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Bei unserer Analyse der gängigen Literatur zur »Schule von Athen« mussten wir erkennen, dass bereits recht viele und wichtige geisteswissenschaftliche Erkenntnisse vorlagen. Aber offenbar hatte bisher noch niemand die genaue Geometrie der im Fresko verwendeten Zentralperspektive untersucht. Für Bätschmann war das nicht erstaunlich, lern(t)en doch Kunstwissenschaftler rein gar nichts über die Mathematik und genauen Methoden der Perspektive in ihrem Studium. Also machten wir uns zuallererst an die exakte Rekonstruktion der dreidimensionalen Darstellung im Fresko, wo in einem Raum 57 Personen dargestellt sind.

Es stellte sich heraus, dass Raffael erstens zwei Perspektiven miteinander verquickt hatte: Eine für die Raumteile vor der großen Treppe, eine zweite für die Raumteile hinter der Treppe. Diese virtuose Perspektiventechnik, die Raffael und seine Mitarbeiter vollkommen beherrschten, erzeugt eine quasi-filmische Annäherungsbewegung des Betrachters. Man wird, auf das Fresko schauend, regelrecht in dieses hineingezogen. Und zweitens fanden wir, dass der Doppelstern, den Ptolemäus rechts vorn auf seiner Tafel konstruiert, kein Davidstern ist, wie dies die Kunstwissenschaft bisher ohne weiteres Nachzudenken angenommen hatte. Es ist vielmehr eine Kombination von Dreiecken aus den Platonischen Körpern, was eigentlich kein Wunder in einer Schule von Athen sein dürfte.

Was damals durch die computergraphische Visualisierung der geometrischen Daten der »Schule von Athen« erkannt wurde, war die Tatsache, dass das Doppeldreieck des Ptolemäus isomorph ist zum Doppeldreieck der Fußpunkte der wichtigsten Menschenfiguren im Fresko. Diese Erkenntnis war nur möglich geworden durch den Perspektivenwechsel mithilfe der Algorithmen der Informatik. Das war ein absolutes Novum in der Analyse der »Schule von Athen«, welches ohne Computergraphik verborgen geblieben wäre. Auf philosophischer Ebene gewannen wir so einen weiteren Beleg dafür, dass die sogenannte »ganze Wahrheit« als ein Integral der möglichen Perspektiven gesehen werden muss. Diese Erkenntnis, das Yoneda-Lemma der Kategorientheorie, war nun besser sichtbar geworden. Das durch den Einsatz von komplexen Algorithmen errechnete Integral war der klassischen Kunstwissenschaft vorher unzugänglich.

Diese Resultate des Darmstädter Raffael-Projektes aus der Mitte der 1980er-Jahre sind und bleiben ein fundamentaler Fortschritt im Bestreben, das große Ganze, welches durch das »dis-capere« der Disziplinen zerschnitten wurde, wieder zusammenzufügen.¶

Schon Ende der 1970er-Jahre gab es in den USA an der University of Rochester im US-Bundesstaat New York eine Beschäftigung mit der sogenannten »constructive solid geometry« (CSG). Man hatte eine Beschreibungssprache und ein System namens »PADL-2« (Part and Assembly Description Language Version 2) entworfen. Das PADL kannte primitive, geometrische Objekte (wie Quader, Kugeln, Kegel etc.) und konnte daraus per mengentheoretischer Operationen (Vereinigung, Schnitt etc.) neue komplexere Objekte im Rechner synthetisieren. Detlef Krömker meinte, dass die zur Verfügung stehende Version PADL-2 für unser Raffael-Projekt eingesetzt und benutzt werden könnte – im Informatiker-Deutsch sagte man dazu wohl »hingebogen werden könnte«. Eine computergraphische Darstellung von menschlichen Körpern war damals schon sehr(!) ungewöhnlich. Es war eine schwierige Frage, wie das mit einem CSG-System und seinen primitiven geometrischen Formen möglich sein sollte.

