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Der Musikcomputer MDZ71 auf der Basis des Atari ST und des Yamaha-Synthesizers TX802. Das ist der Aufbau auf einem Tisch im Gebäude der Wiener Gesellschaft der Musikfreunde, wenige Minuten vor der Vorführungfür Herbert von Karajan im Mai 1988. Die Fotographie wurde von Christof Blum zur Verfügung gestellt.

Während des MDZ71-Musikcomputer-Projekts sollte ich, wie so viele andere Kolleginnen und Kollegen sicher auch, eine wichtige Erfahrung machen. Die Programmierung des MDZ71 wurde nicht – mehr – von mir selbst ausgeführt. Ich war unversehens in die Rolle eines »IT-Projekt-Managers« hinein geraten: Ich plante, wer von den Programmierern wann und was realisieren sollte, motivierte die Programmierer und kontrollierte das Ergebnis. Ich fand mich so in der Rolle wieder, die Projektergebnisse gegenüber Guerino Mazzola und anderen Interessierten zu vertreten. Ich hatte ohne große Absicht die Ebene eines quasi »Meta-Informatikers« erreicht, mit einer kleinen Projekt- und Personal-Verantwortung. Das war ein Quantensprung.

Am 24. und 25. Mai 1988 fand ein Symposium der Herbert-von-Karajan-Stiftung bei der Gesellschaft der Musikfreunde in Wien statt. Wir hatten dort einen Vortrag zur Präsentation des MDZ71 eingereicht. Guerino Mazzola hatte es zudem arrangiert, dass sich Herbert von Karajan, der im Jahr 1988 der wohl bekannteste Musiker der Welt war, den MDZ71 persönlich und exklusiv vorführen lassen wollte. Wir hatten den MDZ71 für den Termin in einem Büro des Wiener Musikvereinsgebäudes aufgebaut. Herbert von Karajan »rauschte heran« mit seinem Hofstaat von der Deutschen Grammophon. Karajan hatte ein irrwitziges Auto, einen Porsche 959. Das könnte damals das wohl schnellste Serienauto der Welt gewesen sein. Unvergesslich ist mir unsere MDZ71-Vorführung. Der bereits schwer gehbehinderte von Karajan trug einen dunkelblauen ausgebeulten Trainingsanzug. Wir durften bei dieser Begegnung leider keine Erinnerungsfotos aufnehmen, die Herbert von Karajan persönlich gezeigt hätten.

Dr. Christof Blum, Eschborn

Exkurs – Über Musik mit Menschen und Maschinen

Wenn man das so liest, so wird einem bewusst, wie gut sich die Geschichte der Digitalisierung mit ihren verschiedenen Entwicklungsstufen der vergangenen 40 Jahre anhand der technischen Entwicklungen in der Musik erzählen lässt.

Im MDZ71 wurden Tonereignisse verarbeitet, deren Merkmale nahe an der Notenschrift liegen. Ein Ereignis wird durch Tonhöhe, Einsatzzeit, Dauer und Lautstärke beschrieben. Der angeschlossene Synthesizer erzeugte hieraus Klänge mithilfe von Schwingungsgeneratoren. In gleicher Weise, wie sich die graphische Datenverarbeitung der 1980er-Jahre in Richtung digitaler Bildverarbeitung entwickelte, zog die digitale Signalverarbeitung in der Musik ein. Das Pendant des Pixels ist das Sample. Digitale Signalverarbeitung ermöglicht nicht nur die Reproduktion beliebiger natürlicher Klänge sondern auch eine stark komprimierte Signalspeicherung, wie sie dem MP3-Format zugrunde liegt.

Wie kein weiteres Kürzel steht »MP3« für den digitaltechnikbedingten Umbruch einer ganzen Branche. Physische Tonträger gehören seitdem der Vergangenheit an. Musik ist immateriell geworden. Nein, die MP3-Erfinder kommen nicht aus dem Silicon Valley, sondern vom Fraunhofer-Institut in Erlangen. Freilich hat effiziente Signalverarbeitung nichts mit »Verstehen« zu tun. Auch dies kann am Beispiel der Musik gut illustriert werden. Die populäre Shazam-App »erkennt« in Sekundenschnelle gespielte Musiktitel und nennt Interpreten und Namen des Stückes. Schier endlos scheint die Musikdatenbank zu sein, auf die hier zugegriffen wird. Und der Abgleich erfolgt beeindruckend schnell. Wer aber meint, die App verstehe etwas von Musik, der irrt.

