Unheimliche Erinnerungen

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Unheimliche Erinnerungen
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Unheimliche Erinnerungen

1. Auflage, erschienen 4-2021

Umschlaggestaltung: Romeon Verlag

Text: George Eiselt

Layout: Romeon Verlag

ISBN (E-Book): 978-3-96229-824-1

www.romeon-verlag.de

Copyright © Romeon Verlag, Jüchen

Das Werk ist einschließlich aller seiner Teile urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung und Vervielfältigung des Werkes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Alle Rechte, auch die des auszugsweisen Nachdrucks und der Übersetzung, sind vorbehalten. Ohne ausdrückliche schriftliche Genehmigung des Verlages darf das Werk, auch nicht Teile daraus, weder reproduziert, übertragen noch kopiert werden. Zuwiderhandlung verpflichtet zu Schadenersatz.

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Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar.

George Eiselt

Unheimliche Erinnerungen

Inhaltsverzeichnis

Einleitung

Das Wunder der Rückerinnerung

Eintauchen in die Vergangenheit

Einleitung

Ist Ihnen das auch schon einmal so ergangen, dass Sie mit einem Ort, wo sie Ihrer Meinung nach zuvor noch nie gewesen sind, Ereignisse verbinden, die nur darauf zurückzuführen sind, dass sie in irgendeiner Art und Weise persönliche Erinnerungen damit verbinden.

Ich meine damit nicht, dass man schon einmal etwas darüber gelesen oder vielleicht im Fernsehen gesehen hätte, nein, ich spreche hier von einer direkten und bewussten Anwesenheit an diesem Ort und damit unmittelbar verbundener Ereignisse.

Da mir genau dieses für mich unerklärliche Phänomen widerfahren ist und sich in diesem Zusammenhang sogar schreckliche Geschehnisse aus längst vergangenen Zeiten offenbarten, begann ich, nach der Ursache dieser bisher in meinem Unterbewusstsein und nun nach Außen gelangten Vorgänge zu forschen.

Die daraus resultierenden Erkenntnisse sowie die damit verbundenen Begebenheiten möchte ich im Folgenden schildern, wobei ich darauf hinweise, dass es sich lediglich um meine eigene Deutung handelt, die keinen Anspruch auf wissenschaftlich begründete Fakten erhebt.

Das Wunder der Rückerinnerung

Manch einem mag es seltsam vorkommen, aber alles begann mit dem Verzehr eines schönen Rinderbratens, den es an einem Wochenende bei einem polnischen Freund von mir, bei dem ich zu Besuch war, zu essen gab.

Das Fleisch stammte aus der eigenen Schlachtung meines Freundes, denn er betrieb genau in der Gegend von Schlesien einen Bauernhof, wo vor dem Krieg auch meine Großeltern wohnten und wo meine Mutter, die kurz nach meiner Geburt starb, auch beerdigt wurde. Da die Gräber auf dem Friedhof in diesem Ort viele Jahre nach dem zweiten Weltkrieg nicht mehr gepflegt wurden, da fast kein Deutscher mehr dort lebte, und somit immer mehr verwahrlosten, wurde die Fläche in Nutzland umgewandelt und es entstand eine große brachliegende Weidefläche.

Diese Fläche wiederum pachtete zufälligerweise mein Freund, um darauf seinen Tierbestand weiden zu lassen. Das Futter der Tiere bestand also zumindest teilweise aus Grünpflanzen, die auf dem ehemaligen Friedhofgelände wuchsen. Das Stück Rindfleisch, das nun aus seiner eigenen Schlachtung auf unserem Mittagstisch landete, stammte also ebenfalls von einem Tier, das auf dieser Weide graste. Und damit schließt sich der Kreis meiner Vermutungen, nämlich, dass sich mir nach dem Genuss dieses Rinderbratens, im Zusammenhang mit mir an und für sich unbekannten Ortschaften, weit zurückliegende Ereignisse eröffneten, obwohl ich tatsächlich noch nie in der betreffenden Gegend war.

Ich hatte sogar richtig bildliche Vorstellungen von Landstrichen sowie der damit verbundenen Natur vor Augen, als ob ich selbst in diesen längst vergangenen Zeiten dort gelebt hätte. Ich möchte an dieser Stelle noch einmal ausdrücklich betonen, dass meine Vorstellungen nicht aus irgendwelchen schriftlichen Schilderungen oder visuellen Beiträgen aus der Film- und Fernsehwelt genährt wurden, sondern sich tatsächlich wie von Zauberhand nach dem Genuss des besagten Rinderbratens auftaten.