Mazzola hatte auf der Mathildenhöhe in Darmstadt ein Sperrholzmodell der von Raffael dargestellten Szene aufgebaut. Darauf platzierte er hölzerne Gliederpuppen, die auch im Zeichenunterricht als Modell benutzt werden. Diese konnte er vom korrekten perspektivischen Betrachtungspunkt anvisieren. Mit solchen Holzpuppen wurden die Figuren im Fresko nachgestellt, die Gelenkwinkel der Gliedmaßen gemessen, und diese Daten wurden dann über PADL-2 modelliert und visualisiert. Die Herstellung von »Bildern« von unseren Berechnungen war eine Sache für sich. Das PADL-2 konnte Vektorbilder als Strichzeichnungen erzeugen, die man mit einem Plotter auf Papier zeichnen lassen konnte. Neben diesen eher technischen Zeichnungen sollten aber auch Farbbilder für das Exponat für die Ausstellung her, also digitale Bilder, farbige Rasterbilder, die aus Pixeln aufgebaut waren. PADL konnte so etwas als »shaded pictures« berechnen und in einer Auflösung von 512 mal 512 Bildpunkten in einer Datei abspeichern.


Titel der Springer-Publikation »Rasterbild-Bildraster« vom Sommer 1986.

Sehen oder zeigen konnte man so ein Bild, einen »Frame«, damit noch lange nicht. Die Datei mit dem Rasterbild wurde dann vom Siemens-Zentralrechner per Telefonmodem auf einen Spezialrechner bei GRIS übertragen, und in einem »frame buffer« gespeichert. Daran war ein Farbmonitor angeschlossen und man konnte – bitte sehr! – das Bild endlich wirklich sehen. Denn dieser Monitor, mit einer klassischen Braunschen Röhre ausgestattet, konnte tatsächlich ein farbiges Rasterbild darstellen. Normale Computermonitore zeigten nur Zeichen monochrom in Grün oder Orange. Das Ganze kostete pro Frame leicht mehrere Stunden Aufwand. Bilder für die Ausstellung brauchten aber noch eine »Hardcopy« – zum An-die-Wand-Hängen.

Für ausstellungsfähige Bilder wurde eine 35-mm-Kleinbildfilm-Fotokamera mit Teleobjektiv auf einem Stativ in einiger Entfernung vor dem Monitor platziert. Das Teleobjektiv milderte die kugelförmige Verzeichnung des Bildschirms. Das Stativ brauchte man, weil es einige Sekunden Belichtungszeit pro Aufnahme benötigte, um das Flimmern des Monitors zu eliminieren. Und so wurden Foto-Negative und auch Vortragsdias unserer Rechenergebnisse fabriziert. Es gab ja noch keine Beamer oder gar große LED-Monitore, also projizierte man in der Symmetrie-Ausstellung eine Diashow mit klassischen Projektoren auf eine Leinwand. Ein Übernehmen der Bilder in ein digitales Dokument, etwa als Abbildung in einer Textdatei, war damals noch völlig utopisch. Das wurde erst möglich mit der Entwicklung der »Architekturen Offener Dokumente« (ODA), wie sie im Kontext des BERKOM-Projekts einige Jahre später erfolgen sollte.

Für das Erstellen von Diaschau-Bildern mit »Textelementen«, Schrift oder Formeln, wurde die mit einem Laserdrucker ausgedruckte entsprechende Papierseite mit schwarzer Schrift auf einem Repro-Fototisch durch ein Gelbfilter aufgenommen. Das 35-mm-Negativ zeigte dann weiße Schrift auf blauem Grund. Dieses Negativ konnte im Vortag wiederum quasi als ein Dia gezeigt werden. Und dieses »Weißauf-Blau«-Schriftbild war damals schon schick. Wegen des Raffael-Projekts war ich quasi »ständig« im Institut GRIS. Professor Encarnação genehmigte mir sogar einen Büroarbeitsplatz mit einem eigenen Telefon auf dem Schreibtisch. Das Telefon war bis zur Mitte der 1980er-Jahre wohl das wichtigste Kommunikationsmittel im Büro. Es hatte eine Wählscheibe und war grau – das Fabrikat »Siemens FeTAp 611« hieß daher auch die »Graue Maus«. Dieser Büroarbeitsplatz mit Telefon war ein damals fast unglaubliches Privileg für einen Hiwi-Studenten.

