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Read the book: «Der Müller von Angibault», page 16

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»Sagen Sie doch, gnädige Frau Marcelle«, stotterte der Müller, etwas verlegen, wie er die Sache einleiten sollte, »Sie erinnern sich wohl des Briefes, welchen Sie mir anvertrauten?«

»Freilich«, erwiderte Frau von Blanchemont, deren ruhiges und etwas blasses Antlitz sich plötzlich entflammte, »haben Sie mir denn heute früh nicht gesagt, sie hätten ihn abgesendet?«

»Bitte um Verzeihung, die Sache ist, dass ich ihn nicht auf die Post gegeben.«

»Sie haben ihn vergessen?«

»O nein, gewiss nicht!«

»Verloren vielleicht?«

»Noch weniger. Ich wusste etwas Besseres zu tun, als ihn in den Briefkasten zu werfen, ich übergab ihn an seine Adresse.«

»Was wollen Sie sagen? Er war ja nach Paris adressiert.«

»Ja, aber da die Person, an welche er gerichtet war, mit mir zusammentraf, so glaubte ich besser zu tun, ihn sogleich zu übergeben.«

»Mein Gott, Sie machen mich zittern, Louis!« sagte Marcelle, wieder erblassend, »Sie haben einen Irrtum begangen«.

»Ich bin nicht so dumm! Ich kenne Herrn Heinrich Lemor recht gut.«

»Sie kennen ihn? Ist er denn in der Gegend?« fragte Marcelle mit einer Aufregung, welche sie nicht zu verheimlichen suchte.

Mit wenigen Worten erzählte ihr jetzt der Müller, wie er in Lemor den Reisenden, welcher vor kurzem in seiner Mühle gewesen, und den Adressaten des ihm anvertrauten Briefes erkannt hätte.

»Und wohin ging er denn? Und was tat er in ***?« fragte Marcelle beklommen.

»Er befand sich auf der Durchreise nach Afrika. Das ist ja die Straße nach Toulouse und er war auf die Post gegangen, während der Eilwagen zum Frühstück anhielt.«

»Und wo ist er jetzt?«

»Ich kann es Ihnen nicht bestimmt sagen; aber in *** ist er nicht mehr.«

»Er geht nach Afrika, sagen Sie? Und warum so weit weg?«

»Gerade, um weit weg zu gehen; so hat er mir wenigstens gesagt.«

»Die Antwort ist viel deutlicher, als Sie sich vorstellen«, sagte Marcelle, deren Aufregung zunahm, ohne dass sie daran dachte, dieselbe auch nur weniger auffallend erscheinen zu lassen. »Mein Freund, Sie sind nicht so unglücklich als Sie glauben! Es gibt noch viel gebeugtere Herzen als das Ihrige.«

»Das Ihre z. B. arme liebe Dame?«

»Ja, mein Freund, das meinige.«

»Ist das aber nicht ein wenig Ihre eigene Schuld? Warum haben Sie dem armen jungen Mann befohlen, ein Jahr lang ohne Nachricht von Ihnen zu bleiben?«

»Wie, er hat Sie also meinen Brief lesen lassen?«

»O nein, dazu ist er viel zu misstrauisch und vorsichtig, gehen Sie! Aber ich habe so viel gefragt, ihn so bedrängt, so viel erraten, dass er genötigt war einzugestehen, ich täuschte mich nicht. Sehen Sie, gnädige Frau Marcelle, ich bin, hol’ mich … sehr neugierig betreffs der Geheimnisse derer, welche ich lieb habe, denn solange man nicht weiß, was sie denken, weiß man auch nicht, wie man ihnen dienen kann. Habe ich Unrecht?«

»Nein, mein Freund. Es ist mir im Gegenteil ganz recht, dass Sie meine Geheimnisse kennen, wie ich die Ihrigen kenne. Aber, ach, wie gut auch Ihr Herz, wie gut auch Ihr Wille sei, Sie können in dieser Sache nichts für mich tun. Doch antworten Sie mir. Hat Ihnen der junge Mann keine Antwort für mich überantwortet, weder eine briefliche, noch eine mündliche?«

»Er hat Ihnen diesen Morgen eine Menge Narrheiten schreiben wollen, mit deren Übergabe ich mich nicht befassen wollte.«

»Sie haben mir damit einen schlechten Dienst geleistet. Wie soll ich jetzt seine Absichten kennen?«

»Er wusste mir nur zu sagen: Ich liebe, aber ich habe Mut!«

»Er sagte: Aber?«

»Er sagte vielleicht: Und!«

»Das ist ein großer Unterschied. Strengen Sie Ihr Gedächtnis an, großer Louis!«

»Er sagte sowohl das eine, wie das andere, denn er wiederholte es oft.«

»Diesen Morgen, sagen Sie? Sie haben also die Stadt erst diesen Morgen verlassen?«