Meiner Meinung nach kann die Ursache dieses Phänomens nur dadurch erklärt werden, weil das Erdreich dieser Weide, wo ehemals die auch schon längst zu Erde gewordenen Begrabenen gelegen hatten, mit Spuren der DNA der dort Beigesetzten durchsetzt war. Diese DNA-Spuren wiederum wurden mit Sicherheit auch von den darauf wachsenden Pflanzen aufgenommen. So gelangten sie schließlich durch die Nahrungsaufnahme der Kühe in das Fleisch derselben. Zufälligerweise hatte wahrscheinlich gerade diese Kuh, deren Fleisch bei uns auf den Mittagstisch gelangte, von dem Grünzeug, was über dem ehemaligen Grab meiner Mutter wuchs, gefressen und so gelangten Spurenelemente ihrer DNA in meinen Körper.

Für alle, die mit dem Begriff DNA nicht vertraut sind, kann vereinfacht erklärt werden, dass damit der chemische Aufbau der Erbinformationen, die im Zellkern jeder Zelle aller organischen Lebewesen, also Pflanzen, Tiere, Menschen usw. vorhanden sind, gemeint ist.

Meine Schlussfolgerung für das Zustandekommen dieser aus dem Unterbewusstsein zu Tage geförderten Ereignisse mag manchem Leser vielleicht seltsam erscheinen, aber für mich ist das die einzig mögliche Begründung für die Erinnerung an weit zurückliegende Ereignisse, die man selbst nie real erlebt haben kann.

Bei mir war es jedenfalls so, dass ich, als ich mich an den folgenden Tagen nach dem Genuss des besagten Rinderbratens immer zur Nachtruhe begab, in eine Traumwelt von Erlebnissen eintauchte, die mich so fesselte, dass ich alles an den darauffolgenden Tagen stichpunktartig aufschrieb.

Für mich waren diese im Traum vorbeiziehenden Ereignisse insofern interessant, da sie wahrscheinlich mehr als hundert Jahre zurücklagen, die Vorfahren meiner Eltern betrafen und abrupt mit dem Tod meiner Mutter endeten. Ich bekam auf diese Art und Weise einen Einblick in das Leben meiner unmittelbaren Vorfahren und den damit verbundenen, sogar teilweise schrecklichen Ereignissen, die mir seitens meiner Großeltern und Eltern nie in dieser Tiefe überliefert wurden.

Nun möchte ich den Leser nicht länger mit diesen Vorbemerkungen langweilen, sondern versuchen, die in meinem Traum zu Tage gelangten Ereignisse zu schildern.

Eintauchen in die Vergangenheit

In der ersten Nacht hatte ich die Erscheinung von einem Wandersmann, der mit einem am Wanderstock über der Schulter hängenden Bündel, worin sich sein gesamtes Hab und Gut befand, auf einem ausgefahrenen, morastigen Feldweg kräftig ausschritt.

Aus tiefliegenden schwarzen Wolken schüttete es sintflutartig und auch sein besonders breitkrempiger Hut konnte nicht verhindern, dass er bereits nach kurzer Zeit nichts Trockenes mehr am Leibe hatte. Nach meinem im vormals geschilderten Traum zu Tage getretenen weit zurückliegenden Ereignissen, konnte es sich bei ihm nur um meinen Großvater Karl Mewis handeln, der sich nach seiner bestandenen Gesellenprüfung, der sogenannten Freisprechung, gegen Ende des 19. Jahrhunderts als Zimmerer auf der Walz befand. Er hatte schon einige Gegenden der preußischen Provinz Schlesien durchwandert und dabei bei vielen Meistern seiner Zunft praktische Erfahrungen sammeln können.

Er war von großer und kräftiger Statur und sein energischer Gesichtsausdruck zeugte von einem sehr willensstarken Charakter. Insgesamt kann man sagen, dass er eine respekteinflößende Persönlichkeit darstellte, mit der man am besten keinen Streit anfing. Speziell auf das weibliche Geschlecht wirkte er sehr anziehend, was vor allem auch damit zu tun hatte, dass er gegenüber dem schwachen Geschlecht sehr einfühlsam sein konnte.