In der Rückschau fällt das fast »niedlich« zu nennende Arbeits- und Prozess-Tempo in der Mitte der 1980er-Jahre auf. Man hatte an einem normalen Arbeitstag eine um Längen geringere Ereignis- und Termindichte zu bewältigen als dies viele Jahre später der Fall war. Das Telefon war das einzige Echtzeit-Medium, die Briefpost hatte eine Reaktionszeit von einigen Tagen. Das Telefax war noch nicht alltäglich und überall in Gebrauch. Drängte ein Kooperationspartner auf eine versprochene Zuarbeit, so konnte man ihn am Telefon vertrösten, das sei schon in der Post. Und man hatte noch den ganzen Tag Zeit, es wirklich zu erledigen und zur Post zu geben.

Einige der Begleitumstände waren unglaublich provinziell und idyllisch, verglichen mit der »around the clock action«, die die entwickelte Informationsgesellschaft Jahrzehnte später mit sich bringen sollte. Gegenüber des Instituts GRIS in Darmstadt gab es eine Gaststätte »Bayerischer Hof«. Setzte man sich dort zur Mittagszeit an einen Tisch, so wurden ohne Bestellung die Tagessuppe und ein halber Liter Bier – eine »Halbe« – gebracht. Dann gab es ein warmes Tellergericht nach Speisekarte. So eine Mittagspause konnte schon mal gut zwei Stunden dauern. Der Nachmittag hatte, abhängig von der Zahl der zu Mittag konsumierten »Halben«, manchmal eine geradezu lässige Grundstimmung.

Das Darmstädter Raffael-Projekt zeigte mithilfe der Perspektivenwechsel in der synthetischen dreidimensionalen Szene, dass Raffaels Fresko zwei Perspektiven aufweist, die allerdings den gleichen Fluchtpunkt, aber eine verschiedene Tiefenskalierung haben. Dadurch entsteht eine Dynamik die den Betrachter quasi in das Bild »hineinzieht«. Professor Encarnação erreichte im Sommer 1986 beim Springer-Verlag in Heidelberg, dass dort eine Monographie zu unserem Raffael-Projekt erschien. Sie hieß »Bildraster-Rasterbild – Anwendung der Graphischen Datenverarbeitung zur geometrischen Analyse eines Meisterwerks der Renaissance: Raffaels Schule von Athen«. Die Autoren waren Guerino Mazzola, Detlef Krömker und ich – obwohl ich ja erst ein Student war. Unser Ansprechpartner beim Springer-Verlag war übrigens Gerd Rossbach. Er sollte ab dem Jahr 1992 die ersten »Deutschen Multimedia Kongresse« (DMMK) initiieren.


Bilder vom Raffael-Projekt der Darmstädter Symmetrie-Ausstellung aus dem Jahr 1986. Szenenmodell und Holzpuppen, die vermessen wurden, und ihre Modellierung und Visualisierung mit dem PADL-2-System.



In der Kulturszene waren wir bei einigen professionellen, aber reaktionären Kunsthistorikern quasi »unten durch«. Möglicherweise waren sie gereizt, weil sie erkennen mussten, dass ihre Unkenntnis der Mathematik und Geometrie, mit der sie manchmal gar kokettierten (»in Mathe hatte ich immer eine Fünf«), hier ein wirklicher Nachteil war. Sie verstanden einfach nicht, um was es bei der »Schule von Athen« ging und spürten, dass sie den geometrischen Fähigkeiten eines Raffael absolut nicht gewachsen waren. Das ärgerte sie. So durften wir von völlig Ahnungslosen verfasste Pressetexte lesen, dass wir »Raffaels großartiges Fresko zu einer unsäglichen Badeanstalt« hätten verkommen lassen. Um uns als Techniker generell zu diskreditieren, überschrieb man einen Zeitungsartikel gar mit: »Von Holzpuppen und Holzköpfen«. Viele Jahre später hätte man das wohl ein »hate posting« genannt.