»Ich wollte sagen: gestern Abend. Es war sehr spät, und für uns Landleute beginnt der Morgen mit Mitternacht.«

»Mein Gott, was soll ich dazu sagen? Warum keinen Brief? Sie haben also gesehen, dass er an mich schrieb?«

»Freilich, ich sah ihn vier angefangene Briefe zerreißen.«

»Aber was enthielten diese Briefe? Er war also unentschlossen?«

»Bald sagte er, er könne Sie niemals wiedersehen, bald wollte er Sie auf der Stelle sehen.«

»Und er widerstand dieser Versuchung? In der Tat, das heißt Mut haben!«

»O, hören Sie! Er ward stärker versucht, als der heilige Antonius; aber einesteils brachte ich ihn davon ab, andernteils fürchtete er, Ihnen ungehorsam zu sein.«

»Und was halten Sie von einem Liebenden, der nicht ungehorsam zu sein weiß?«

»Ich denke, er liebe zu sehr, und man brauche ihm dafür keinen Dank zu wissen.«

»Ich bin ungerecht, nicht wahr, lieber großer Louis? Ich bin zu sehr aufgeregt, ich weiß nicht, was ich rede. Aber warum, mein Freund, haben Sie ihn abgehalten, Ihnen zu folgen? Denn das wollte er doch?«

»O freilich. Er hat sogar einen Teil des Weges auf meinem Karren zurückgelegt. Aber, entschuldigen Sie, ich hatte zu große Furcht, Ihre Unzufriedenheit zu erregen.«

»Sie lieben und halten dennoch andere für so streng?«

»Ei, was würden Sie gesagt haben, wenn ich ihn ins schwarze Tal mitgebracht hätte? Wenn ich Ihnen etwa in diesem Augenblicke sagte, dass ich ihn dahingebracht, sich in meiner Mühle zu verstecken? Ei, Sie würden mich behandeln, wie ich es verdient hätte!«

»Louis!« sagte Marcelle, indem sie mit entschlossener und begeisterter Miene aufstand, »er ist hier! Gestehen Sie es.«

»Nein, gnädige Frau, das haben Sie gesagt.«

»Mein Freund«, sagte sie außer sich und ergriff seine Hand, »sagen Sie mir, wo er ist, und ich verzeihe Ihnen.«

»Und wenn er hier wäre«, versetzte der Müller, ein wenig erschrocken über ihre Willfährigkeit, aber entzückt von ihrer Offenheit, »würden Sie sich nicht vor dem Geklatsch fürchten?«

»Als er mich freiwillig verließ und ich geistig leidend war, damals konnte ich an die Welt denken, Gefahren vorhersehen und mir strenge, vielleicht übertriebene Pflichten auferlegen; aber nun er zu mir zurückkehrt, nun er hier ist, an was soll ich sonst denken, was fürchten?«

»Man muss dennoch befürchten, dass eine Unklugheit die Ausführung Ihrer Absichten erschwere«, entgegnete der große Louis, indem er eine Gebärde machte, um Marcelle auf das Fenster ob ihrem Kopfe hinzuweisen. Marcelle erhob den Blick und begegnete dem Lemors, welcher klopfenden Herzens gegen sie geneigt, im Begriffe schien, von der Höhe des Daches zu springen, um den Weg abzukürzen.

Allein der Müller hustete mit aller Macht und zeigte den beiden Liebenden Rose, welche mit der Müllerin und dem kleinen Eduard herankam. Dann sagte er mit lauter Stimme:

»Ja, gnädige Frau, eine Mühle, wie diese, trägt wenig ein, wenn ich aber nur einen so großen Mühlstein, wie ich im Kopfe habe, darin anbringen könnte, so würde mir die Mühle sicherlich… ja, achthundert gute Francs jährlich eintragen.«

23. Kapitel.
Cadoche

Der Blick der beiden Liebenden war glühend und rasch.

Das Gefühl der höchsten Beruhigung folgte auf diese Bewegung.

Sie liebten sich, sie waren sich gegenseitig gewiss. Sie hatten sich alles gesagt, alles erklärt, einander von allem überzeugt durch den elektrischen Blitz dieses Blickes. Lemor warf sich in die Tiefe des Heubodens zurück und Marcelle, ihrer selbst Meisterin, weil sie glücklich war, empfing Rose ohne Verwirrung und ohne Bedauern.