In den vielen Ortschaften, die er auf der Walz bisher durchstreifte, hatte er demzufolge, was das weibliche Geschlecht betraf, schon etliche Herzen gebrochen. Die große Liebe aber, nach der er sich im Innersten sehnte, um endlich sesshaft werden zu können, war ihm jedoch bisher noch nicht begegnet.

Nach fast zwei Jahren, wo er in mehr oder weniger kleineren Ortschaften bei den verschiedensten Objekten sein handwerkliches Können festigen konnte, befand er sich nunmehr auf dem Weg nach Liegnitz, einem kleinen Städtchen mit ca. 15.000 Einwohnern. Er hoffte, wie schon so oft, hier beständig Fuß fassen zu können, um seinen Wunsch von einem sesshaften Leben sowie der Gründung einer Familie Wirklichkeit werden zu lassen.

Als er, gezeichnet von den vormals geschilderten Strapazen, völlig durchnässt und verdreckt die Kleinstadt erreichte, kann sich jedermann vorstellen, dass er in seiner Zimmermannskluft von den eines solchen Anblickes nicht gewöhnten Provinzlern ziemlich abschätzig betrachtet wurde.

 

Da er selbst auch spürte, dass er wie ein heruntergekommener Landstreicher aussah, versuchte er, als erstes eine seinen finanziellen Möglichkeiten entsprechende Unterkunft zu finden, was, wie er sehr bald feststellen konnte, sich als ein äußerst schwieriges Unterfangen darstellte. Überall, wo er auch anklopfte, wurde ihm nach kurzer Musterung die Tür vor der Nase zugeschlagen.

Nach einigen Tagen ergebnisloser Suche war ihm aber endlich das Glück hold und er fand am Stadtrand eine völlig heruntergekommene Dachgeschosswohnung, die er sich aber mit einem sehr zwielichtigen weiteren Bewohner teilen musste. Sie war zwar fußläufig fast eine Stunde entfernt vom Zentrum der Stadt, aber das Wichtigste für ihn war das Vorhandensein einer Waschmöglichkeit, denn im Hinterhof befand sich ein Brunnen mit einem Eimer am Seilzug, mit dem er sich eine im Zimmer befindliche Waschschüssel mit halbwegs sauberem Wasser füllen konnte, so dass er endlich sich und natürlich auch seine Kleidung in einen halbwegs ansehnlichen Zustand versetzen konnte.

Solchermaßen rundumerneuert begab er sich in den nächsten Tagen auf die Suche nach einer geeigneten Arbeitsstelle. Dabei kam ihm der glückliche Umstand zu Gute, dass für den Wiederaufbau einer durch einen Brand völlig zerstörten Kirche dringend Zimmerleute gesucht wurden, die auch den Nachweis ihrer Fähigkeiten durch entsprechende Einträge im sogenannten Wanderbuch erbringen konnten. Hierin wurden von den bisherigen Meistern die Zeit der Anstellung sowie Zeugnis über die rechtschaffene Lebensweise desselben aufgeführt.

Nachdem er sich auf dieser Baustelle bis zum verantwortlichen Meister der Zimmerleute durchgefragt hatte, sprach er diesen in seiner gewohnten saloppen Art an: „He, könnt ihr noch einen tüchtigen Zimmermann gebrauchen, ihr würdet es wahrlich nicht bereuen, mich in eure Truppe aufzunehmen.“ Der Meister, nicht gerade sehr angetan von solch einem vorwitzigen Auftreten, musterte ihn von oben nach unten und erwiderte: „Hör mal Bürschchen, zuerst bin ich für dich nicht einfach „he“, sondern immer noch der Meister Melchior und was deine Fähigkeiten betrifft, so möchte ich mir erst mal dein Wanderbuch zu Gemüte ziehen, ehe ich eine Entscheidung für eine eventuelle Anstellung bei mir fälle. Ich hoffe doch, dass du deine Unbescholtenheit und so von dir selbst gepriesene Tüchtigkeit durch ein solches Buch bestätigen kannst.“

Nachdem Karl ihm das Buch aushändigte und sich der Meister von der Rechtschaffenheit des Gesellen überzeugt hatte, sprach er zu ihm: „Nun gut, ich will es mit dir versuchen, melde dich morgen in der Früh sechs Uhr zur Arbeitseinteilung bei mir.“

So fand er sich also am nächsten Morgen auf der Baustelle ein und wurde in seine Aufgaben eingewiesen. Hierbei wurde er nicht erst mit irgendwelchen Hilfstätigkeiten betraut, sondern musste seine Fähigkeiten sofort beim Aufbau des Glockenturmes in schwindelerregender Höhe unter Beweis stellen.

