Read the book: «Beziehungen und andere Feindschaften»

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Gerd Berghofer

Beziehungen

und andere Feindschaften

Literatones Verlag

Gerd Berghofer wurde 1967 in Nürnberg geboren und lebt mit seiner Familie seit fast 30 Jahren im mittelfränkischen Georgensgmünd. Für seine Veröffentlichungen wurde er mehrfach ausgezeichnet. Sein Schaffen umfasst Lyrik, Erzäh-lungen, Theaterstücke, Biografien, aber auch zahlreiche Arbeiten für Hörfunk, Zeitungen und Zeitschriften, ebenso diverse wissenschaftlich-heimatkundliche Bücher, wobei hier insbesondere seine Arbeiten über die jüdische Geschichte Georgensgmünds zu erwähnen sind in der Reihe „Die Anderen 1-3. Nähere Informationen über den Autor, Sprecher und Rezitator Gerd Berghofer gibt es auf der Website www.gerd‐berghofer.de.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d‐nb.de abrufbar.

Überarbeitete Neuauflage des Buches aus 2003.

© 2021 Literatones Verlag e.K., Georgensgmünd. Alle Rechte der Vervielfältigung und Verbreitung einschließlich Film, Funk und Fernsehen sowie der Fotokopie, der elektronischen Speicherung und der auszugsweisen Veröffentlichung vorbehalten.

Druckvorstufe: Literatones Verlag.

Der mehrfach ausgezeichnete Autor Gerd Berghofer führt die Lesenden in die Welt der kleinen und großen Katastrophen zwischen Mann und Frau. Im kunstvollen Wechsel zwischen Melancholie, Sarkasmus, Scherz, Satire, Ironie und höherer Bedeutung erschafft er mit jeder Teilgeschichte eine neue sprachliche Welt und sowohl die Rahmenerzählung als auch all die anderen Geschichten ergeben zusammen eine Gesellschaft von Unglücklichen, die in fiktiven „Beziehungen“ leben, für die das Wort „Feindschaften“ zumeist untertrieben, selten jedoch übertrieben ist.

Berghofers „Beziehungen“ zeigen Szenen eines „Regens“, der zwischen erotischem Versprechen und banaler Wirklichkeit sich dreht. Seine Kunst ist, das Schema immer wieder durch das Unerwartete, Überraschende zu durchbrechen und seine Figuren gleichermaßen schadenfrohem Voyeurismus wie gelangweiltem Wiedererkennen zu entziehen. Gerade durch die zeitliche Distanz von nahezu 20 Jahren zur Erstausgabe besticht die Erzählung heute durch einen anderen Blick auf die Zeit und vor allem auf die Sprache.

Mit diesem Werk war der Autor in der Endausscheidung um den Bay.-Schwäbischen Literaturpreis 2002 vertreten. 2003 erhielt er u.a. für dieses Buch den Elisabeth-Engelhardt-Literaturpreis.

Es ist Sache eines Kindes,

nicht eines erwachsenen Mannes,

maßlos nach etwas zu verlangen.

(Demokrit)

Solange die beiden verheiratet sind, der Mann und die Frau, die einen gemeinsamen Namen tragen und sich selbst, nachdem sie sich all die Jahre mehr als genug waren, im Augenblick zu viel zu sein scheinen, solange sie sich kennen und verheiratet sind, sind sie sich doch lebende Rätsel geblieben. Sie stehen in der Mitte ihrer Jahre und halten diese Erkenntnis in ihren Händen wie eine alte Scheibe trockenen Brots, die ohne Aufstrich derb schmeckt. Sie sind die Hauptdarsteller dieser ihrer Tragödie, deren Regisseur und Zuschauer.