Sie ließ sich von dem Mädchen in das benachbarte köstliche Gehölz führen, und nach einem stündigen Spaziergang bestieg sie ihr Pferd und kehrte mit ihrer Begleiterin nach Blanchemont zurück, nachdem sie noch dem Müller ganz leise gesagt:

»Verbergen Sie ihn gut! Ich werde wiederkommen.«

»Nein, nein, nicht zu bald! Ich werde eine gefahrlose Zusammenkunft veranstalten, lassen Sie mich nur machen. Ich werde heut’ Abend Ihren Sohn zurückbringen und mir Ihnen darüber reden, wenn es möglich ist.«

Als Marcelle weg war, verließ Lemor seinen Schlupfwinkel, wo Freude und Aufregung mehr noch als der berauschende Duft des Heus ihn schwindlig zu machen begannen.

»Freund«, sagte er heiter zu dem Müller, »ich bin Ihr Mahlknecht und will Ihnen nicht zur Last fallen, ohne dass ich für Sie arbeite. Geben Sie mir also etwas zu tun, und Sie sollen sehen, dass die Arme des Parisers kräftig genug sind, obgleich sie nicht so aussehen.«

»Ja«, versetzte der Müller, »wenn das Herz zufrieden ist, so sind auch die Arme gelenkig. Ihre Angelegenheiten gehen besser als die meinigen, mein Junge, und wenn wir diesen Abend mitsammen plaudern, werden Sie wohl Ihrerseits mir Mut einsprechen müssen. Aber jetzt muss man, wie Sie gesagt, schaffen. Ich kann meine Zeit nicht mit Liebesgeschwätz verplempern, und Sie würden vor lauter Zufriedenheit verrückt werden, wenn Sie müßig blieben. Die Arbeit ist allen heilsam, sie unterhält die Freude und verscheucht den Kummer, was vielleicht sagen will, dass im Sinne des guten Gottes alle zur Arbeit bestimmt sind. Wohlauf, helfen Sie mir meine Schleuse aufziehen und die große Lise in Gang bringen. Das Singen derselben wird mir aufs Beste den Kopf zurechtsetzen, wenn er wackelig werden will.«

»O, mein Gott, das Kind wird mich erkennen!« sagte Lemor, als er den den Armen der Müllerin entronnenen Knaben auf Händen und Füßen die steile Treppe der Mühle heraufklettern sah.

»Es hat Sie bereits erblickt«, entgegnete der Müller. »Verbergen Sie sich nicht und tun Sie nicht dergleichen. Es ist nicht gewiss, ob er Sie in Ihrer Vermummung erkenne.«

Eduard blieb in der Tat ungewiss stehen. Seit einem Monat, seit Marcelle Montmorency plötzlich verlassen, um sich an das Sterbebett ihres Gatten zu verfügen, hatte ihr Sohn Lemor nicht wiedergesehen, und ein Monat ist in dem Gedächtnis eines so jungen Kindes ein Jahrhundert. Allerdings machte Eduard durch die frühzeitige Entwicklung seiner geistigen Fähigkeiten hievon eine Ausnahme, allein der jetzt bartlose, im Gesicht mit Mehl besprengte, mit einer Bauernbluse bekleidete Lemor war schwer wiederzuerkennen.

Eduard blieb eine Minute lang wie versteinert vor ihm stehen, allein den ernsten und gleichgültigen Blick des Freundes gewahrend, der ihm sonst immer mit offenen Armen entgegengeeilt war, schlug er die Augen nieder mit einer Art von Verlegenheit und sogar von Furcht, ein Gefühl, welches sich beinahe immer dem Erstaunen der Kinder beimischt. Dann näherte er sich dem Müller und sagte mit der ernsthaften und nachdenklichen Miene, welche er oft annahm:

»Wer ist denn der Mann da?«

»Der? Das ist mein Mahlknecht Anton.«

»Hast du denn zwei Müllerburschen?«

»O, ich habe sie dutzendweise. Der da ist Radschaufel (Alochon) Nr. 2.«

»Und Hans ist Radschaufel Nr. 3?«

»Wie Sie sagen, mein General.«

»Ist er böse, dein Anton?«

»Nein, nein, aber ein wenig einfältig, ein wenig taub und gibt sich nicht gerne mit Kindern ab.«

»In diesem Falle will ich zu Hans gehen«, meinte Eduard und ging ohne Arg weg.

Mit vier Jahren kennt man noch keine Täuschung und das Wort derer, welche man liebt, vermag mehr über den Geist, als das Zeugnis der Sinne.

Es wurde Getreide in die Mühle gebracht, welches der Müller noch diesen Abend in Mehl verwandeln sollte. Es gehörte Herrn Bricolin und war in zwei Säcke gepackt, von welchen jeder mit ungeheuren Anfangsbuchstaben bezeichnet war.