Hier stellte sich heraus, dass er hinsichtlich seiner fachlichen Fähigkeiten sowie der bestimmenden und akzeptierten Art im Umgang mit seinen Arbeitskameraden eine absolute Vorbildfunktion einnahm. Nachdem er einige Wochen auf der Baustelle hinter sich gebracht hatte, wurde dies auch vom Meister Melchior wohlwollend zur Kenntnis genommen. Er nahm ihn deshalb eines Tages beiseite und sprach zu ihm: „Höre, ich habe dich nun einige Zeit beobachtet und mich von deiner Arbeit sowie der Vorbildwirkung gegenüber den anderen überzeugt. Deshalb möchte ich dir den Posten des Vorarbeiters der Zimmerleute anbieten, natürlich auch mit der dementsprechenden Erhöhung des Lohnes.“ In dem Zusammenhang muss nachträglich erwähnt werden, dass sein bisheriger Lohn nicht gerade sehr üppig war; man kann sagen, es reichte gerade so für die Mietzahlung seiner bedürftigen Unterkunft sowie, um seine kargen Malzeiten bezahlen zu können.

Wie man sich vorstellen kann, bedurfte es seinerseits keiner großen Überlegung, das Angebot anzunehmen, denn damit war für ihn ein erster Grundstein für das lange von ihm erträumte sesshafte Leben gelegt.

Mit seinem Aufstieg zum Vorarbeiter hatte er sich aber gleichzeitig einen Arbeiter aus seinem Umfeld zum Feind gemacht, der schon wesentlich länger hier arbeitete und sich selbst Hoffnungen auf diese Stellung gemacht hatte. Kurt, so hieß derjenige, versuchte ab diesem Zeitpunkt laufend, seine Kollegen gegen ihn aufzuhetzen und die allgemeine Arbeitsmoral zu untergraben.

Aber Karl fand immer wieder Mittel und Wege, um den Zersetzungsbestrebungen seines Widersachers entgegen zu treten. Oftmals kam es deswegen sogar zu handgreiflichen Auseinandersetzungen mit ihm, aber auf Grund seiner eingangs schon erwähnten überaus kräftigen Statur war es ihm jedes Mal ein Leichtes, seinen Rivalen in die Schranken zu weisen. Dass dieser aber nun nicht einfach so kampflos das Feld räumte und im Stillen Rachepläne ausheckte, daran dachte Karl auf Grund seines im Prinzip gutmütigen Charakters nicht im mindesten. Aber einige Zeit später sollte er davon mehr, als ihm genehm war, zu spüren bekommen.

Aber wie gesagt, er nahm diese ewigen Zuwiderhandlungen nicht allzu ernst, da er annahm, dass sich Kurt nach und nach schon beruhigen würde.

Da sich mittlerweile der Beginn des Winters mit Schnee und frostigen Temperaturen ankündigte, mussten die Bauarbeiten am Glockenturm bis zum nächsten Frühjahr eingestellt werden. Zur Überbrückung der Wintermonate verlagerte sich der Arbeitsplatz der Zimmerleute nun in die umliegenden Waldgebiete, wo sie Bäume fällen mussten, die dann im Sägewerk vom Meister Melchior zu den benötigten Balken, Brettern und Kleinteilen verarbeitet wurden.

Gleich zu Beginn dieser Arbeiten sollte Karl zu spüren bekommen, dass die laufenden Quertreibereien seines Widersachers nicht auf die leichte Schulter zu nehmen waren.

Da dieser allmählich begriff, dass er auf normale Art und Weise nichts gegen Karl ausrichten konnte, wuchs in ihm der Entschluss, ihn auf ganz anderem Weg für immer aus seinem Umfeld zu entfernen. Bewerkstelligen wollte er dies mit einem total perfiden Plan, wobei er sogar den Tod seines Widersachers in Erwägung zog.