Das Thema »Computer machen Musik« ist heute so spannend wie in den 1980er-Jahren. Technische Innovationen und geändertes Nutzungsverhalten sind grundsätzlich eher lose miteinander gekoppelt. Das soll heißen, dass nicht jeder technologische Quantensprung unmittelbar die Welt verändert, aber im Einzelfall können vergleichsweise kleine technische Fortschritte eine Lawine an Verhaltensänderung hervorrufen. Die Flut an Bildern und Tönen, von denen wir heute umgeben sind, war vor 40 Jahren so nicht vorstellbar. Auch wenn auf Technikebene in weiten Teilen »nur« quantitative Effekte (Netzbandbreite, Prozessorleistung) die Entwicklung prägten, auf Nutzungsebene vollzogen sich fundamentale Veränderungen. Jedem Hobbymusiker steht heute im Internet eine weltweite Bühne bereit. Die Explosion an Kreativität ist spürbar. Musik ist überall. Und mit dem neuen Licht kommt auch ein neuer Schatten, denn die Musik ist nicht mehr ortsgebunden. Die weltweite Bühne steht in weltweiter Konkurrenz. Musik ist billig. Ist sie damit auch »wertlos« geworden? Wie kann ihr Wert geschützt werden?

Freilich ist die Flut an Quellen und Kanälen und die Überwindung von Ortsgebundenheit und klassischen Redaktionsprozessen in der Musik vergleichsweise die kleinere Herausforderung für die Menschheit, bedenkt man die sich im Zeitalter der »Fake News« zuspitzende Frage der Vertrauenswürdigkeit von Nachrichtenkanälen. Hätten wir uns vor 40 Jahren die gesellschaftliche Brisanz vorstellen können, die von Kurznachrichtendiensten ausgeht? Es scheint, als liege trotz Informationsflut der Höhepunkt der Aufklärung bereits hinter uns. Musik hilft zur Beruhigung und Versöhnung. Heute wie damals. Digital wie analog.¶

Der MDZ71 spielte in Wien das Stück »Der Dichter spricht« aus dem Zyklus »Kinderlieder« von Robert Schumann. Guerino Mazzola hatte die Papier-Partitur – Ton per Ton – in den MDZ71 eingetippt. Aber bevor wir zur eigentlichen Vorführung der Möglichkeiten des MDZ71 kommen konnten, den geometrischen Manipulationen der »Score«, schritt von Karajan bereits nach den ersten Takten heftig ein. »Das ist falsch, das Stück ist ja ganz falsch gespielt!« Er hatte das Stück in der Originaltonart h-moll erwartet. Offenbar hatte er insoweit ein absolutes Gehör. Guerino Mazzola zeigte, dass es dem MDZ71 per lineare Translation sehr einfach möglich ist, die Tonart eines Stücks komplett zu ändern. Der durchaus Technik-affine Herbert von Karajan war am Ende der Vorführung schon beeindruckt, er meinte, mit dem System MDZ71 könnte man ihn »die ganze Nacht allein lassen«.

Abends dann saßen Guerino Mazzola, Christof Blum und ich auf den allerbesten Plätzen »Balkon Mitte« im großen Goldenen Saal im Musikvereinsgebäude in Wien. Wir hatten für den Abend eine Einladung der Herbert-von-Karajan-Stiftung erhalten. Diesen Saal kennt das internationale Publikum als den Aufführungsort der berühmten Neujahrskonzerte der Wiener Philharmoniker. Wir hörten die Berliner(!) Philharmoniker in Wien(!) mit »Ein Heldenleben« von Richard Strauss. Von Karajan hatte einen Fahrradsattel als einen Sitz am Dirigentenplatz montieren lassen, weil er nicht mehr so gut stehen konnte. Einer der Einsätze der Posaunen nach einer Generalpause misslang, das Dirigat des Perfektionisten Herbert von Karajan war an dieser Stelle einfach zu unpräzise. Diesen Fehler sollte ich als Amateur-Musiker – der aber immerhin das Strauss-Stück einigermaßen kannte – mein Leben lang im Ohr behalten. Der große Herbert von Karajan war offenbar auch nicht unfehlbar – er hatte sich im Dirigat vertan.