Einige Monate nach dem Ende der Symmetrie-Ausstellung sollte Anfang April 1987 die große Tagung »Datenbanksysteme in Büro, Technik und Wissenschaft« (BTW) der »Gesellschaft für Informatik« (GI) in Darmstadt stattfinden. José Luis Encarnação war eingeladen worden, zur feierlichen Abendveranstaltung den akademischen »Dinner Speech« zu halten, im Festsaal der Darmstädter Orangerie vor mehreren Hundert Zuhörern. Aber Encarnação passed it over to me. »Hofmann, gehen Sie da hin! Sie haben doch diese Raffael-Bilder, damit können Sie einen Vortrag halten.« Er meinte, so eine Aufgabe fiele mir doch sicher ganz leicht. Ich hingegen konnte angesichts der anspruchsvollen Aufgabe und den Erwartungen der Zuhörerschaft schon leicht nervös werden. Die BTW-Teilnehmer rechneten ja mit dem renommierten Professor Encarnação als Redner – und sicher nicht mit einem Studenten, der ihnen irgendwelche von einem Monitor abfotografierte bunte Dias zeigen würde.

Es war wohl so etwas wie mein »Bundesliga-Debut«. Ich war 25 Jahre alt und trug zur BTW-Abendveranstaltung einen Anzug mit Krawatte. Detlef Krömker hatte mir noch mitgegeben: »Lerne die ersten paar Sätze des Vortrags auswendig. Das darf den Zuhörern aber nicht auffallen. Ist erst mal der Anfang gut gegangen, dann läuft der Rest auch. Dann kann kommen, was will«. Der Anfang ging gut, und so lief der ganze Vortrag generell ganz gut. Eine gemeinsame Intentionalität mit dem Publikum war spürbar, und es gab großen Applaus. Bei der Darmstädter BTW-Tagung waren im Publikum die fortschrittlichen Kräfte offenbar in der Überzahl. A small step for mankind, a giant leap for a man.

Ein Merkmal der entwickelten Informationsgesellschaft ist die Ubiquität und Selbstverständlichkeit von digitalen Bildern. So gesehen stand das Raffael-Projekt am Anfang einer fabelhaften Entwicklung, nämlich der Popularisierung der Computergraphik und des Computergraphischen Realismus. Ein Zeichen dieser beginnenden Popularisierung sollte in den Jahren 1987 bis 1989 eine quasi »Deutschland-Tournee« sein, die dem Auftritt an der BTW-Tagung folgte. Ich erhielt viele Einladungen zu Vorträgen, das Raffael-Projekt zu präsentieren.

Professor Dr.-Ing. Dr. h.c. Dr. E.h. José Luis Encarnação, Darmstadt und Berlin

Exkurs – Das Raffael-Projekt und die Anfänge der »Computer Graphics Art«

Wenn ich das alles so lese, so erinnere ich mich an die Ursprünge und an den Sinn und Zweck des »Raffael-Projektes« sowie an die Rolle, die mein damaliger Student Georg Rainer Hofmann dabei spielte.

Die internationale Hauptkonferenz und Messe für das Fachgebiet der Graphischen Datenverarbeitung war damals – und ist immer noch – die der »Special Interest Group on Graphics and Interactive Techniques« (SIGGRAPH) der »Association for Computing Machinery» (ACM). Sie findet jährlich in den USA statt und hat eine weltweit richtungsweisende fachliche Bedeutung. So um das Jahr 1985 begann man sich bei der SIGGRAPH-Konferenz auch mit dem Bereich »Kunst und Kultur« als ein weiteres Anwendungsgebiet der Computergraphik zu beschäftigen. Die sogenannte »Computer Graphics Art« wurde zu einem neuen Segment der SIGGRAPH-Veranstaltungen. Man begann unter anderem zu zeigen, wie Künstler Computergraphik als Werkzeug für die Generierung und Umsetzung ihrer Ideen und Kunstwerke verschiedenster Art nutzen könnten. Diese neuen Technologien konnten aber auch eingesetzt werden als Werkzeug zur allgemeinen Analyse, Interpretation, Bewertung, Vergleichbarkeit und Einordnung von Werken im Kunst- und Kultur-Bereich. Ich war sozusagen ein »Follower« dieser Entwicklung und wollte auch in Darmstadt in diese Richtung aktiv werden.

Für das Großprojekt des Jahres 1986, das interdisziplinäre Symposium zum Thema »Symmetrie«, hatte die Stadt Darmstadt den Schweizer Guerino Mazzola als wissenschaftlichen Leiter gewinnen können.

