch ändern zu wollen.

Jetzt bin ich allein beim Frühstück und an den Abenden, und gleiche jenen alten Männern, die in dunklen Anzügen irgendwo im Süden auf Bänken sitzen, den Hut ins Gesicht gezogen, die mit ihren Stöcken im Sand scharren und bei mildem Nachmittagslicht langsam durch die Erinnerungen segeln wie durch ein altes Gemälde.

Alte Männer in der späten Sonne haben nicht mehr viel Zeit, um ein wenig Gold aus ihrer eigenen Geschichte zu waschen. Die Erinnerungen zerren an ihrem Gedächtnis wie ein junger Hund und wollen von der Leine gelassen werden. Ihre einzige Hoffnung für die Zukunft ist ein gnädiger Tod, der ihrer Enttäuschung, nicht fertig geworden zu sein mit dem richtigen Leben, zuvorkommt. Das Ungestüme ist schon lange aus ihren Augen gewichen, denn sie haben im Leben gelernt, im rechten Augenblick wegzuschauen. Das macht sie zuversichtlich, das Schlimmste nicht mehr erleben zu müssen, weil sie es bereits hinter sich haben. Noch immer glauben sie, von den alten Zeiten etwas in Pacht zu haben, und immer weiter möchten sie sprechen, wie Kinder, die abends nicht ins Bett wollen. Die in den Kies gezeichneten Kreise gleichen geheimnisvollen Zeichen, die auch diese Alten nicht deuten können, obgleich sie alle etwas mit Vergänglichkeit zu tun haben angesichts des bescheidenen Genusses, den die täglich zager werdende Sonne verspricht. Niemand kennt den Film, der vor dem inneren Auge der einsam schweigenden Männer auf der Parkbank abläuft, und keiner weiß, wo er beginnt und wie er endet.

Aber ich will nicht schweigen, denn ich kann mich mit dem Tod meines besten Freundes und langjährigen Weggefährten nicht abfinden. Zwar habe ich meine eigene Theorie zum Mord an Bruno Ziegler, die ich schon x-fach zu Protokoll gegeben habe, doch mag ich noch so schlüssig argumentieren: Die offiziellen Stellen wollen meine Ansichten nicht teilen. Sie lehnen jedwede Beteiligung der Mafia ab und vertreten stur wie Ochsen die offizielle These, Bayern sei seit vielen Jahren der Spitzenreiter bei der Inneren Sicherheit. Nirgendwo sei es sicherer für die Bürger, zu leben und in Unternehmen zu investieren.

So verkündet es vollmundig die Politik. Wollte man ihr Glauben schenken, so gäbe es weit und breit keine Mafia. Am wenigsten in den Allgäuer Dörfern.

Aber wer glaubt schon der Politik? Sie übersieht die Kleinigkeit, dass auch die Cosa Nostra in den Dörfern entstanden und groß geworden ist.

Auf den folgenden Seiten wird von meinem Freund gewissenhaft berichtet, wie sich langsam und unauffällig, versteckt hinter kleinen, harmlos scheinenden Geschäften die Mafia ausgebreitet und allmählich nach Norden verschoben hat, bis sie in den 80er-Jahren im Allgäu angekommen ist. Es ist die Geschichte einer ebenso verschwiegenen wie erfolgreichen Eroberung.

Diente das Allgäu der Mafia zunächst als erholsames Rückzugsgebiet, so ist es heute eine effiziente Operationsbasis. Eine neue Generation ist jetzt aktiv. Man nennt sie die Geräuschlosen. Sie bomben keine Staatsanwälte mehr in die Luft, sondern sind soziale Aufsteiger, international aufgestellt, fachlich hoch qualifiziert, bis in Regierungskreise hinein bestens vernetzt und in erster Linie bestrebt, keinerlei Aufsehen zu erregen. Wo ihnen das gelingt, sind sie weitaus effizienter als ihre Väter, die noch wild um sich schossen.

Deshalb stimmt ironischerweise zuletzt doch, was die Politik sagt und der sizilianische Schriftsteller Leonardo Sciascia schon in den 80er-Jahren prophezeite: Die Staatsmacht wird zum Schutzschild der Mafia. Nirgendwo ist es für die Mafia sicherer zu leben und in ihre Unternehmen zu investieren.

Die Palmengrenze

Non puoi aprire la porta del passato senza farle cigolare, lautet ein altes Sprichwort der Cosa Nostra: Man kann das Tor zur Vergangenheit nicht öffnen, ohne dass es knarrt. Jede Geschichte öffnet ein Fenster in die Vergangenheit, selbst wenn sie in der Gegenwart spielt, aber nicht jede Geschichte muss ein gutes Ende haben. Manche Geschichten haben gar kein Ende, weil sie noch immer andauern. Das könnte auch für diese Aufzeichnungen gelten.