Es ist Abend, Samstagabend, und sie verbringen diesen Abend wie die anderen vorher bislang im dünnen Umgang mit Worten füreinander, sie haben jedes überflüssige Wort gestrichen und verwenden die Nötigen nur dann, wirklich nur dann, wenn es nicht anders geht. Ihre Übereinkunft, an diesem Abend auswärts zu essen, kommt nicht von ungefähr, sie essen meistens auswärts; spielend leicht wäre es gewesen - für beide - ,die sie berufstätig sind oft bis spät in die Nacht (deshalb stehen sie ja heute dort, wo sie sich überrascht wiederfinden wie große Rätsel), leicht wäre es also gewesen für jeden von ihnen, direkt im Anschluss an die Arbeit auswärts etwas zu essen, oder bei Freunden, oder wo auch immer. Doch, ach, obwohl sie soweit voneinander entfernt sind wie Uranus von Venus, sind sie einander zugehörig und können nicht voneinander lassen, als läge ihre Bestimmung darin, sich gegenseitig abzustoßen und anzuziehen, aufzufressen und auszuspeien. Verwachsen wie Zwillinge aus Siam sind sie heute, sie wissen es. Sie sind unglücklich darüber und stolz in einem. Sie wissen, dass der andere zumindest aufhorcht, wenn man ihn ruft, auch wenn er nicht antwortet und sie sorgen sich darüber, trotz allem. Er holt sie ab an jenem Abend, von zuhause, wo sie beide wohnen und schlafen, und doch wie ein Fremder. Und sie treffen sich in ihren eigenen Räumen wie Fremde an einem Bahnsteig, wie eine zufällige Bekanntschaft begegnet sie ihm wartend in der Diele, er muss nur die Tür aufhalten und ihrem Körper, der zierlich neben ihm wirkt und optisch beinahe daneben verschwinden möchte, Platz geben, sich beinwärts zu entfalten. Die U-Bahnstation ist ganz in der Nähe, das Auto bleibt an diesem Abend stehen, so kann er seinem Kummer beikommen auf seine Art, und sie auf die ihre. Sie liegen sehr pünktlich in der Zeit, er wagt nicht, auch nur einen Wimpernschlag zu überziehen und richtet seinen Blick allgemein in ihrer Anwesenheit recht sittsam aus, soweit es ihm, für einen Mann, das sei bemerkt, gelingt. Für sie ist er ein schwerhöriges Wesen, nie hört er zu, wenn sie Worte findet, aber er verlangt dies mit seinem Organ durchweg und reißt das Recht des Redens an sich und vergeht sich an ihrem Ohr mit Dingen, die sie nicht hören will. Er, so wäre seine Idealvorstellung, möchte die Welt lieben, solange sie nur Brüste hat und sie sicher zuhause wissen.

Wie linkisch er wirkt, wenn er so begossen neben ihr herbettelt. Sogar als sie das Restaurant betreten, lässt er ihr den Vortritt, wo er doch immer vorneweg zu erscheinen pflegte mit der Masse seines Körpers, sein Hauswesen im Gefolge, doch immer wahrt er den Stil und die Höflichkeit, hält alle Türen auf wie selbst die an seiner Hose, die nur leichtverschlossen war in letzter Zeit, wie sie jetzt weiß; jetzt im Augenblick hütet er sich und das Türchen wie kein zweites. Sie sinnt und sinnt um eines, und ihr Sinnen bringt ihm das Schicksal einer Dörrpflaume nah, sie lässt ihn links und rechts liegen und leiden. Er ist nicht gewohnt, was sie mit ihm tut und seine Klagen darüber, es solle sich alles zum Guten wenden und wandeln, lassen sie kalt. Wie meinte sie, ehe sie schwiegen? Diese Form von Beziehung ist eine Form von Feindschaft. Sie haben den Tisch bestellt und werden vom Kellner abgeholt, ein recht zentraler Tisch, er hasst das, sie findet ihn gerade passend für die Inszenierung des Stückes, in dem sie sich gerade befinden. Ihm wäre eine Nische, ein Tisch an der Wand besser gelegen, seine in die Öffentlichkeit getragene Scham vermag er nur schwer zu ertragen. Sein innerer Schweinehund bellt und schlägt an, als sie sich setzen und doch nicht mehr, denn Hunde, die bellen, beißen nicht. Nur eine stille Frage geistert durch die trüben Gesimse seines Gehirns: Ob alle Beziehungen so kompliziert sind? Sie würde ihm entgegenhalten: Das liegt an den Menschen. Schau doch mal hinaus. Sieh hinaus in die Stadt.

Zum Beispiel.

***

Ein junger Mann hält es für eine hervorragende Idee, bei Nacht und keinem Nebel einen Ausflug in den Zoo zu unternehmen. Das ist nicht alltäglich. Eine Art Midnight-Safari. Der Mann überwindet den hohen Schutzzaun spielend an einer geeigneten Stelle. Niemand entdeckt ihn dabei. Nachts besitzt der Zoo etwas abenteuerliches, findet er. Sein Herz schlägt lautstark, das Gehämmer entspringt, dessen ist er sicher, direkt im Hals und eben dieses Herz, das anatomisch so völlig anders angesiedelt ist, lässt ihm auch keinen Platz zum Schlucken, keinen Platz zu atmen.