»Sehen Sie«, sagte der große Louis, etwas bitter lachend. »Bricolin von Blanchemont, wie wenn er sagen wollte: Bricolin wohnhaft zu Blanchemont. Sobald er aber das Gut gekauft hat, setzt er sicherlich ein drittes B zwischen die beiden andern. Dann wird es heißen: Bricolin, Baron von Blanchemont.«

»Wie«, fragte Lemor, der an anderes gedacht hatte, »ist dies Getreide von Blanchemont?«

»Ja«, entgegnete der Müller, welcher ihn erriet, bevor er noch ausgesprochen, »dies ist das Getreide, aus welchem das Mehl werden wird, aus welchem man das Brot backen wird, welches die gnädige Frau Marcelle und Jungfer Rose essen werden. Man sagt, Rose sei viel zu reich, um einen Mann wie mich zu heiraten, und doch schaffe ich ihr das Brot, welches sie isst.«

»Also arbeiten wir für sie!«

»Ja, ja, mein Junge, Achtung! Man darf es nicht schlecht machen! Teufel! Wenn ich für den König arbeitete, ich könnte es nicht so von Herzen tun.«

Das ganze werkeltägige Mahlgeschäft nahm in dem Kopfe des jungen Parisers eine romantische und gleichsam poetische Farbe an und er ging dem Müller mit so viel Eifer und Aufmerksamkeit an die Hand, dass er nach Verfluss von zwei Stunden das Handwerk los hatte. Es war nicht schwer für ihn, in den einfachen und fast barbarischen Mechanismus des Mühlenwerks einzugehen, und er sah sogleich ein, welche Verbesserungen man mit einem unbedeutenden Aufwand an der ländlichen Maschine anbringen könnte. Bald hatte er auch das Handwerksrotwelsch der technischen Benennung jedes Maschinenstückes und jeder Verrichtung begriffen und Hans, der Mahlknecht, wurde, als er ihn so tätig und von dem Meister so gütig behandelt sah, ein wenig zornig und eifersüchtig auf den neuen Kameraden. Allein als der große Louis ihm sagte, dass der Pariser nur für einige Zeit da sei und ihm keineswegs um seinen Platz bringen werde, beruhigte er sich und als ein guter Berrichon, der er war, entschloss er sich gerne, einen Teil seiner Arbeit für einige Tage an den fleißigen Gehilfen abzutreten. Er machte sich dies zu nutzen, um den kleinen Eduard, der anfing sich zu langweilen und über die lange Trennung von seiner Mutter besorgt zu werden, nach Blanchemont zurückzubringen.

Die Müllerin konnte das Kind nicht mehr zufriedenstellen, und als die kleine Fanchon kam, um dasselbe zu holen, so war Hans eben nicht böse darüber, seine junge Dienstgenossin bis zu dem Schloss zurückzugeleiten.

Als die Arbeit beendigt war, fühlte sich Lemor, die Stirne mit Schweiß bedeckt und das Gesicht erhitzt, viel gelenkiger von Körper und viel stärker von Willen, als es seit langer Zeit der Fall gewesen. Die langen Träumereien, welche seine Jugend zu verzehren gedroht hatten, machten jener Art von physischen und moralischem Wohlbefinden Platz, welches die Vorsehung stets der Arbeit folgen lässt, deren Zweck ein guter und deren Anstrengungen den Kräften des Menschen angemessen ist.

»Freund«, rief er aus, »Sie hatten Recht, wenn Sie sagten, die Arbeit sei schön und heilig! Gott verlangt und segnet sie. Es scheint mir so süß, für meine Geliebte zu arbeiten, und, o, um wie viel süßer würde sie mir noch werden, wenn sie zugleich dazu diente, eine Familie von Gleichen, von Brüdern, zu ernähren! Wenn jeder für alle und alle für jeden arbeiteten, wie wäre die Anstrengung leicht und das Leben schön!«

»Ja, mein Handwerk wäre in diesem Falle eines der edelsten«, sagte der Müller mit einem Lächeln lebhaften Verständnisses. »Das Getreide ist die edelste der Pflanzen, das Brot das Lauterste der Nahrungsmittel. Mein Geschäft verdiente also wohl einige Achtung, und an Festtagen könnte man der armen großen Lise einen Kranz von Eppich und Kornblumen aufsetzen, ihr, welche jetzt kein Mensch beachtet. Aber was wollen Sie? Heutzutage, wie Herr Bricolin sagt, bin ich weiter nichts, als ein von ihm gedungener Söldner, und er sagt sich betreffs meiner: ›Ein Mensch wie der sollte an meine Tochter denken? Ein Unglücklicher, welcher meinen Kernen gerbt, während ich das Getreide säe und die Äcker besitze!‹ .... Sehen Sie mir doch mal den schönen Unterschied! Meine Hände sind weit reinlicher als die seinigen, mit welchen er Mist aufladet; das ist alles.... Doch, mein Bursche, unser Werk ist getan, fertigen wir jetzt die Suppe ab. Ich wette, sie wird Ihnen besser schmecken als heute Morgen, und wäre sie zehnmal mehr gesalzen. Nachher will ich nach Blanchemont gehen, um diese zwei Säcke hinzutragen.«