Gestatten Sie, dass ich mich vorstelle: Mein Name ist Bruno Ziegler.

Ich bin Notar im Ruhestand. Geboren wurde ich kurz nach Kriegsende 1945 in Wertach im Allgäu, seit über fünfzig Jahren lebe ich in München. Meine aktuellen Aufzeichnungen beginnen in einem Hutladen in Milano: Dieser Besuch in der Cappelleria Melegari war lange geplant. So viel Zeit vor meiner Heimreise musste sein! Das Geschäft existiert seit über hundert Jahren. Ein Dorado der Mützen und Hüte in allen Farben, Formen und Größen. Ich war ohnehin schon seit Jahren auf der Suche nach einem geeigneten Hut: weiche, nicht zu große oder zu breite Krempe, dunkelgrau, dezentes schwarzes Band, seidengefüttert. Der Verkäufer, ein feiner älterer Herr mit besten Manieren, tadellos sitzendem Blazer und strengem Windsorknoten, wusste sofort, was ich mir vorstellte. Er taxierte meinen Kopf und nannte mit der Geschmeidigkeit eines Profis meine Größe. Der Venditore legte mir seine Angebote vor und strich ein wenig gönnerhaft mit bleichen femininen Fingern und manikürten Nägeln über den edlen Filz, was ich ihm angesichts der noblen Umgebung, in der sich der Handel vollziehen sollte, durchaus gönnte. Das erste Modell, das ich probierte, saß ein wenig zu stramm, das zweite war mir etwas zu auffällig, beim dritten schien mir die geschwungene Krempe zu amerikanisch. Das Exemplar in der untersten Schachtel jedoch gefiel mir auf Anhieb. Ich probierte das gute Stück an und fühlte mich wohl. Es war zwar kein Borsalino, dafür ein feiner Borghi Lorenzo. Der Hut saß, als trüge ich ihn schon seit Jahren. So muss es sein. Auch der feine Herr hinter der Ladentheke war mit meiner Wahl einverstanden, was ein ironisches Lächeln verriet, das über seinen Mund huschte. Hatte der Verkäufer wirklich soeben Humphrey Bogart gemurmelt? Oder bildete ich mir das nur ein? Ironie, verpackt als Kompliment, ist eine italienische Spezialität. Der Signore verstand sich auf Schmeicheleien, um mir das Bezahlen zu erleichtern. Bei dem Preis hätte mir eigentlich schwindlig werden müssen. Als ich den Laden verließ, merkte ich, dass ich irgendwie anders ging. Mein Schrittmaß hatte sich verändert. Mir war zumute wie nach einem Kinobesuch, der einem den Rücken stärkt und die Gangart verändert. Das kam von dem, was ich da auf dem Kopf trug. Jedes Schaufenster nützte ich, um mich zu überzeugen, dass ich in Wirklichkeit aus einem Film stammte. Erst drei Straßen weiter merkte ich, dass mir ein bekanntes Gesicht folgte. Man spürt so etwas instinktiv.

Der Mann, der mich seit Monza beschattete, war gut gekleidet, um die Vierzig, circa eins achtzig, drahtig und muskulös, wie ich aus den Augenwinkeln feststellen konnte. Er verlor mich – ob absichtlich oder nicht, entzieht sich meiner Kenntnis – zuletzt im Menschengewimmel. Es war nicht schwer, sich zu verlieren. Milano Centrale ist einer der größten und zugleich wichtigsten Bahnhöfe Europas. Seine imposante Erscheinung verdankt er Mussolini. Heute zählt der Hauptbahnhof zu den Grandi Stazioni Italiens. In der Haupthalle herrscht ein schier unüberschaubares Gewusel, man könnte sich tagelang darin aufhalten und Studien betreiben. Doch ich musste zurück nach Hause.

Die italienischen Züge waren überraschend sauber und pünktlich. In Milano Centrale nahm ich den Frecciarossa nach Venezia Santa Lucia, stieg aber in Verona Porta Nuova um und fuhr mit dem aus Bologna kommenden EC über den Brenner Richtung München. Meine Forschungen im Archivio di Stato di Milano zur Kulturgeschichte der Henkersmahlzeit waren abgeschlossen, sämtliche mir wichtigen Materialien gesammelt und gesichtet. Jetzt fehlte nur noch die Reinschrift, die ich in aller Ruhe zu Hause vornehmen würde. Nachdem ich mich im leeren Abteil ausgebreitet, das Gepäck verstaut, den Mantel an den Haken gehängt, die Schuhe abgestreift und meine Beine auf dem gegenüberliegenden Sitz ausgestreckt hatte, überließ ich mich dem Dahingleiten des Zuges und schickte meine Gedanken auf Freiflug hinaus aus dem Fenster, um entspannt noch einmal all jene Ereignisse zu rekapitulieren, die mich in letzter Zeit auf so eigenartige Weise beschäftigt hatten. Den Hut behielt ich auf und schob ihn lediglich ein wenig ins Genick.