Der MDZ71 erfuhr durchaus eine seriöse Rezeption. Am 3. September 1988 wurde das Stück »Der Saitensprung des Ludwig van B« des US-amerikanisch-tschechischen Komponisten Jan Beran im Kunsthaus Zürich uraufgeführt. Es war ein »multimediales« Klavierkonzert, extra für den MDZ71 komponiert. Parallel zu den Tonereignissen lief eine Diashow mit Bildern des Schweizer Künstlers Jakob Sollberger, die dieser dafür ebenfalls extra erstellt hatte. Die Vorführung musste per »full-size panic action« noch einmal neu gestartet werden, weil sie von einem – in Zürich wirklich sehr seltenen – Stromausfall unterbrochen worden war.

Professor Dr. Guerino Mazzola, Minneapolis

Exkurs – Über Musik-Computer auf CD und auf der Bühne

Wenn ich das so lese, dann werde ich an die Episode vom bestandenen »Turing-Test« für Musik-Computer erinnert.

Für mich als Protagonisten des MDZ71 war Jan Berans Komposition für meinen Musikcomputer ein großer Erfolg, ein »proof of concept«, wie man zu sagen pflegt. Aber sie war stilistisch »far out«. Eine Kritik in einer namhaften deutschen Musikzeitung meinte, es würde einem beim Anhören »ganz blümerant«. Zudem war es für mich als Jazz-Pianisten ohnehin wünschenswert, den MDZ71 für den Jazz einzusetzen.

Natürlich war diese Idee damals noch problematisch, da improvisierende Musiksoftware noch nicht entwickelt war. Und auch im Jahr 2020 funktioniert sie noch nicht noch nicht befriedigend. Daher entschied ich mich für das Stück mit dem Titel »Synthesis« für eine Lösung, wo alles Nichtimprovisierte vom MDZ71 übernommen würde, während ich die Improvisationen auf dem Klavier vorzutragen hätte. Der MDZ71 sollte alle Perkussionsinstrumente und den Bass übernehmen. Mit den Synthesizern von Yamaha RX5, TX802 und Roland R-8M wurden so 122 Instrumente angesteuert. Die vier Sätze der Komposition mit den Bezeichnungen »Earthquake«, »Liquid Colors«, »Poem of Wind« und »Burning Spears« wurden alle nach einem motivischen Prinzip, einer Art Leitmotiv, gestaltet, nämlich der mathematischen Klassifikation aller drei-elementigen Motive in 26 Klassen. Die Details kann man in meinem Buch »The Topos of Music« aus dem Jahr 2018 (Band II, Kapitel 51) nachlesen. Diese Motive wurden als melodische Elemente, aber auch rhythmisch als Perkussionsgestalten benutzt.

Im Frühjahr 1990 benötigte ich für die Ausarbeitung der MDZ71-Komposition »Synthesis« vier Monate. Die gleichnamige CD wurde in einem einzigen »Take« im Studio aufgenommen und dann veröffentlicht, ohne irgendeinen Hinweis auf die computerisierten Perkussionsteile. Um meine Improvisation zur Software-generierten Musik zu erlernen, benötigte ich drei Monate intensiver Einarbeitung. Die Software konnte ja nicht auf Improvisation reagieren, ich als Pianist musste also alles verinnerlicht haben, was der Computer mir vorspielen würde.

Was auf die Veröffentlichung der Synthesis-CD folgte, war durchaus eine Art »Turing-Test« für musikalische Intelligenz. Die Kritiken der CD waren nicht durchaus positiv, man warf mir vor, eine Art »Cecil Taylor im 4/4-Takt« zu spielen, es wäre zu viel Präzision jenseits der offenen Stilistik des Free Jazz. Der musikalische Hintergrund dieses Verdikts war in Wirklichkeit, dass ich mit dieser CD eine Art Synthese von Miles Davis und Cecil Taylor angestrebt hatte. Das war natürlich eine – eine weitere(!) – Todsünde für alle Musik-Puristen. Trotzdem wurde die hervorragende Aufnahmequalität gelobt. Letztes war kein Kunststück, denn die ganzen Perkussionsinstrumente waren ja direkt elektronisch wiedergegeben worden. Das erkannte niemand, im Gegenteil wunderte man sich über die Präzision der Perkussion.

Der Kern dieses Turing-Tests für Musikcomputer ereignete sich aber beim Internationalen Jazz-Festival in Zürich im Herbst 1991. Hier wurde ich eingeladen, die Komposition »Synthesis« auf der Bühne aufzuführen. Man sah also mich als den Pianisten am Flügel samt dem Atari-MDZ71-Computer und sonst nichts. Der bekannte Jazz-Kritiker und Drummer Nick Liebmann von der Neuen Zürcher Zeitung unterhielt sich nach diesem Konzert mit mir und meinte, diese Performance mit dem Computer sei ja nicht schlecht, aber die CD mit den lebenden Musikern finde er besser. Liebmann hatte also als Schlagzeuger die synthetischen Klänge der Synthesizer nicht erkannt. Er hatte auch nicht bemerkt, dass alle Perkussion programmiert war und nicht durch musizierende Menschen aufgeführt wurde.