»Ohne mich?«

»Gewiss. Sind Sie denn so darauf versessen, sich auf dem Pachthof sehen zu lassen?«

»Niemand kennt mich dort.«

»Das ist wahr. Aber was wollen Sie dort machen?«

»Nichts. Ich will Ihnen bloß die zwei Säcke hinbringen helfen.«

»Und wozu soll Ihnen das nützen?«

»Dass ich vielleicht jemand über den Hof gehen sehe.«

»Und wenn diese jemand nicht über den Hof geht?«

»So werde ich wenigstens das Haus sehen, welches sie bewohnt, oder vielleicht ihren Namen nennen hören.«

»Ich meine aber, wir könnten uns gegenseitig dieses Vergnügen machen, ohne so weit zu gehen.«

»Es ist ja nur ein paar Schritte weit hin.«

»Sie haben auf alles eine Antwort. Sie werden aber keine Unvorsichtigkeit begehen?«

»Glauben Sie denn, ich liebe nicht? Würden denn Sie an meiner Stelle eine begehen?«

»Vielleicht .... wenn man mich liebte! Lass’ sehen .... Sie werden sie nicht anschauen, wie vorhin von der Dachluke herab? Wissen Sie, dass ich glaubte, Sie würden meinen Heuboden mit Ihren Flammenblicken in Brand stecken?«

»Ich werde sie gar nicht ansehen.«

»Und auch nichts zu ihr sagen?«

»Welchen Vorwand könnte ich denn haben, um mit ihr sprechen zu wollen?«

»Sie wollen auch keinen Vorwand suchen?«

»Ich werde nicht einmal den Hof betreten, wenn Sie mir es verbieten, sondern nur von ferne die Mauern betrachten.«

»Das wäre das Gescheiteste. Ich erlaube Ihnen, an dem Tore die Luft einzuatmen, welche das Schloss durchzieht, mehr nicht.«

Bei Tagesneige machten sich die beiden Freunde auf den Weg und Sophie, welche mit den beiden Säcken bepackt war, marschierte gravitätisch vor ihnen her. Der große Louis, welchem es traurig ums Herz war, sprach wenig und drückte seine düstern Gedanken nur durch heftige Peitschenhiebe aus, welche er rechts und links den wilden Maulbeerbüschen und Jasmingesträuchen beibrachte, die weit stärker dufteten als die in unsern Gärten gepflegten.

Sie waren schon an der Hüttengruppe, welche den Namen Cartiaux trägt, vorüber, als Heinrich, der längs des Weggrabens hinging, plötzlich stille stand, erstaunt darüber, dass er einen Mann der Länge nach unter der Hecke ausgestreckt sah, das Haupt auf einen wohlgefüllten Quersack gelegt.

»O, o«, sagte der Müller, ohne Verwunderung auszudrücken, »Sie wären beinahe über meinen Vetter gestolpert.«

Die helle Stimme des großen Louis erweckte den Schläfer. Er erhob sich rasch, fasste den gewaltigen Stock, der ihm zur Seite gelegen, mit beiden Händen und stieß einen energischen Fluch aus.

»Erzürnt Euch nicht, Vetter«, sagte der Müller lachend. »Wir sind, mit Eurer Erlaubnis, Freunde, und obgleich, wie Ihr behauptet, die Wege Euch gehören, so werdet Ihr doch niemand verbieten, sich derselben zu bedienen, nicht wahr?«

»Ei freilich«, versetzte dieser Mensch von gigantischem Wuchse und zurückstoßendem Aussehen, indem er sich vollständig aufrichtete; »ich bin der gütigste Eigentümer, du weißt es, Kleiner. Aber mir aufs Gesicht treten wollen heißt meine Güte ein wenig missbrauchen. Wer ist er denn, dieser schlechte Christ, der einen ehrlichen Mann, welcher auf seinem Bette liegt, nicht wahrnimmt? Ich kenne ihn nicht, ich, der doch hier herum und auch weiterhin jedermann kennt.«

Und so sprechend, maß der Bettler mit verächtlichen Blicken Lemor, der ihn seinerseits mit Widerwillen betrachtete. Wie wir ihn schon einmal geschildert, war der Greis von derbem Knochenbau, mit schmutzigen Lumpen bedeckt, und sein struppiger, schwarz und weiß gesprenkelter Bart glich dem Stachelfell eines Igels. Sein hoher, in Fetzen gehender Hut war noch immer, wie von einer lächerlichen Trophäe, von einer weißen Bandschleife und einem völlig verblichenen Strauß von künstlichen Blumen überragt.