Er fürchtet sich nicht, hält etwas in ihm seinen Symptomen entgegen, aber dieses Etwas kann sich kaum wehren. Der fremde Geruch von Tieren und deren Exkrementen steigt ihm in die Nase. Irgendwo schreit ein Tier eine heisere Tonfolge, es ist ein Krächzen oder ein Brüllen, nicht zu deuten, beängstigend undeutlich. Andere Tiere fallen ein in den Chor. Chor der Gefangenen, denkt es in ihm und der Gedanke spinnt sich selbst weiter, verselbständigt sich. Bringt ihn zu Beethoven. Er sieht eine weiße Büste vor seinem geistigen Auge und zweifelt darüber an seinem Verstand. Klavierunterricht fällt ihm ein. Relikt einer Zeit, in der seine Eltern noch glaubten, dass das Heil der Zukunft im Besuch eines musischen Gymnasiums läge.

Trübe Beleuchtung liegt über allem, sie ist gelb und fällt auf den Schotterweg, der sich darunter ähnlich gelb färbt. Ein Weg, der sich häufig windet und verzweigt und an jedem Käfig des Zoos, und damit an jedem Tier, vorbeischlängelt. Ein Gorilla faucht, als der Mann seinen Käfig passiert. Er erschrickt und macht, unbewusst und eben verschreckt, einen Satz zur Seite. Blöder Affe, knurrt er halblaut, verschluckt die zweite Hälfte des Satzes, weil er befürchtet, seine Stimme könnte die Tiere noch mehr aufbringen, als es vielleicht seine pure ungewohnte Anwesenheit, verbunden mit seinem Geruch, für die Tiere wahrscheinlich Gestank, bereits tut. Der Mann sucht ein bestimmtes Gehege. Er kann sich mühevoll orientieren, doch tagsüber sieht alles völlig anders aus als eben zur Nacht. Was er sich bei seinem letzten Besuch als Merkmal einprägte verschwand mit Einbruch der Dunkelheit und liegt nun verborgen. Orientierung der groben Art, über den Daumen gepeilt, vielleicht auch vermischt mit Instinkt, lässt ihn weitergehen, wobei „Gehen“ nicht richtig ist, sein „Gehen“ ähnelt einem katzenartigen Schleichen, etwas gekrümmt beinahe, vornübergebeugt, lauernd, raubtierhaft. Er ist vorsichtig, als wäre er der Vater der Porzellankiste, doch gilt dies nur der Möglichkeit, dass ein Nachtwächter wach wäre. Seine Silhouette verschwindet im Schatten des Wegrandes, wo seine dunkle Kleidung, eine schwarze Jeans und ein dunkelbraunes T-Shirt, mit den Büschen und Sträuchern verschmelzen. Nur ein handflächengroßes, weißes Stück Papier, ein mehrfach gefalteter Zettel, leuchtet aus seiner hinteren Hosentasche. Schließlich, nach unendlicher Zeit, wie ihm scheint, findet der Mann das gesuchte Gehege.

Ruhiger nun hält er inne. Steht er für einen Moment vor einem Drahtzaun und tut nichts anderes, als zu atmen. Seine Finger krallen sich in das Gitter, der halbe Mond kommt kurz hinter einer fetten Wolke hervor und kariert sein Gesicht mit dem Gittermuster, verschwindet sofort. Doch er zeigt augenblicklich genug.

Eine Eisbärenmutter liegt mit ihren beiden Jungen unter einem Felsvorsprung und scheint zu schlafen. Einen schlaffen Sprung entfernt ihr Schwimmbecken, das bis zum Zaun reicht, der sich auf einer Mauer nach oben zieht. Der junge Mann beginnt sich vor der Eisbärenmutter zu entkleiden. Er hört nicht eher auf, als bis er völlig nackt, in all seiner Scham, vor dem Gitter steht. Er legt seine Kleidung ordentlich, wie vor dem Zubettgehen, zusammen. Legt den vierfach gefalteten Zettel darauf. Der Zettel beinhaltet nicht viel: Für Yvonne. Dein Ewald. Er nimmt seine Brille ab. Was in der Ferne liegt, sieht er nun nicht mehr. Sie ist das Sahnehäubchen auf dem Haufen. Er klettert über den sogar mit Stacheldraht gesicherten Zaun, der ein Stück weiter oben um 45° nach hinten kippt. Zur Sicherheit. Aber er ist nicht sicher. Sicher ist dies: Er klettert darüber hinweg, reißt sich am Stacheldraht einige Wunden, seine Haut bleibt an den kleinen Haken hängen, er verheddert sich leicht, er reißt sich frei, der Stacheldraht vibriert und klappert leise, das Eisbärenweibchen blickt auf, ohne sich zu bewegen. Er klettert auf der anderen Seite hinunter und gleitet ins kalte Wasser hinab. Es plätschert leise. Die Eisbärenmutter hebt nun den Kopf. Sie traut ihren Augen nicht. Es ist doch keine Fütterungszeit. Sie springt behände auf, was man ihrem massigen Leib nicht zutraut, und gleitet mit bäriger Eleganz ins Wasser. Es spritzt auf, das Wasser hebt an zu einem dumpfen, verschluckenden Geräusch. Sonst macht sie keinen Lärm. Er schreit nicht. Sie sind sich einig.