Dieser »bestandene Turing-Test« war für mich ein Beweis, dass Mensch und Maschine sehr wohl kreativ und auf hohem Niveau zusammenarbeiten können, dass aber die Intelligenz durch und durch dem Menschen anheimgestellt bleibt.¶

Welche Lektionen hatte man beim MDZ71-Projekt gelernt? Es wurde verstanden, dass ein Teil dessen, was man unter »Musik« begreift, als Tonereignisse von einer Maschine erzeugt, gespeichert, manipuliert und wiedergegeben werden kann. Die Maschine kann sogar zu den Tonereignismengen neue, geometrische Perspektiven – im Sinne von Mazzolas Interpretation des Yoneda-Lemmas – ausrechnen. Es würde sich in naher Zukunft eine »algorithmische Musik« sogar automatisch oder halbautomatisch erzeugen lassen – und damit weit über das hinausgehen, was man bislang unter Elektronischer und Synthesizer-Musik verstanden hatte.

Im täglichen Leben fand eine ganz andere Art der Digitalen Musik Einzug. Die verschiedenen Formen von Automaten-gestützter Musik popularisierten sich gegen Ende der 1980er- und in den 1990er-Jahren tatsächlich. So entwickelte beispielsweise die Musikkultur des »Techno« eine eigene Faszination und eine immense ökonomische Bedeutung. Es wurde im Umfeld des MDZ71-Projekts aber auch verstanden, dass Musik nicht nur aus einer Menge von Tonereignissen besteht, die formal als Daten modelliert werden können. Es fehlt etwa ein geschlossenes mathematisches Modell der Klangfarben. Maschinen haben zudem immer noch keine Chance, einige der echten Musik-Instrumente, wie etwa Blechblasinstrumente, spielen zu können. Nach all den Jahren habe ich den Verdacht, dass der bestimmungsgemäße Gebrauch etwa einer Trompete weiterhin eine exklusive Angelegenheit von »echten Menschen« bleiben wird. Die Roboter können das nicht.

Pioniere in Berlin – Multimedia, Teledienste, Phantasien (1986 – 1989)

Das BERKOM-Projekt in West-Berlin ist eine der Geburtsstätten eines wegweisenden Paradigmas der Informationsgesellschaft: »Der Arbeitsplatz ist der vernetzte Multimedia-Computer – der vernetzte Multimedia-Computer ist der Arbeitsplatz«.

Die Stadt Berlin war bekanntermaßen in der Nachkriegszeit bis Ende der 1980er-Jahre zweigeteilt. Auf der einen Seite der sowjetische Sektor »Berlin, Hauptstadt der DDR« und auf der anderen Seite »Berlin (West)« oder »West-Berlin«, das aus den drei Sektoren der Alliierten USA, Frankreich und Großbritannien bestand. Im Kriegsverbrechergefängnis in Spandau bewachten die vier Alliierten Schutzmächte – gemeinsam – den mittlerweile greisen Hitler-Stellvertreter Rudolf Hess. Dieser war in Alexandria in Ägypten geboren und hatte dort auch seine Kindheit verbracht. In einem Film des ARD-Auslandskorrespondenten Walter Helfer aus dem Jahr 1987 über die Stadt Alexandria fragten Vertreter der dortigen »haute volée«, wie denn ihr ehemaliger guter Nachbar Rudolf Hess nach Deutschland und Berlin gehen und dort in eine derart schlechte Gesellschaft habe geraten können.

West-Berlin war geographisch gesehen eine brutale Provinz, eine völlig isolierte Insel inmitten der Deutschen Demokratischen Republik (DDR). West-Berlin gehörte nach internationalem Recht keinesfalls zur Bundesrepublik Deutschland, sondern hatte einen gesonderten »Vier-Mächte-Status«, der wiederum auf einem Abkommen der vier Siegermächte des Zweiten Weltkriegs beruhte. Wer nach West-Berlin reisen wollte, musste die DDR entweder durchfahren oder überfliegen. Der Flugverkehr nach und über Berlin wurde ebenfalls von den vier Alliierten Schutzmächten gemeinsam überwacht. In West-Berlin war damals die gesamte geopolitische Lage auf ganz wenigen Quadratkilometern zusammengepresst. Der noch junge Udo Lindenberg, damals keine vierzig Jahre alt, sang etwa Mitte der 1980er-Jahre:

»In 15 Minuten sind die Russen auf dem Kurfürstendamm.