»Beruhigt Euch, Vetter«, sagte der Müller, »das ist ein guter Christ, geht!«

»Und an was soll ich ihn erkennen?« entgegnete Vetter Cadoche, seinen Hut abnehmend und denselben Heinrich hinhaltend.

»Nun«, fragte der Müller, »verstehen Sie es nicht? Mein Vetter will einen Sou haben.«

Heinrich warf seine Münze in den Hut des Vetters und dieser ergriff sogleich das Geldstück und drehte es mit einer Art von Wollust zwischen seinen langen Fingern, indem er mit einem gemeinen Lächeln sagte:

»Das ist ein großer Sou! Vielleicht so ein Zehn-Decimesstück17 aus der Revolution? Nein, Gott sei Dank, es ist ein Ludwig XV., es ist ein König, dessen Regierung ich erlebte! Das wird mir Glück bringen und dir auch, mein Neffe«, setzte er hinzu, Lemor seine große, hackenförmige Hand auf die Schulter legend. »Du kannst jetzt sagen, dass du zu meiner Familie gehörest und dass ich dich wiederkennen werde, und wärest du auch vom Kopf bis zu Füßen verkleidet.«

»Schon recht, schon recht, guten Abend, Vetter!« sagte der Louis, sein Almosen dem Heinrichs beifügend. »Sind wir jetzt Freunde?«

»Für immer!« erwiderte der Bettler mit feierlicher Stimme. »Du bist mir immer ein guter Verwandter gewesen, der beste von meiner ganzen Familie. Du bist’s auch, großer Louis, dem ich all das Meinige vermachen werde. Ich habe es schon lange gesagt und du sollst sehen, dass ich Wort halte.«

»Ei, Parbleu, ich rechne darauf«, sagte der Müller lustig. »Der Blumenstrauß wird doch auch dabei sein?«

»Der Hut wohl, aber der Strauß und das Band sollen meiner letzten Geliebten gehören.«

»Teufel! Und ich halte doch so viel auf den Strauß!«

»Ich glaube es gern«, versetzte der Bettler, welcher sich hinter den jungen Leuten in Marsch gesetzt und für sein hohes Alter noch flink genug auf den Beinen war. »Der Strauß ist auch das Kostbarste meiner Hinterlassenschaft. Weißt du, er wurde in der Kapelle der heiligen Solange geweiht.«

»Wie kann ein Greis, der so fromm ist wie Sie sich den Anschein geben, noch von seiner Geliebten sprechen?« fragte Heinrich, welchem die lächerliche Person des Bettlers einen tiefen Ekel einflößte.

»Schweig’ still, Neffe«, entgegnete Vetter Cadoche, ihn von der Seite anblickend; »du sprichst wie ein Dummkopf.«

»Entschuldigt ihn, er ist noch ein pures Kind«, sagte der Müller, welcher aus Gewohnheit gern seinen Spaß mit dem Vetter hatte. »Er hat noch keinen Bart am Kinn und will räsonieren! Aber wohin geht Ihr denn so spät, Vetter? Wollt Ihr daheim schlafen? Das ist wohl weit von hier.«

»O nein! Ich will nach Blanchemont auf das morgige Fest.«

»Ah, richtig, das ist ein guter Tag für Euch. Ihr werdet Euch wenigstens vierzig große Sous machen.«

»Wohl nicht, aber immerhin genug, um am Altar des Kirchenpatrons eine Messe lesen zu lassen.«

»Ihr habt also noch immer die Messen gern?«

»Messen, Branntwein und ein wenig Tabak, Neffe, das ist für Körper und Seele gedeihlich.«

»Ich sage nicht nein, allein der Branntwein erwärmt nicht genug, dass man in Eurem Alter in Gräben an dem Wege schlafen könnte, Vetter!«

»Man schläft, wo sich’s gerade trifft, Neffe. Man ist ermüdet, legt sich nieder und macht einen Schlaf auf einem Stein oder aus dem Quersack, wenn er nicht gar zu leer ist.«

»Ich meine, der Eurige sei diesen Abend ziemlich voll.«

»Ja; du solltest mich ihn auf deinen Gaul legen lassen, denn er drückt mich ein wenig.«

»Nein, Sophie ist schwer genug beladen. Aber gebt ihn her, ich will ihn Euch bis Blanchemont tragen.«

»Das ist recht. Du bist jung und musst deinem Vetter gefällig sein. Da nimm ihn. Deine Bluse ist doch sauber?« setzte er mit ekeliger Miene hinzu.