***

Sie sitzen am Tisch und blicken sich kaum an. Sie sitzen sich gegenüber: Um sie herum der leise, gediegene Geräuschpegel des feinen Restaurants, der sich zusammensetzt aus vielerlei Zutaten, wesentlich eine Mischung ist aus Gemurmel und dem schrillen Kratzen des Bestecks auf den Tellern. Sie sitzen am Tisch und schweigen. Es bleibt nicht unbemerkt, dass sie sich nichts zu sagen haben, dass sie nicht das geringste verbindende Wort füreinander finden. Das Schweigen sorgt für Aufmerksamkeit, für Gekicher, für Kopfschütteln, für Thesen und Aberthesen, für Spekulationen aller Art, jedenfalls für Gesprächsstoff an den Nachbartischen. Sie blickt auf ihre Scholle, er auf sein Kaninchen, sie zerschabt die Scholle Millimeter für Millimeter, er zerschneidet das tote Bratenstück seelenruhig in kleine Häppchen, tunkt es in die helle, mit grünen Pfefferkörnern geschmückte Soße und führt sie zum Mund, in angemessenem Abstand. Mit Ruhe. Mit Pausen. Doch nicht zu großen Pausen, auf dass nicht die Gefahr einer Unterhaltung aufkommt. Die Kellner kommen von Zeit zu Zeit an ihren Tisch, fragen, ob denn alles recht wäre.

"Sehr recht" antworten sie dann unabgestimmt, lächeln artig und konzentrieren sich, ohne einander eines Blickes zu würdigen, auf ihre Teller. Sie würde gern mit ihm sprechen, doch sie weiß nicht, worüber sie sich mit ihm unterhalten soll; das Gespräch driftet spätestens nach dem zweiten Satz wieder auf seine Arbeit ab oder ins Triviale, das Heikle umgehend. Sie will sich, sie will sich nicht über seine Arbeit unterhalten; Triviales liegt ihr nicht.

Er würde sich gerne mit ihr unterhalten; doch er weiß nicht, worüber er sich mit ihr unterhalten soll; es driftet spätestens nach dem zweiten Satz wieder ins Triviale, oder auf ihre Arbeit ab, das Heikle vermeidend. So lassen sie es bleiben und schieben einander die Verantwortung zu, worüber sie natürlich auch nicht sprechen. Ihre gegenseitigen Vorwürfe haben sie eingefroren; tiefgekühlt, doch dauerhaft haltbar, so lagern sie. Die Landschaft auf der Tischdecke kommt ihren Gedanken entgegen, sie glänzt in erledigter Klarheit; eine Kerze in der Mitte, dreierlei Gläser für jeden auf dem Tisch, an der Seite der Weinkühler; Weißwein darin in schlanker badischer Flasche. Er suchte ihn aus, sie versteht nichts von Wein, das weiß er, das weiß sie, darüber braucht man nicht zu sprechen. Sie bestellte sich ihre Scholle selbst; das war praktisch. Zwischen ihren mit grünen Ornamenten verzierten, neukulinarisch übergroßen Tellern, leuchtet die weiße Tischdecke hervor, unbefleckt und jungfräulich. Die Luft, die sie atmen, riecht fett, nach besten Genüssen, nach Wein, nach Braten, nach Käse, nach feinsten Gemüsen. Sie essen mit oder ohne Appetit, man sieht es nicht, gleichmütig wirken beide Gesichter, wie sie kauen und auf ihre Teller sehen. Wenn sie aufblicken, dann blicken sie durch ihr Gegenüber hindurch, als bestünde es aus einer Illusion, von der man nichts erwartet als die Illusion an sich. Sie sieht in ihm den Ehebrecher; der, der eine andere Frau liebte, grundlos, wie sie findet; doch sie hat ihm verziehen. Vergessen aber ist es nicht, und ungesagt hängt zwischen ihnen, was sie nicht vergessen kann.