Nachdem sie schon einige Wochen im Wald mit den Baumfällarbeiten beschäftigt waren, ergab sich für ihn die Möglichkeit, seinen Plan Wirklichkeit werden zu lassen. Als Karl gerade mit der Axt einen mächtigen Baum bearbeitete und ihm dabei in einiger Entfernung den Rücken zuwandte, hatte Kurt im selben Moment einen Baum soweit bearbeitet, dass er nur noch ein paar Schläge benötigte, um ihn zum Fallen zu bringen.

Er hatte die Axtkerben aber so eingeschlagen, dass der Baum unweigerlich in die Richtung fallen würde, wo Karl stand. Was er damit bezweckte, kann man sich vorstellen. Zufälligerweise drehte sich Karl, aufgeschreckt durch die Geräusche des niederprasselnden Baumes, aber in dem Moment um und konnte sich mit einem beherzten Sprung noch aus der Fallrichtung des Baumes in Sicherheit bringen.

In seiner aufwallenden Wut über die fahrlässige Handlungsweise von Kurt, stürzte er sich auf ihn und beförderte ihn mit einem gewaltigen Schlag zu Boden. Dort unten, auf ihm knieend, bearbeitete er ihn noch mit ein paar Fausthieben und hätte ihn wahrscheinlich bis fast zur Unkenntlichkeit zugerichtet, wenn nicht die anderen Arbeiter beherzt dazwischen gegangen wären. Auf den Gedanken, dass der Vorfall keineswegs nur eine leichtsinnige Handlung von seinem ewigen Widersacher war, sondern mit voller Absicht erfolgte, kam er nicht im Entferntesten.

Mit Beginn des Frühlings konnten endlich die Arbeiten am Glockenturm fortgesetzt werden und nach einigen Wochen war es endlich soweit, dass der Abschluss der Zimmerarbeiten mit dem Richtfest seine Krönung finden konnte.

Bevor es soweit war, musste jedoch erst, wie es damals Brauch war, der Richtkranz auf die Spitze der Holzkonstruktion des Kirchturmes aufgesetzt werden.

Der mit Blumen und bunten Bändern geschmückte Kranz war in den Wochen zuvor von den weiblichen Angehörigen der am Bau beteiligten Arbeiter gefertigt und mit einem Leiterwagen zum Kirchplatz transportiert worden. Das Aufsetzen des Kranzes war immer ein herausragendes Ereignis zum Abschluss der Zimmererarbeiten.

Zu diesem Anlass wurde vom Bauherrn ein geselliges Beisammensein für alle am Bau beteiligten Arbeiter sowie deren Angehörigen im Gemeindesaal ausgerichtet, wo alle auf seine Kosten mit Getränken und Speisen jeglicher Art beköstigt wurden.

Vor Beginn dieses festlichen Ereignisses musste aber erst einmal der Richtkranz an der Spitze des Kirchturmes aufgesetzt werden. Dieses Unterfangen wurde in aller Regel vom Vorarbeiter der Zimmerleute ausgeführt und so war es auch dieses Mal.

In dieser Angelegenheit nunmehr sah sein ewiger Widersacher Kurt eine einzigartige Möglichkeit, diesen endgültig unschädlich zu machen. Zu diesem Zweck präparierte er zuvor in einem unbeobachteten Augenblick die obersten Dachslatten kurz vor der Turmspitze solchermaßen, dass sie bei geringster Belastung brechen mussten und die betreffende Person unweigerlich in die Tiefe stürzen würde. Es kam nun auch so, wie er es geplant hatte, denn als Karl, den ziemlich unhandlichen Richtkranz in der einen Hand, die solchermaßen präparierte Stelle erreichte, brachen die Dachlatten durch und er stürzte mit einem lauten Schrei in die Tiefe.

Durch diesen Schrei unsanft aus dem Schlaf gerissen, wachte ich schweißgebadet auf und konnte, wie man sich vorstellen kann, auch nicht wieder einschlafen. Den restlichen Tag lang war ich nicht imstande, während meiner Arbeit diesen Vorfall aus meinem Gedächtnis zu streichen. Selbst, nachdem ich mich dann endlich abends zu Bett begab, ließ mich das Ereignis nicht mehr los. Als mich dann endlich doch der Schlaf übermannte, tauchte ich aber wieder in diese merkwürdige Traumwelt ein, es ging sogar dort weiter, wo ich in der letzten Nacht abrupt aus dem Schlaf gerissen wurde.