»O, das ist nur Mehl«, entgegnete der Müller, den Sack des Bettlers schulternd, »und wird keinen Krieg mit Eurem Brot anfangen. Tausend Donnerwetter! Da drinnen müssen viele alte Krusten stecken.«

»Krusten? Ich nehme keine an. Wenn sich jemand untersteht, mir eine anzubieten, werfe ich sie ihm an die Nase, wie ich’s ‘mal der Frau Bricolin gemacht.«

»Seit damals also hat sie so große Furcht vor Euch?«

»Ja, sie meinte, ich wäre wohl imstande, Feuer in ihre Scheunen zu legen«, entgegnete der Bettler mit finsterer Miene. Dann setzte er mit heuchlerischem Tone hinzu: »Arme, liebe Muttergottes, als ob ich boshaft wäre! Wem habe ich je Übels getan?«

»Niemand, soviel ich weiß«, antwortete der Müller. »Wenn Ihr aber je etwas Böses getan, so wüsstet Ihr gewiss nicht, wo Ihr waret.«

»Nie, nie habe ich jemand ein Leid zugefügt«, wiederholte der Vetter Cadoche, die Hand gen Himmel erhebend, »da ich ja auch niemals irgendeine Strafe empfangen. Habe ich je auch nur einen Tag im Gefängnis zugebracht? Ich habe immerdar dem guten Gott gedient und der gute Gott hat mich immerdar beschützt seit den vierzig Jahren, wo ich meinen ärmlichen Lebensunterhalt suche.«

»Wie alt seid Ihr jetzt wohl, Vetter?«

»Ich weiß es nicht, mein Kind, denn mein Taufschein ging im Laufe der Zeit verloren, wie der so vieler anderer; allein ich muss über achtzig Jahre alt sein und bin ungefähr zehn Jahre älter als der alte Bricolin, obwohl dieser viel älter scheint als ich.«

»Das ist wahr, Ihr habt Euch hübsch konserviert, und er… aber es ist auch wahr, dass ihn Unglücksfälle trafen, wie sie nicht jedermann zustoßen.«

»Ja«, sagte der Bettler mit einem tiefen Seufzer der Zerknirschung, »er hatte Unglück!«

»Das ist eine Geschichte aus Eurer Zeit, nicht? Ihr seid doch aus dieser Gegend?«

»Ja, ich bin von Ruffec gebürtig, nahe bei Beaufort, wo sich das Unglück zutrug.«

»Und waret Ihr damals im Lande?«

»O, ich glaube es wohl, gute heilige Jungfrau! Ich kann nicht daran denken, ohne zu zittern! Wie fürchtete man sich damals!«

»Wie, Ihr könnt irgendwie Furcht haben, da Ihr doch immerfort auf der Landstraße liegt?«

»O, jetzt, mein Sohn, was sollte ich jetzt fürchten da ich armer Kerl nichts besitze, als die Lumpen, welche meine Blöße decken? Aber damals besaß ich einiges und die Räuber haben mich d’rum gebracht.«

»Wie! Kehrten die Mordbrenner auch bei Euch ein?«

»O, nicht doch! Ich hatte nicht so viel, dass es sie in Versuchung führen konnte. Aber ich besaß ein kleines Haus, welches ich an Tagelöhner vermietete. Als sich nun die Furcht vor den Räubern im Lande verbreitete, wollte es niemand mehr bewohnen. Ich konnte es nicht verkaufen und hatte kein Geld zu den nötigen Ausbesserungen. So fiel es mir über dem Kopf in Trümmer. Ich musste Schulden machen, welche ich nicht bezahlen konnte, und da wurde mir dann mein Haus und ein hübsches Stück Hanffeld, welches dazu gehörte, gerichtlich verkauft. Ich sah mich genötigt, den Bettelsack zu nehmen, und seit dieser Zeit bin ich immer auf der Wanderschaft, wie die Kinder des guten Gottes.«

»Aber Ihr verlasst den Bezirk nicht mehr?«

»Gewiss nicht, ich bin hier bekannt, habe hier Beschützer und meine ganze Familie.«

»Ich glaubte, Ihr wäret ganz allein?«

»Und alle meine Neffen, wie?«

»Das ist wahr, ich vergaß es, da bin z. B. ich und mein Kamerad und alle die, welche Euch nie Euren Sou verweigern, damit Ihr Tabak kaufen könnt. Aber sagt mir, Vetter, wer waren denn die Mordbrenner, von welchen wir sprachen?«

»Frage den guten Gott, armes Kind! Der allein kann es wissen.«

»Man sagt, dass reiche Leute und solche, die für die angesehensten galten, darunter gewesen.«