Sie lassen ihre Panzer im Parkhaus stehn.

Und wollen im Café Kranzler die Sahnetörtchen sehn.«

Dieses Szenario war nicht ganz unrealistisch – in der Tat. Aber West-Berlin war in diesen Jahren auf eine seltsam dialektische Weise einerseits morbid, andererseits ein Fokus der Weltpolitik des Kalten Kriegs und vibrierend progressiv. Es gab einerseits die technisch ziemlich veraltete West-Berliner S-Bahn. Sie befand sich im Besitz der DDR-Reichsbahn und wurde deswegen im »Westen« kaum benutzt. Andererseits gab es eine Kulturszene, deren populärstes Produkt die Techno-Musik war, die Jahre später die sensationelle Love-Parade hervorbringen sollte. Jemand hatte in dieser Zeit einmal gesagt »was auch immer in Deutschland Neues passieren soll, es passiert zuerst in West-Berlin«. Das war nicht ganz unpassend – im Guten wie im Schlechten. Die britische New-Wave-Rockgruppe »Fischer-Z« dichtete zu Beginn der 1980er-Jahre über »Berlin«:

»Part of the old world lives on this island in Germany

The essence survives, Berlin, Berlin (…)

Young faces new ideals in search of paradise

They merge into the history, the theatre of memories

That make up the feel of Berlin, Berlin«

Auf dieser Insel West-Berlin wurde in der ersten Hälfte des Jahres 1986 von der Deutschen Bundespost das Projekt »BERKOM – Berliner Kommunikationssystem« gestartet. Die Deutsche Bundespost war damals noch ein staatseigener Betrieb und ein öffentliches Unternehmen der Bundesrepublik Deutschland. In der Mitte der 1980er-Jahre gehörten ihr über eine halbe Million Mitarbeiter an, die meisten waren »Postbeamte« – auf Lebenszeit. Sie erledigten sorgfältig und zuverlässig drei völlig verschiedene Geschäftsbereiche.

Erstens gab es die Postbank für Sparen und Zahlungsverkehr, zweitens den Postdienst, der Briefe und Pakete beförderte, und drittens die Fernmeldesparte, die vor allem für den Fernsprechdienst (Telefonie), das Fernschreiben (Telex) und auch die Fernkopien (Telefax) zuständig waren. Alles war wohl geordnet und gut sortiert. Ein Faxgerät und ein Telefongerät hatten sogar verschiedene Anschlüsse, die Stecker waren verschieden. Der Betrieb eines Faxgerätes an einem Telefonanschluss sollte so verhindert werden. Das geniale und radikal neue Element am Projekt BERKOM war, dass sich die Bundespost nun in den Markt von sogenannten »Anwendungen« begeben wollte. Das sollten Systeme – »Innovationsmotoren« – sein, die bei den künftigen gewerblichen und öffentlichen Kunden der Bundespost direkt deren Geschäftsvorgänge digital unterstützen sollten.

Im Jahr 1986 war Christian Schwarz-Schilling der Bundesminister für das Post- und Fernmeldewesen. Die gesamte Datenkommunikation in der Bundesrepublik war noch in der Hand der Deutschen Bundespost als einer hoheitlichen monopolistischen Behörde, die eigenwirtschaftlich alle oben genannten Postdienstleistungen erbrachte. Die Fern-Übertragung von Daten war möglich mithilfe von Akustikkopplern (Modems), die einen Datenstrom in ein Audiosignal umwandelten und dieses über eine Telefonleitung schickten. Der Empfänger hatte die Rückumwandlung in einen Datenstrom vorzunehmen. Bis 1986 war es nur erlaubt, posteigene Modems anzuschließen und zu benutzen. Normalerweise war eine Übertragungsbandbreite von circa 1200 Bits pro Sekunde möglich. Die Übertragung einer 1-Megabyte-Datei hat damals also ungefähr zwei Stunden Zeit in Anspruch genommen. Aber Dateien in dieser Größe waren eher selten. Man konnte so etwas kaum speichern und verarbeiten, weil einfach der Speicherplatz dafür fehlte.