Der von seinem Todfeind ausgelöste Absturz hatte letztendlich nicht den von ihm erhofften Erfolg. Karl gelang es nämlich, sich in letzter Sekunde vor Erreichen der untersten Sprossen des Glockenturmes an einem Balken festzuklammern und sich daran wieder hochzuziehen, so dass er wieder einen sicheren Stand hatte.

Es kann sich jeder vorstellen, dass während dieses Zwischenfalls die gesamte unten versammelte Festgesellschaft in eine gewisse Schreckstarre verfiel, die sich erst in dem Moment löste, als Karl sich aus der prekären Situation befreit hatte.

Nachdem der Richtkranz, der natürlich bei dem Sturz einiges abbekommen hatte, wieder in seine ursprüngliche Form versetzt wurde, stand dem Aufsetzen auf die Kirchturmspitze durch Karl nichts mehr im Weg.

Die vom Bauherrn arrangierte Feierlichkeit konnte nun endlich beginnen. Da ja die Speisen und Getränke unentgeltlich verkonsumiert werden konnten, wurde davon auch reger Gebrauch gemacht, so dass die vorhergegangenen Ereignisse bald in Vergessenheit gerieten. Das traf aber nicht auf Kurt zu, der nicht darüber hinwegkam, dass sein Plan, Karl unschädlich zu machen, völlig fehlgeschlagen war.

Er versuchte, seinen Unmut dermaßen im übermäßigen Genuss von Alkohol zu ertränken, dass er nach einiger Zeit in seinen Handlungen total unkontrolliert war. Als er nun, obwohl er sich kaum noch auf den Beinen halten konnte, eine junge, hübsche Frau zum Tanz aufforderte und diese, nachdem sie ablehnte, gewaltsam auf die Tanzfläche schleppen wollte, sah sich Karl, der das Geschehen beobachtet hatte, gezwungen, einzugreifen.

Es war für ihn wahrlich kein großer Kraftakt vonnöten, um den völlig Betrunkenen von der Dame zu trennen und diesen mit einem kräftigen Schwung nach draußen zu befördern.

So ganz selbstlos war sein Handeln aber auch nicht, denn er selbst hatte schon zu Beginn der Veranstaltung einige Blicke auf diese Dame geworfen. Was sie betraf, so war sie von seiner Erscheinung ebenfalls sehr eingenommen, was sich darin zeigte, dass sich ihre Blicke häufig trafen.

Nun war aber diese junge Frau, die er maximal auf achtzehn Jahre einschätzte, nicht ein x-beliebiges junges Fräulein, sondern die Tochter eines sehr wohlhabenden, angesehenen Unternehmers der Stadt, der mit einer beträchtlichen finanziellen Spende für den Wiederaufbau der Kirche gesorgt hatte. Man sah auch an der Kleidung und der gesamten Erscheinung der jungen Dame, dass sie nicht so recht in das Bild der übrigen Gesellschaft passte und sie sich demzufolge nicht gerade wohl in ihrer Haut fühlte.

 

Karl, der mitbekam, dass ihr der übermütige Trubel der teilweise schon sehr vom Alkohol angeheiterten Menge nicht allzu geheuer war, fasste sich, als die Musik wieder einsetzte, jedoch ein Herz, ging zu ihr und bat sie um den nächsten Tanz. Er bekam natürlich keine abschlägige Antwort und führte sie auf die Tanzfläche.

Dort angekommen, sprach sie zu ihm: „Ich weiß zwar nicht, weshalb Sie für mich Ihre Gesundheit riskiert haben, aber ich möchte mich zutiefst bei Ihnen bedanken, dass Sie mich von diesem Grobian befreit haben. Ich wage nicht, daran zu denken, was ohne Ihr beherztes Eingreifen hätte noch alles passieren können. Mein Vater, der dies alles auch mit großer Sorge hat mit ansehen müssen, äußerte übrigens den Wunsch, sich bei Ihnen persönlich bedanken zu wollen.

Aber in dem Moment, als er sich zu Ihnen begeben wollte, forderten Sie mich zum Tanz auf. Ich würde mich deshalb freuen, wenn ich Sie anschließend nach diesem Tanz meinem Vater vorstellen dürfte. Sind Sie damit einverstanden?“ Obwohl es ihm irgendwie peinlich war, dass wegen dieser, seiner Meinung nach, nichtigen Angelegenheit so viel Aufhebens gemacht wurde, sagte er zu.