Ich schloss die Augen und war sogleich in einem Film, der vor mir ablief. Dabei muss ich wohl vor lauter Kopfkino eingenickt sein. Als ich wieder erwachte, zückte ich, einer alten Gewohnheit folgend, mein Notizbuch. Schon begann mein Stift wie von selbst über das Papier zu gleiten und die Seiten zu füllen. Ich fühlte in mir den Drang, jene Dinge skizzenhaft noch einmal gedanklich zu durchleben, die in mein bis dahin bestens eingerichtetes, notariell geordnetes Leben getreten waren, in dem ich mich durchaus wohl gefühlt hatte. Erfahrungsgemäß gelang mir das Rekapitulieren immer am besten, wenn ich es aufschrieb. Ich legte sozusagen gewohnheitsmäßig eine Aktennotiz an. Dabei war mir, als suchten die Geschehnisse ihren Weg aus meinem Kopf über meinen rechten Arm in meine Hand, und von dort, verlängert über meinen Bleistift, in mein Notizbuch. Es war eine Art Automatismus, verbunden mit dem Bedürfnis, meine jüngsten Erfahrungen einer Institution mitzuteilen. Aber wer kam dafür infrage? Für „Innere Sicherheit“ ist das Innenministerium zuständig. In Bayern gibt es außerdem das Staatsministerium der Finanzen, für Landesentwicklung und Heimat: eine Fächerverbindung, die wie von der Mafia ersonnen scheint. Finanzen und Heimat! Kernkompetenzen der Ehrenwerten Gesellschaft. Die höchste Institution für mich war freilich immer noch mein Notizbuch, dem ich meine Gedanken, meine Erfahrungen und Erlebnisse anvertraute und auf das ich jederzeit zurückgreifen konnte. Ich halte mich an die eiserne Regel: Nulla dies sine linea.

„Mafia“ ist ein inflationär gebrauchtes Wort, das angeblich vom arabischen mafya stammt mit der Bedeutung von „Ort des Schattens“. Andere nennen ein Theaterstück namens I mafiusi di la Vicaria aus dem neunzehnten Jahrhundert als Ursprung. Mögen sich darüber die Gelehrten streiten … Fest steht: Kein Mafioso nennt sich Mafioso, und keiner spricht von der Mafia. Es geht immer nur um die gemeinsame Sache: La Cosa Nostra.

Mein Bleistift trieb mich weiter, die Worte flogen nur so aufs Papier, sie ließen sich nicht länger zurückhalten. Mich erfasste eine Art Schreibrausch, und mich überraschte, was sich da wie von selbst formulierte und unter der Hand zugleich ein Ich entwarf, in dem das Subjekt vom Ego separiert war.

Nicht, wo du die Bäume kennst, sondern wo die Bäume dich kennen, ist Heimat, hörte ich einst auf einer Reise durch die Mandschurei. Der jüngst wieder in Mode gekommene, seiner angebräunten Ränder notdürftig entkleidete und von höchsten Stellen erneut in ideologische Umlaufbahnen geschossene Begriff der Heimat ist mir alles andere als fremd. Allerdings hat sich in meiner Heimat seit vielen Jahren etwas festgesetzt, das mittlerweile nicht mehr wegzudenken oder wegzudiskutieren ist, weil es dieser Region ihr zeitgenössisches Profil verschafft.

Ich spreche von der Ehrenwerten Gesellschaft, der Mafia, die von ihren Mitgliedern nie so genannt wird. Sie sprechen je nach Region von der Cosa Nostra, der ’Ndrangheta, Camorra oder der Sacra Corona Unita. Und diese gehören zum Allgäu wie Laptop und Lederhose zu Bayern, fast möchte ich sagen: Dieses lodenversiegelte Allgäu ist der Club Méditerranée der Mafia!

Die Ursache dafür ist die Verschiebung der Palmengrenze. Diese Theorie geht auf den sizilianischen Schriftsteller Leonardo Sciascia zurück. Wie sich die Palmen immer weiter nach Norden ausbreiten, breitet sich auch die Mafia immer weiter aus. Palmen wachsen heute auch an Orten, an denen sie gestern noch undenkbar waren. Und genauso verhalte es sich, so Sciascia, mit der Verbreitung der Mafia. Mittlerweile wachsen Palmen und Mafia nicht nur in den industriellen Zentren, sondern auch im Allgäu.