Im Sommer 1985 wurde Mazzola bei mir vorstellig. Er präsentierte mir seine Sicht und sein Interesse an Raffaels Fresko »La scuola di Atene –Die Schule von Athen«. Er erläuterte mir auch, dass dieses Schlüsselwerk der italienischen Renaissance durch die geometrische Präzision der perspektivischen Ansicht und der Gestik der darin dargestellten Philosophen bestach. Mazzola hatte als Vision vor, die im Fresko dargestellte Szene als ein dreidimensionales Modell im Computer zu realisieren, um dann quasi neue Perspektiven und Ansichten der von Raffael dargestellten Szene zu berechnen, zu visualisieren. Durch diese Simulation wollte er zu neuen Erkenntnissen bezüglich einer inneren Struktur und Symmetrie des Freskos gelangen. Damit war die Idee geboren, ein »Raffael-Projekt« am Fachgebiet GRIS durchzuführen. Die Frage war jetzt »nur noch« die der technischen Umsetzung eines solchen Projektes.

Das Raffael-Projekt fiel in die Zeit, als ich mich mit den ersten Planungen für das »Fraunhofer-Institut für Graphische Datenverarbeitung« (IGD) in Darmstadt beschäftigte. Es sollte dort mit Beginn des Jahres 1987 eine Abteilung geben, die »Animation und Simulation« hieß. Diese Abteilung sollte von Detlef Krömker geleitet werden und sie sollte sich mit der Erforschung der computergenerierten realistischen Bilder und Filme beschäftigen, die als Basis räumliche Szenen mit dreidimensionalen Objekten hatten. Das »Raffel-Projekt« war daher wie geschaffen und kam wie gerufen, um eine der Grundlagen für die Forschungsrichtung dieser künftigen Abteilung zu sein.

Damit konnte ich zudem ein taktisches Ziel verfolgen, mich, ähnlich wie bei ACM-SIGGRAPH, in meinem Institut auch mit der neuen »Computer Graphics Art« zu beschäftigen. Es war deswegen nur konsequent und zielführend, dass die Abteilung »Animation und Simulation« mit Beginn des Jahres 1987 am IGD eingerichtet wurde. Unter den ersten wissenschaftlichen Mitarbeitern (WissMA) war Georg Rainer Hofmann, der bei der Durchführung des »Raffael-Projektes« einen hervorragenden Job gemacht hat.

Das von Mazzola vorgeschlagene »Raffael-Projekt« kann auch gesehen werden als der Anfang einer Entwicklung, nämlich der »Popularisierung« der Computergraphik. Es war ein historischer Einstieg in den Anwendungsbereich »Kultur und Kunst« und den Computergraphischen »Realismus«, als Darstellung und Verarbeitung von computergenerierten realistischen Bildern und Filmen. In den Jahren 1987 bis 1989 wurden die eindrucksvollen Ergebnisse des »Raffael-Projektes« einer breiten, auch nicht-fachlichen Öffentlichkeit präsentiert. Um diese Verbreitung der im Projekt erzielten, sehr interessanten Ergebnisse noch weiter zu verstärken, hatte ich mich erfolgreich beim Springer-Verlag in Heidelberg dafür eingesetzt, dass dort eine Monographie über das »Raffael-Projekt« erscheint. Die Autoren waren Guerino Mazzola, Detlef Krömker und der Student Georg Rainer Hofmann.

Damit hatte das »Raffael-Projekt« meine Absichten und die damit verbundenen Erwartungen bereits mehr als voll erfüllt, nämlich das Erschließen und Ermöglichen von neuen Anwendungen für die Graphische Datenverarbeitung, als Informatik-Werkzeug und als »Enabling Technology« im Bereich Kunst und Kultur. Das Projekt hat gezeigt, wie wertvoll die Methoden, Techniken und Systeme dieser Informatik-Disziplin sind, um Visualisierungen, Analysen, Simulationen und Animationen rechnergestützt für Kunst- und Kulturschaffende zu ermöglichen und zu realisieren.