Als die Tanzkapelle aufhörte zu spielen und eine Pause einlegte, führte sie ihn, wie vereinbart zu ihrem Vater. Dieser stellte sich ihm zunächst vor und bedankte sich für dessen beherztes Eingreifen. Karl erfuhr nun, dass es sich bei ihm um einen gewissen Herrn Kowalski handelte, der eines der größten Bauunternehmen in Liegnitz mit weit über 400 Beschäftigten sein Eigen nannte.

Im Verlauf des Gespräches interessierte sich der Bauherr auch für den Lebenslauf von Karl selbst. Er musste ihm seinen beruflichen Werdegang schildern, Schulbildung, was er verdiente, wo er wohnte und vieles andere mehr.

Auf die eine oder andere Art musste Karl hierbei einen sehr positiven Eindruck auf den Unternehmer ausgeübt haben, denn dieser bot ihm an, sich einmal in seinem Büro bei ihm zu melden, um mit ihm über eine eventuelle Anstellung zu sprechen. Zu diesem Anlass sollte er auch, wie schon vormals beim Meister Melchior, die Nachweise seiner schulischen und beruflichen Laufbahn vorlegen.

In den folgenden Tagen bescherte ihm das Gespräch mit dem Vater der hübschen, jungen Frau manche schlaflose Nacht und es dauerte einige Tage, bis er alles richtig verarbeitet hatte. Dann aber fasste er den Entschluss, das Angebot des Herrn Kowalski anzunehmen, und vereinbarte mit seinem Büro einen Termin für die von ihm angebotene Vorsprache. Er dachte, dass er sich dessen Angebot ja mal erläutern lassen könnte, denn vielleicht könnte er sich arbeits- und verdienstmäßig verbessern, andererseits würde sich ihm solch eine Gelegenheit vielleicht so schnell nicht wieder bieten. Außerdem hatte er dabei noch den Nebengedanken, bei dieser Gelegenheit vielleicht die junge Dame noch einmal zu Gesicht zu bekommen, denn die Begegnung mit ihr anlässlich des Richtfestes ging ihm nicht mehr aus dem Kopf.

Am betreffenden Tag der Vorsprache, es war eine Zeit nach der Beendigung seines Arbeitstages vereinbart worden, ließ er seinem Körper eine besonders gründliche Reinigungsaktion angedeihen, so dass er fast wie neugeboren erstrahlte. Außerdem zog er sich aus seinem nicht gerade umfangreichen Fundus die Sonntagsausgehgarderobe an und solchermaßen regelrecht frisch aufpoliert machte er sich auf den Weg. Wie eingangs erwähnt, hatte er ja so ziemlich eine Stunde Wegstrecke zu bewältigen, um ins Zentrum der Stadt zu gelangen. Die Strecke hatte er ja arbeitsbedingt am selben Tag schon zweimal hinter sich gebracht.

Als er zum vereinbarten Zeitpunkt im Büro des Unternehmers eintraf, erwartete dieser ihn schon im Beisein von zwei weiteren Herren. Wie er später erfuhr, handelte es sich bei diesen beiden um den Prokuristen sowie den für die Zimmerleute zuständigen Meister.

Nachdem er diesen kurz vorgestellt wurde, musste er seinen Werdegang nochmals ausführlich schildern, wobei speziell seine tadelsfreie schulische und berufliche Ausbildung im Vordergrund stand, die er mit den mitgebrachten Zeugnisunterlagen bestätigen konnte. Im Verlauf der Unterredung machte er wahrscheinlich auch auf den Prokuristen sowie den Meister einen soliden Eindruck, denn, nachdem sie sich kurz berieten, währenddessen er im Vorraum wartete, machte ihm der Bauunternehmer ein Angebot, das ihm fast die Sprache verschlug. Ihm wurde die Position des Vorarbeiters der Zimmerleute des Unternehmens angeboten, wobei der Monatslohn jedoch mehr als das Doppelte seines bisherigen ausmachte.