Er beichtete es, unfreiwillig; nicht der Lippenstift am Kragen, nicht das Haar am Jackett, nicht das Parfum hatte ihn verraten, sondern ein unbenutztes Kondom, welches er in einem Jackett vergessen und das seine Frau zur Reinigung gebracht hatte; ob es das Kondom gewesen war, oder eher das etwas peinlich berührte Gesicht der Dame der chemischen Reinigung, die das verpackte Kondom aus der Innentasche gefingert und es dezent über den Ladentisch geschoben hatte, mit etwas roten Bäckchen und ohne jedwede Bemerkung – er weiß es nicht, er will es sich auch lieber nicht vorstellen; jedenfalls klebte sie ihm das Kondom am Abend mit Tesafilm an den Bildschirm seines Computers, so daß er es zwangsläufig sehen musste. Sie sagte nichts. Sie ließ ihn das tun, was er wohl glaubte, am besten zu können, sie ließ ihn kommen. Er beichtete:

Eine Affäre, nur kurz; ein Abenteuer, nichts Wichtiges; nichts Bedeutsames; ein Moment; schwach; schwanzgesteuert; machtlos; eine Frau, die weiß, was sie will; die versteht, einen Mann herumzubekommen; was ist ein Mann in den Händen einer Frau?

Sie hörte zu und kochte innerlich, sezierte und tranchierte ihn Scheibe um Scheibe, während sie, rein äußerlich, ruhig und gelassen wirkte.

Anfang Vierzig. Eine tolle Frau – sagen andere. Er auch. Manchmal. Die Affäre war neunundzwanzig. Ein Feuerofen. Sie hatte sie gesehen; denn sie hatte es verlangt; er musste mit ihr zu der Affäre fahren. Er musste die Affäre vor ihr beenden und sich zum Kasper vor beiden Frauen machen. Sie triumphierte still, aber nicht genügend. Ein Tropfen auf den heißen Stein. Innerlich. Er verzieh es; doch er vergaß es nicht. Vergisst es nicht. Denkt daran. Jetzt.

***

Es ist früher Abend, da tritt ein langgedienter Ehemann in die Küche, zieht die Schublade auf, in der sich die Töpfe und Pfannen stapeln, nimmt sich den größten Topf, der nur benötigt wird, wenn man für die ganze Familie Knödel zu kochen hat, heraus, legt den Deckel beiseite, setzt sich den Topf auf den massigen Schädel, gerade, dass er passt.

Seine Frau, mit dem Ausräumen der Spülmaschine beschäftigt, bekommt große Augen.

"Was tust Du" fragt sie ihn heiser, legt sich dabei, halb erschreckt, halb belustigt, die flache linke Hand auf die Brust und lehnt sich zurück. Er blickt ernst drein, legt den Finger auf seinen Mund und schiebt sie sanft zur Seite, um an den Schrank mit den Tellern zu kommen. Er schnappt sich den ganzen Stapel Teller, soviel er eben mit seinen riesigen Händen tragen kann, nickt seiner Frau bestimmt zu, als müsse sie Bescheid wissen und verlässt die Küche. Die Frau packt ein Glas, trocknet es ruppig ab. Horcht ihm nach dabei, hört, wie die Terrassentür aufschnappt - sie quietscht leise, ganz charakteristisch, er hätte sie längst ölen sollen. Sie hört sein Schlurfen draußen verschwinden. Sie überlegt. Ein kleiner Clown ist er schon immer gewesen. Nach all den Jahren ihrer Ehe aber entdeckt sie dieses Verhalten an ihm neu. Einige Minuten vergehen, in denen sie versucht, das Erlebte abzuschütteln wie bettelnde Hunde. Pflichtbewusst trocknet sie dabei erst alles Geschirr aus der Spülmaschine ab, ehe sie es in die Schränke und Laden räumt, hängt das feuchte, grünrotkarierte Geschirrtuch über den Heizkörper, zupft es noch zurecht, wischt sich die runzligen Hände an der Schürze flach ab und geht nach draußen. Sie sieht ihn nicht gleich und ruft nach ihm, da kommt ihr aus der Nacht ein erbostes, grelles wie langgezogenes „Pssssssssssssssst“ entgegen. Sie schaltet das Licht ein, das von der Terrasse aus einen Teil des Gartens beleuchtet.

„Licht aus. Mach das Licht aus“ hört sie ihn rufen und entdeckt ihn im nächsten Augenblick. Sie sieht ihren Mann, wie er auf Knien durch den Garten kriecht und hektisch winkt, sie solle das Licht löschen. Im nächsten Moment bereits vergräbt er wieder mit einiger Anstrengung die Teller hauchdünn unter der Erde, als er den letzten vergraben hat, richtet er sich in knieender Stellung auf, lugt hinaus über den Zaun, robbt auf einem nur ihm offensichtlichen Weg zwischen den vergrabenen Tellern hindurch zu einem Punkt, an dem er beginnt, den bereitgelegten Spaten zu benützen.