In Deutschland gab es aber bereits ein erstes Online-Informationssystem, das auf dem Telefonnetz basierte. Der sogenannte »Bildschirmtext« Btx war im Prinzip eine Kombination von Telefon und Fernsehen. Er erforderte ein spezielles Btx-Endgerät. Der Btx wurde bereits im Sommer des Jahres 1979 auf der Internationalen Funkausstellung IFA in Berlin vorgestellt. Man hatte in West-Berlin sogar eigene Briefmarken, sie trugen die Aufschrift »Deutsche Bundespost Berlin«. So gab es auch eine eigene Berliner Briefmarke zu Ehren des Btx. Diese Briefmarke wurde angeblich 6,5 Millionen Mal gedruckt.

Der Btx war in der Bundesrepublik Deutschland ab circa dem Jahr 1983 landesweit verfügbar, es hat allerdings die erwarteten Nutzerzahlen nie erreichen können. Zum Start von BERKOM im Jahr 1986 hätten es schon circa eine Million Nutzer sein sollen, es waren aber nur 60 000, damit nur etwa sechs Prozent der Zielvorgabe. Die Briefmarke mit dem Btx-Motiv hatte, wenn man das vergleichen darf, etwa eine 100-mal weitere Verbreitung als die von ihr beworbenen Btx-Endgeräte. Btx fand erst viele Jahre später, etwa ab dem Jahr 1995, ein Millionenpublikum, als es mit dem E-Mail und Internet-Angebot von T-Online – als einem Internet-Dienstleister – zusammen auftrat.

Die Behörde Deutsche Bundespost hatte schon Jahre vorher eine Organisationseinheit namens »Deutsche Telepost Consulting« (DeTeCon) gegründet, die dann ab dem Frühjahr des Jahres 1986 das Projekt BERKOM durchführen sollte. Aus westdeutscher Sicht war BERKOM ein reines Entwicklungshilfeprojekt für die »wirtschaftlich herausgeforderte« Insel West-Berlin. Die Ziele des Projekts BERKOM waren sehr utopisch formuliert, unter anderem sollte die Entwicklung von Diensten und Anwendungen für geplante Breitbandnetze erfolgen. Der Projektleiter von BERKOM war Jürgen Kanzow, der eine Gruppe von Wissenschaftlern und Technikern um sich geschart hatte. Einige der Anwendungen, die man bei BERKOM vorhatte, galten damals nicht nur als technisch schwierig umsetzbar, sondern waren zwischen »utopisch« bis »glatt verrückt« einzuordnen.


Eine Berliner Briefmarke aus dem Jahr 1979 – die neue Textkommunikation über Bildschirm Btx.

Das erste Manöver war die Entwicklung und Erprobung eines Breitbandnetzes auf Glasfaserbasis. Dazu sollte das damals zwar schon konzeptionell bekannte, aber keinesfalls allgemein verfügbare, Digitale Netz »Integrated Services Digital Network« (ISDN) um Breitbandkanäle ergänzt und erweitert werden, zum sogenannten »ISDN-B« – oder Breitband-ISDN. Neben den ISDN-Basiskanälen mit einer Bandbreite von 64 Kbit pro Sekunde sollten Kanäle von 2 Mbit und gar 140 Mbit pro Sekunde verfügbar sein. Es gelang dann in den Jahren ab 1986 in Berlin tatsächlich, ein eigenes BERKOM-Breitband-Glasfasernetz mit Vermittlungsstellen in Betrieb zu nehmen und den verschiedenen Projektpartnern sogar ein ISDN-B zur Erprobung und Nutzung anzubieten.

Völlig überzogen erschien uns damals der BERKOM-Ehrgeiz, die Entwicklung von Standards zur Daten-Übertragung voranzubringen. Das Ziel war ein »BERKOM-Referenzmodell«, ein Schichtenmodell für Daten-Breitbanddienste, das dem ISO/OSI-Referenzmodell nachempfunden werden sollte. Darauf basierend sollten multimediale Anwendungen, die »Teledienste«, entwickelt und erprobt werden. Dazu zählten eine »Multimedia-Mail«, Videokonferenzen, »Application Sharing« und »Computer-Supported Collaborative Work« (CSCW), Telemedizin, Telepublishing, Fernunterricht, verteilte Datenbanken, Nachrichtendienste ebenso wie »Video-on-Demand«, Hörfunk und Fernsehen im Netz per ISDN, gar elektronische Zeitungen – und allerlei in den Jahren 1986 und 1987 völlig phantastisches Zeug mehr.