Was sein bisheriges Arbeitsverhältnis betraf, sollte er sich keine großen Gedanken machen, denn das würden sie im Einvernehmen mit seinem ehemaligen Arbeitgeber regeln, der im Übrigen die meisten seiner Aufträge über sie bezog. Im selben Zusammenhang sollte auch seine Wohnungssituation verbessert werden, denn sein jetziges, von ihm geschildertes Wohnverhältnis sowie der Arbeitsweg von über einer Stunde wäre für die Ausübung seiner neuen Tätigkeit nicht förderlich. Man wolle ihm deshalb eine kleine Wohnung in einem der zum Unternehmen gehörenden Mietshäuser suchen, so dass er relativ zentrumnah untergebracht wäre. Falls sich der Leser nun wundert, wie es in seinem Fall hier zu solch einer traumhaften Offerte kommen konnte, so muss darauf hingewiesen werden, dass das Angebot an qualifizierten und vor allem verlässlichen Leuten in der damaligen industriellen Aufbruchszeit sehr rar gesät war.

Es war, so kann man sagen, für Karl ein regelrechter Glücksumstand, dass er durch die Geschehnisse am besagten Richtfest zufälligerweise zur rechten Zeit am richtigen Ort war.

Als er sich nach dieser Unterredung wieder auf dem Heimweg befand und sich das soeben erlebte noch einmal richtig verinnerlichte, konnte er das alles fast gar nicht fassen. Selbst der Umstand, dass er, wie sehnlichst gehofft, das hübsche junge Fräulein nicht zu Gesicht bekommen hatte, konnte seine Euphorie nicht mindern. Er dachte, dass sich bestimmt in den nächsten Wochen, nach Antritt seiner neuen Arbeitsstelle, die Gelegenheit ergeben würde, sie näher kennenzulernen.

Die Zeit bis zum Beginn seines neuen Lebensabschnittes, so nannte er für sich selbst den bevorstehenden Arbeitsplatzwechsel und den damit verbundenen Umzug in eine eigene Wohnung, verging fast wie im Flug und endlich war es soweit, dass tatsächlich alles Wirklichkeit wurde. Ehrlich gesagt, hatte er bis dahin immer noch irgendwie Bedenken, ob das alles tatsächlich so eintreten würde. Als er schließlich kurz vor Antritt seiner neuen Arbeitsstelle durch den Prokuristen der Baufirma seine neue Wohnung zugewiesen bekam, wusste er, dass er keiner Halluzination aufgesessen und in der Realität angekommen war.

Die Wohnung selbst befand sich in einer Nebenstraße des Marktplatzes in einem durchaus gepflegten dreigeschossigen Mietshaus des Bauunternehmers. Das Mietshaus war im Unterschied zu den normalen Mietshäusern dieser Zeit sogar ziemlich neuzeitlich ausgestattet. In allen Zimmern der Wohnungen befanden sich Petroleumlampen, was für die damalige Zeit durchaus noch keinen Standard darstellte. Außerdem besaß jede Wohnung einen Wasseranschluss und pro Etage ein Plumpsklo, das von den Bewohnern gemeinsam genutzt wurde.

Für alle, die mit dem Begriff Plumpsklo nichts anzufangen wissen, sei erklärt, dass dies eine Toilette ohne Wasserspülung ist, wo die Exkremente des Stuhlganges in einen sich unter der Toilettenbrille befindlichen Behälter „plumpsten“, der, wenn er gefüllt war, in der Natur entleert werden musste.

Seine Wohnung befand sich in der ersten Etage und bestand aus einer relativ geräumigen Wohnküche und einem kleinen Schlafraum und war bereits mit dem notwendigsten Mobiliar ausgestattet. Die Miete machte zwar fast die Hälfte seines Lohnes aus, aber der Anteil, der ihm nach Abzug aller Kosten anschließend noch zur Verfügung stand, ermöglichte ihm trotzdem noch eine Lebensführung, die beileibe nicht dem Standard eines normalen Fabrikarbeiters entsprach.

Was den Eintritt in sein neues Arbeitsleben betraf, hatte er anfangs zwar große Bedenken, ob er diesen gehobenen Ansprüchen gerecht werden würde, denn er hatte jetzt die Verantwortung über die Koordinierung der Arbeit von fast 40 Arbeitern. Aber, wie er bald merkte, wurde er auf Grund seines sicheren und respekteinflößenden Auftretens von allen akzeptiert, so dass er die ihm übertragenen Aufgaben zu höchster Zufriedenheit seines Meisters erfüllte.

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