Seine Frau ist völlig perplex und unfähig, auch nur ein Wort zu sprechen. In einer Mischung aus Angst, Belustigung und Kummer sieht sie zu, wie der Mann - ihr Mann - ein Loch gräbt, so tief, dass er darin stehen kann und in der Breite genügend Platz hat. Immer wieder herrscht er sie dazwischen an, das Licht zu löschen. Doch sie ist zu fasziniert von der Szenerie. Schließlich verbirgt er sich in dem Loch, einer tieferen Kuhle, soweit, dass nur der Kochtopf herausschaut. Plötzlich fällt sein Blick auf seine Frau.

"Was tust Du denn da" ruft er mit tiefem Bass, springt behände aus dem Loch, hinüber, hinauf zur Terrasse, packt den Arm seiner Frau, zerrt sie mit sich. Sie ist noch immer unfähig, zu handeln oder zu sprechen. Auf halbem Wege flucht er, wendet sich nochmals, jetzt wieder Richtung Terrasse um, seine Frau weiter hinter sich herzerrend. Sie versteht nichts, weißt nicht, wie ihr geschieht, zu grotesk ist die Vorstellung, deren Teil sie ist. Der Mann knallt mit der Faust auf den Lichtschalter, dass er laut knackend springt. Im Dunkel zerrt er seine Frau in Richtung Kuhle, stößt sie unsanft hinein springt hinterher. Sie will sich aufrichten, doch er drückt ihren Kopf nach unten, mit der anderen Hand seinen Kochtopf festhaltend.

"Du kannst doch nicht da draußen rumlaufen. Hier bist Du sicher. Ich werde Dich verteidigen. Wenn sie kommen, dann werden sie sich wundern. Ich habe" lacht er überlegen, „ich habe den Garten vermint.

Stolz wedelt er mit einer alten Steinschlosspistole, die viele Jahre zur Zierde im Flur hing und keinen einzigen Schuss abgeben kann.

"Die sollen nur kommen." Langsam begreift die Frau, was nicht begriffen werden kann, was viel zu absurd ist, um begreifbar zu sein.

"Ich muss mal telefonieren" schluchzt sie. Der Mann drückt sie noch immer nach unten und blickt irre zum Himmel. Weit oben sieht man die Warnleuchten eines Flugzeuges blinken.

„Da, die Aufklärer. Dann sind die Bodentruppen nicht weit! Du kannst jetzt nicht raus! Es gibt nichts zu telefonieren, die Leitungen sind sicher gestört und wenn nicht, dann werden wir vermutlich abgehört." Die Frau überlegt fieberhaft.

"Ich könnte doch eine falsche Information geben - zum Beispiel, dass wir mit unseren dreihundert Soldaten gut vorbereitet sind!" Der Mann rückt seinen Topf zurecht.

„Nicht dumm. Nicht dumm. Ich werde Dich für eine Beförderung vorschlagen. Sehr gut! Sehr gut mitgedacht. Lass‘ mich sehen, ob die Luft rein ist. Scharfschützen lauern überall." Er lugt über den Rand des Loches hinweg. Nichts zu sehen. Die Siedlung lag ruhig in lauer Nacht. Aus der Nachbarschaft kam Grillgeruch.

„Die Luft ist rein. Beeil Dich. Ich rieche schon die Brandstifter."

Die Frau stürmt aus dem Graben, über die Terrasse in ihre Wohnung, verschließt hinter sich die Tür, stürmt zum Telefon und wählt die Nummer von Polizei und Notarzt. Nüchterner als sie sich selbst fühlt, schildert sie ihr Erlebnis. Die amtlichen Herren sind gewarnt.

Ohne Lärm und Blaulicht erscheinen zwei Polizisten, zwei Sanitäter und ein Arzt an der Front; sie werden von der Frau durch den Keller in den hinteren Teil des Gartens geschleust, schleichen von hinten durch den Garten, der wegen des Fliegeralarms in völligem Dunkel liegt. Die Frau lenkt ihren Mann von der Terrasse her ab, wo er sie doch nicht sehen will. Als er sie wieder zu sich in den Graben holen möchte, fällt ihn der Feind von Hinten und von der rechten Flanke her an. Rasch erfasst er, dass Widerstand zwecklos ist. Sie zwingen den Mann zur Kapitulation. Man führt ihn in Handschellen ab, er beruft sich auf die Genfer Konvention, man gesteht ihm alles zu, behandelt ihn gut, einer der feindlichen Offiziere, der sich seltsamerweise wie ein Polizeiobermeister kleidet, gibt ihm sogar einen Kaugummi. Der Mann verspricht, das bei seiner Befreiung lobend zu erwähnen.