Es wurden Illustrationen gemalt und Gehäuse-Funktionsmuster gebaut, wie die Endgeräte aussehen könnten. Entscheidend war aber die Suche nach sinnvollen Anwendungen. Die Kernfrage war, wer und für was könnte man um Himmels Willen eine Zwei-Megabit-Bandbreite, gar eine 140-Mega-bit-Bandbreite, gebrauchen? Es gab kaum Endgeräte, die einen solchen riesigen Datenstrom hätten sinnvoll verarbeiten und speichern können. So meinte man etwa damals, es wäre schon realistisch, dass man – in allernächster Zukunft – an einem Computer-Bildschirm Lexikon-Artikel per Fernabfrage über das ISDN-B lesen könnte, inklusive eventueller Bilder und gar Video- und Audio-Dateien. In der Tat sollten noch über dreißig Jahre vergehen, bis solche Anwendungen, so in der Form der Wikipedia-Systeme, Allgemeingut geworden sind.


Der Prototyp eines Multimedialen Endgeräts im Projekt BERKOM. Es ist das damals »Mediatel« genannte Gerät, sozusagen ein Ur-Ahn der gängigen Videokonferenzsysteme der späteren Jahre. Der Prototyp zeigt das Videobild des Gesprächspartners und auch eine »Anwendung« auf einem Monitor. Die Benutzerin hantiert aber noch fleißig mit Bleistift und Papier, sie hat in der Tat keinen eigenen PC zur Verfügung. Eine – Medienbruch-freie – Übernahme der Daten in einen PC wäre damals auch gar nicht möglich gewesen. Mit einem findigen System von Spiegeln wurde das Problem gelöst, dass sich die Gesprächspartner quasi »in die Augen schauen« können. Denn die Videokameras waren damals noch größer und konnten daher nicht einfach direkt im Monitorrahmen platziert werden. Die Abbildung stammt aus einem Flyer des BERKOM-Projekts.

Im Jahr 1986 war die Philosophie der Offenen Systeme und des ISO/ OSI-Referenzmodells (»International Organization for Standardization« (ISO) – »Open Systems Interconnection« (OSI)) noch relativ neu. Das ISO/ OSI ist ein Referenzmodell für Netzwerkprotokolle in Form einer Schichtenarchitektur. Es war erst 1984 von der ISO als Standard veröffentlicht worden. Das ISO/OSI-Modell sollte die Daten-Kommunikation über unterschiedlichste technische Systeme hinweg regeln und den dazu nötigen Übertragungsprotokollen ihren richtigen Platz und ihre richtige Funktion zuweisen. Das Modell hat sieben Schichten (die sogenannten »Layers«). Entscheidend ist, dass in der gleichen Schicht definierte Netzwerkprotokolle relativ einfach austauschbar sein sollten. So sollten die Endgeräte der Anwendungen über neutrale Plattformen über verschiedenen Netzen und ihren Protokollen betrieben werden können.

Eine Grundidee der BERKOM-Leute um Jürgen Kanzow war, dass man ein ISDN-B für die Übertragung großer Datenmengen brauchen würde. Wenn es aber große Datenmengen irgendwo auf der Welt gäbe, dann müssten sie die Form von Fotos und Videos, Standbilder und Bewegtbilder, haben. Irgendwann im Sommer 1986 muss Jürgen Kanzow dann José Luis Encarnação gefragt haben, ob nicht die Darmstädter GRIS- und AGD-Leute hier helfen könnten, das Breitbandnetz BERKOM mit computergraphischen Anwendungen zu vereinen. Encarnação hat später das Thema in der AGD an Detlef Krömkers Abteilung weitergegeben. Im Projektteam waren Christof Blum und ich dabei. Christof Blum war nach seiner MDZ71-Diplomarbeit und der Beendigung seines Studiums ebenfalls ein WissMA in der Abteilung von Detlef Krömker geworden.

Zu Beginn des Jahres 1987 waren wir bei der Darmstädter »Fraunhofer-Arbeitsgruppe Graphische Datenverarbeitung« (FhG-AGD, kurz AGD) – neben dem MDZ71 – an der Akquisition weiterer Projekte interessiert, um wirtschaftlich bestehen zu können. Das Berliner BERKOM-Projekt war ein »golden client« für uns bei der AGD. Wir hatten einen stabilen Projektpartner und Auftraggeber mit hinreichenden finanziellen Mitteln und einem immensen Forschungs- und Entwicklungsbedarf für die nächsten Jahre vor uns. Wir hätten nicht mehr erwarten können. Für mich persönlich begann ab dem zweiten Halbjahr 1986 dann eine »Berliner Zeit«, die über 30 Jahre lang andauern sollte. Irgendwie war ich dauernd in Berlin zugange … es war ja auch immer etwas los. Bahllien, Bahllien.