»Man sagt sogar, dass einige davon noch leben und dick und fett seien, dass sie eine Rolle im Land spielen und einem Armen keinen Liard geben. Ah, wenn es Leute gewesen wären wie ich, man hätte sie alle aufgehangen.«

»Da habt Ihr Recht, Vater Cadoche.«

»Ich hatte noch von Glück zu sagen, dass ich nicht angeklagt wurde, denn man hatte damals alle Welt im Verdacht und die Gerechtigkeit machte sich bloß mit den Armen zu schaffen. Man sperrte Leute ein, die so rein waren wie der Schnee, und streckte man die Hand nach den wirklich Schuldigen aus, so kam rasch ein Befehl von oben, sie nicht zu belästigen.«

»Und warum das?«

»Ohne Zweifel, weil sie reich waren. Hast du denn nicht immer gesehen, mein Neffe, dass man bei den Reichen stets Gnade für Recht ergehen lässt?«

»Da habt Ihr wieder Recht. Doch, Vetter, da sind wir bei Blanchemont. Wohin soll ich Euren Brotsack bringen?«

»Gib ihn her, mein Neffe. Ich will mir in dem Stall des Herrn Pfarrers, der ein heiliger Mann ist und mich nie abweist, ein Nachtlager suchen. Er ist wie du, großer Louis, der du mir nie ein böses Gesicht gemacht hast. Du wirst aber auch dafür belohnt werden. Du sollst mein Erbe sein, ich hab’ es dir ja immer versprochen. Den Blumenstrauß ausgenommen, welchen ich der kleinen Borgnotte geben will, sollst du alles haben, mein Haus, meine Kleider, meinen Bettelsack und mein Schwein.«

»Gut, gut«, entgegnete der Müller, »ich sehe wohl, dass ich am Ende noch sehr reich werde und dass mich alle Mädchen heiraten wollen.«

»Ich bewundere Ihr Herz, großer Louis«, nahm Lemor das Wort, als der Bettler hinter den Hecken der Einfriedigungen verschwunden war, durch dick und dünn brechend, ohne nach Weg und Steg zu fragen. »Sie behandeln diesen Bettler, als wäre er wirklich Ihr Vetter.«

»Warum nicht, da es ihm Freude macht, den Verwandten von aller Welt zu spielen und jedermann seine Erbschaft zu versprechen? Eine saubere Erbschaft, meiner Treu! Seine Erdhütte, wo er mit seinem Schweine schläft, und seine Lumpen, die einem übel machen! Wenn ich damit vor Herrn Bricolin hintrete, um ihn mir geneigt zu machen, wird es wahrhaftig gehen!«

»Des Ekels ungeachtet, welchen er einflößt, haben Sie seinen Bettelsack sich aufgeladen, um ihn zu erleichtern. Louis, Sie haben ein wahrhaft evangelisches Gemüt.«

»Ein schönes Wunder! Sollte man einem armen Teufel, welcher noch im Alter von achtzig Jahren sein Brot betteln muss, eine so kleine Gefälligkeit verweigern? Er ist bei alledem ein wackerer Mann. Jedermann nimmt Anteil an ihm, weil er ehrlich ist, obgleich etwas zu scheinheilig und leichtfertig.«

»So kommt er mir vor.«

»Bah! Welche Tugenden könnten derartige Leute besitzen? Es ist schon viel, wenn sie keine Laster an sich haben und keine Verbrechen begehen. Spricht er bei alledem nicht recht verständig?«

»So verständig, dass ich mich darob verwundern musste. Allein warum hält er sich für den Vetter von jedermann? Ist das ein Zug von Narrheit?«

»O nein, das ist nur so ein Ansehen, das er sich gibt. Viele Leute seines Gewerbes affektieren irgendeine Narretei, um sich spaßhaft zu machen und dadurch die Aufmerksamkeit und das Wohlgefallen von solchen zu erregen, welche sonst weder aus Barmherzigkeit noch aus Klugheit ein Almosen geben würden. Es ist unglücklicherweise bei uns zu Lande der Brauch, dass der Arme vor der Tür des Reichen den Hanswurst macht.... Doch da sind wir an dem Pachthof von Blanchemont. Warten Sie, gehen Sie nicht hinein, folgen Sie mir. Sie können sich bemeistern, ich zweifle nicht daran; allein sie, da sie nicht vorbereitet ist, könnte einen Schrei ausstoßen, ein Wort sagen. Lassen Sie mich sie wenigstens vorbereiten.«

»Aber in dem Weiler ist noch alles auf, muss da die Anwesenheit eines Fremden nicht auffallen, wenn ich Sie hier erwarten wollte?«

17.Ein Decime ist der zehnte Teil eines Francs oder 2 Sous. A. d. Übers.
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06 December 2019
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