Dem Kommandanten des Gefangenenlagers, in das man ihn bringt, schildert er stolz, dass er nur durch Verrat besiegt wurde; hätte er gewusst, dass seine Frau Kollaboration betreibt, dann hätte er das Problem frühzeitig zu lösen gewusst. Aber vor Spionage sei man eben nie sicher.

Der weißgekleidete Kommandant ruft seinen persönlichen Oberfeldarzt, der Mann fasst dies als Hommage an seinen Kampfgeist auf. Der Leibarzt des Kommandanten untersucht den Gefangenen. Man stellt eine kleine, reichlich verschmutzte Schürfwunde am Knie fest und schildert ihm einfühlsam, wie man mit dem ehrenwerten besiegten Feind eben spricht, dass er eine Spritze braucht, weil ihm sonst der Wundbrand droht und die Gefahr bestünde, dass man ihm das Bein abnehmen müsste, sicherlich Nonsens in Anbetracht der Wunde. Sicher hätte er nichts gegen die Spritze. Natürlich nicht. Er bekommt die Spritze, die ihn so herrlich beruhigt, worauf sich sein Kampfgeist für die folgenden zwanzig Minuten gegen seine eigenen Augenlider richtet, ehe er zur Seite fällt und tief einschläft, in die tiefsten Tiefen hinein sediert. Man lagert ihn hoch auf das Bett, schnallt ihm Arme und Beine fest und fährt ihn in die geschlossene Abteilung.

Der Arzt, der sich der Frau wenig später scherzhaft als Kommandant vorstellt, erklärt ihr, dass ihr Gatte eine Psychose durchlebt. Das ist heutzutage gar nicht selten, und ebenso selten ein Problem, das man nicht lösen könne. Denn schließlich sei er, der Arzt, auch ein bisschen "fronterfahren". Er lächelt dabei. Die Psychosen nehmen zu, weil der Druck auf die Menschen ins Unerträgliche wächst, antwortet er auf die Frage, woher so etwas kommt. Eine Folge der Zeit, des Immer mehr, Immer schneller. Sie solle sich keine Sorgen machen. Er verstünde seinen Job. Wäre so etwas wie ein „Veteran“.

Die Frau kann darüber nicht lachen.

***

Immer wenn er hochblickt von seinem Kaninchen, das auf dem Teller unaufhaltsam bissenweise schrumpft, sieht er durch sie hindurch; es fällt ihm schwer. Aber er hält es durch. Sie sieht gut aus. Für ihr Alter. Topfigur. Große Brüste. Schwarzer Spitzen-BH, der den Busen, den er beinahe an seinen Händen spüren kann, straff hoch hält und ihr zu einem bemerkenswerten Dekolleté verhilft. Die Lippen mit kussechtem roten Lippenstift geschminkt; dahinter glänzendweiße Zahnreihen; das Gesicht schmal, die Augen leuchtend blau, mit vielen kleinen Krähenfüßen herum, das macht sie unendlich attraktiv. Er liebt das alles. Umwallt der Kopf von einer gepflegten, braunen Mähne. Sie wirkt nicht wie Anfang vierzig. Keinesfalls. Sie verweigert sich ihm seitdem. Sie sei noch nicht so weit, sagt sie. Er beißt sich auf die Lippen; daran ist nicht zu rütteln.