In der zweiten Hälfte der 1980er-Jahre war aus Sicht der West-Berliner überall und in allen Himmelsrichtungen »der Osten«. Wir Darmstädter kamen typischerweise mit dem Flugzeug aus Frankfurt am Main nach Berlin. Aufgrund des Vier-Mächte-Abkommens durften nur alliierte Flugzeuge und Piloten nach und über Berlin fliegen. Die Routen waren regulatorisch aufgeteilt. Vom Flughafen Frankfurt am Main flogen die Amerikaner, und nur die, zum Flughafen Berlin-Tegel, der hatte »TXL« als Kürzel. Zuständig war eine Fluggesellschaft namens »Pan Am«. Die »Pan American Airways« waren weltberühmt, da sie als eine der ersten Airlines interkontinentale Flüge anbieten konnten. Über die DDR ging es mit der »Pan Am« in einem ziemlich engen Korridor. Die Flughöhe von wenigen Tausend Metern war streng vorgeschrieben und wurde ebenso streng überwacht. Nicht selten sah man durch die Fenster des »Pan Am«-Flugzeugs begleitende Kampfflugzeuge vom sowjetischen Typ MiG. Der enge Korridor erlaubte es nicht, schlechtes Wetter zu umgehen, was immer wieder zu sensationellen Wackelflügen führte.

Vom Flughafen Berlin-Tegel ging es dann mit Bus und U-Bahn zum Headquarter von BERKOM, das zunächst – »very tiny« und provisorisch – in einem Obergeschoss des Tagesspiegel-Gebäudes in der Potsdamer Straße untergebracht war. Später zog man um, auf das ehemalige AEG-Gelände im Wedding. Die Fahrten mit der U-Bahn-Linie U8 zum Bahnhof Voltastraße, unter dem »Osten« hindurch, waren beeindruckend. Die allerstrengste Bewachung der Geisterbahnhöfe und die bis zum Äußersten entschlossenen Gesichter der bewaffneten DDR-Grenztruppen machten uns damals glauben, dass die politischen Verhältnisse »Ost versus West« für alle Zeiten zementiert sein würden. Sic transit gloria mundi?

Jahrzehnte später unternahm ich dann mit meinen Studierenden immer wieder Exkursionen nach Berlin. Wir besuchten den Bundestag im Reichstagsgebäude, diverse akademische Institute und auch Berliner IT-Firmen. Irgendwann, so um das Jahr 2010 herum, stellte ich fest, dass die jungen Leute mit meinen Erläuterungen zur DDR und der Teilung Berlins einfach nichts mehr anfangen konnten. Es hätte ihnen genauso gut etwas vom letzten Weltkrieg erzählt werden können. Im Jahr 1991 meldete die »Pan Am« Insolvenz an und im November 2020 wurde TXL geschlossen, da der neue Berliner Flughafen namens »BER« – endlich – eröffnet worden war.


Die Entwicklung der Informationsgesellschaft basierte nicht nur auf Hochtechnologie, sondern auch auf profanen Dingen wie (m)einem Koffer des Fabrikats Samsonite. Er stammt aus den 1980er-Jahren und hat viele Hundert Reisen nach Berlin zu BERKOM, FOKUS, eco-Verband und anderen Kooperationspartnern – und zurück – hinter sich. Er war auch bei vielen Dutzend Reisen zu den internationalen Meetings der diversen Standardisierungsgremien der ISO/IEC JTC1 mit dabei. Wenn man genau hinschaut, kann man noch die jahrzehntealten Reste der Aufkleber der Security der »Pan Am«-Flüge von Frankfurt – über die DDR – nach West-Berlin erkennen. Diese Siegel-Klebebänder über der Öffnung sollten verhindern, dass irgendjemand im Transit über die DDR etwas in den Koffer nach dem Check-in herausnahm – oder hineinlegte. All die Jahre sprachen mich Kollegen wiederholt darauf an, ob ich mir denn keinen neuen Koffer leisten wollte. So ein Neukauf ist aber völlig unnötig, denn ich hatte ja schon dieses sehr brauchbare Exemplar. Später, in der entwickelten Informationsgesellschaft sollte dieses Konsumverhalten wohl als »Minimalismus« bezeichnet und bekannt werden.

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