***

Der auffallend graugesichtige Mann betritt seinen Keller und knipst das Licht an. Im Schein der flackernden Neonröhre zeigt sich eine Spannplatte, darauf: eine Stadt. Es ist eine hübsche, kleine Stadt, mit Rathaus, Bahnhof, einem historischen Stadtkern mit alten Handwerker- und Bürgerhäusern, einer Burg, einer Stadtmauer, Wehrtürmen, Häusern, Gärten und allem, was dazugehört. Autos und Straßenbahnen. U-Bahnstationen. Alles da. Mit zwei Handgriffen schaltet er zwei Spots ein, die dezentes grünes und rotes Licht auf die Stadt werfen, mit einem weiteren Schalter beleuchtet er die Straßenlaternen. Ampeln blinken. Schaufenster leuchten. Leuchtschriftwerbung an Geschäften. Seine Augen bekommen einen zarten Glanz. Oben hört er das schleifende Geräusch, das von den Schritten seiner Frau herrührt, die durch die Wohnung hinkt, das Geräusch, das eine Vorstellung in ihm aufkeimen lässt, die schlimmer ist als die, dass dieser Stadt etwas geschehen könnte. Irgendwann, vor vielen Jahren, begann er mit einem Haus, einem ersten Haus, aus Langeweile, nach einem Streit mit ihr. Er begann, Zündhölzern die Köpfe abzuknipsen, sie mit Holzleim in eine Konstruktion zu bringen und faszinierte sich selbst als nächstes mit dem Bau einer kleinen Brücke. Der Brücke folgte ein Fluss aus blauen Kunststeinen, ein Ufer, eine Promenade, eine Straße, ein Haus, viele Häuser, ein Viertel, und so wuchs die Stadt heran. Er begann den Raum für seine Zwecke umzufunktionieren, stieg irgendwann auf Bastelstreichhölzer um, die er zu tausenden kaufte. Auf einer Fläche von drei mal vier Metern, schön auf einer Platte in Tischhöhe angebracht, steht jetzt sein Lebenswerk. Er könnte damit Eindruck schinden, würde er diese Stadt jemandem zeigen. Aber niemand darf diesen Keller betreten, den einzigen Schlüssel trägt er am Hals, an einem dünnen Lederbändchen, wo er ihn manchmal am Brustbein spürt. Er kennt niemanden, dem er diese Stadt anvertrauen würde. Am allerwenigsten seiner Frau.

Hier verbringt er jede freie Minute; selbst die Mahlzeiten nimmt er hier ein. Seine Frau stellt ihm das Essen auf die oberste Kellertreppenstufe, klopft laut an die Kellertür, was ihm das Zeichen ist, dass er es holen kann. Manchmal legt sie einen Zettel dazu, wenn er noch etwas erledigen muss. Er setzt sich dann unten auf die dritte Stufe und isst, seinen Teller auf den Knien. Besser, als ihr Gesicht sehen zu müssen, denkt er sich.

Sein Leben ist in Ordnung, alles ist überschaubar, er hasst Überraschungen und komplizierte Dinge. Sobald er von der Arbeit nach Hause kommt, zieht er sich um und geht in den Keller. Hier ist er nicht Untergebener, sondern Herr. Das ist sein Reich: Eine ganze Stadt. Er ist ihr Herr, ihr Baumeister, Bürgermeister und Feuerwehrkommandant, er vereinigt alle wichtigen Ämter in sich, und wenn er will, dann kann er ihr sofort den Garaus machen, sie zerstören, niederbrennen, zerbomben oder was immer ihm beliebt. Die Zahl der verarbeiteten Hölzer geht in die Millionen Stück. Sorgsam geleimt, fein säuberlich bemalt. Tausende von Stunden seit einundzwanzig Jahren stecken darin. Millionen von dabei gedachten Gedanken, Wut über seine Kollegen, Vorgesetzten. Jedermann. Hier sinnt er nach, während er ein neues Viertel erschöpft, und fühlt sich Gott nah.

Hier heckte er auch das kleine Gerücht aus, nachdem es sein Nachbar übertrieben hatte mit seiner gefälligen, weltmännischen Art, dieser überheblichen Weise, sich zu geben und seinen Nachbarn auf den niedrigen Platz zu verweisen. Dieser Protz. Dieser Blaffel. Der braucht sich mit seinem Spielwarengeschäft gar nichts einbilden, sagte er sich oftmals, wenn der Nachbar seine Gartenfeste gab und seinen Nachbarn nicht einlud; Einladung hin oder her, unser Mann hätte eh abgesagt, aber die Chance, dies mit Genuss und Genugtuung zu tun, wurde ihm nicht gegeben, und das ärgert ihn noch heute, wenn er es recht bedenkt. Ihn ärgerte, wenn der Nachbar seinen dicken Mercedes schräg in der Garageneinfahrt parkte und damit auch die Garage seines Nachbarn blockierte. Der Mann konnte sich darauf verlassen: Wenn er sich auf ein kompliziertes Bauwerk konzentrieren musste, begann sein Nachbar, mit dem Rasenmäher zu hantieren. Wenn dessen Frau ihren Gatten rief, mit ihrer hellen Oktave, und dabei das Wort Manfred zog, als würde es niemals enden wollen und sich dabei nicht schlimmer anhörte wie die Feuerwehrsirene, die jeden Samstag um elf Uhr ihren Probelauf erhielt, dann brachte ihn das in helle Wut. Der Volksmund, der vom Krug spricht, der solange zum Brunnen geht, bis er bricht, behielt recht. Der Krug brach mit einigen Bastelhölzern, die dem Mann unter den lärmgebeutelten Fingern zerbrachen.

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