Das »Raffael-Projekt« hat in den 1980er-Jahren sicher eine Pionierrolle gespielt und wurde zu einem der »Enablers« dieser Entwicklung. Es war dahingehend sehr erfolgreich und hat damit seinen Zweck voll erfüllt. So gesehen zählt mein ehemaliger Student Georg Rainer Hofmann aus meiner Sicht zu den Pionieren der »Computer Graphics Art«. Gerne habe ich auch sein, dieses hier vorliegende, Buchprojekt unterstützt, in dem er über vier Jahrzehnte der Entwicklung der Informationsgesellschaft aus seiner Sicht und auf der Basis seiner persönlichen beruflichen Erfahrungen berichtet.¶

Aus einer philosophischen Sicht haben wir damals gelernt, dass der geisteswissenschaftlichen Methode des »Perspektivenwechsels« durchaus eine mathematisch-technische Komponente entspricht. Guerino Mazzolas Interpretation des kategorientheoretischen Yoneda-Lemmas »Verstehen heißt Perspektiven ändern und sammeln« war ein wichtiges – und technisch realisierbares – Element geworden. Dieser Umstand sollte uns auch künftig noch intensiv beschäftigen.

Ich hatte damals ein großes Interesse an einem eiligen Studium, denn ich wollte möglichst bald meine semi-professionelle Hiwi-Tätigkeit durch eine »richtige« Berufstätigkeit ersetzen. Im Herbst 1986 war dann nach acht Semestern das Studium der »Informatik mit Nebenfach Volkswirtschaftslehre und Wahlfach Philosophie« an der THD beendet.

Computer machen Musik in Wien und in Zürich (1987 – 1988)

Die große Mathematische Musiktheorie wird durch einen kleinen Computer namens »MDZ71« aus Darmstadt unterstützt. Dieser MDZ71 wird in Wien von Herbert von Karajan gelobt, und er gibt auch ein Konzert in Zürich.

Das Darmstädter Institut GRIS von José Luis Encarnação hatte in Mitte der 1980er-Jahre enorm an internationaler Bedeutung gewonnen. Das war vor allem den Beiträgen zur Entwicklung – und internationalen Etablierung – eines der ersten internationalen ISO-Standards für Informationstechnik, dem »Graphical Kernel System« (GKS) zu verdanken. Dieser Standard mit der Nummer ISO/IEC 7942 war ein »Application Programming Interface« (API) für die Darstellung und Interaktion mit vor allem zwei-dimensionalen Vektorgraphiken. Pixel-basierte Rasterbilder spielten nur eine Nebenrolle. Das GKS war unabhängig von Hardware-Plattform und Programmiersprache definiert. Die Arbeiten am GKS brachten GRIS eine hervorragende internationale Vernetzung und eine erhöhte Aufmerksamkeit für Auftragsforschungsprojekte sowohl der öffentlichen Hand als auch der gewerblichen Wirtschaft.

José Luis Encarnação hatte die Bedeutung der Arbeiten von GRIS für die akademische Forschung und für Anwendungen in der Wirtschaft absolut treffsicher erkannt. Er betrieb bereits im Jahr 1984 die Gründung des Vereins »Zentrum für Graphische Datenverarbeitung e.V.« (ZGDV). Geschäftsführer des ZGDV wurde Herbert Kuhlmann. Damit griff Encarnação an der THD eine bereits aus den USA bekannte Idee auf. Das ZGDV war als ein »Industrial Programme« dafür da, den Dialog und Wissenstransfer mit prospektiven Projektpartnern aus der Wirtschaft zu intensivieren und zu institutionalisieren. Dieser Grundgedanke sollte Jahre später im Sinne des systematischen »Wissenstransfers« der Hochschulen eine konsequente Weiterentwicklung erfahren.

Es verwundert nicht, dass auch die »Fraunhofer-Gesellschaft zur Förderung der angewandten Forschung e.V.« auf GRIS und das ZGDV aufmerksam wurde. Die Fraunhofer-Gesellschaft hatte ihre Zentralverwaltung in München, die eigentliche Facharbeit wurde in Dutzenden von dezentral lokalisierten und organisierten Instituten ausgeführt. Nach entsprechenden Verhandlungen und Vorbereitungen nahm zu Beginn des Jahres 1987 die »Fraunhofer-Arbeitsgruppe (für) Graphische Datenverarbeitung« (FhG-AGD bzw. AGD) in Darmstadt ihre Arbeit auf. Die Existenz der AGD war seitens der Fraunhofer-Zentralverwaltung zunächst auf fünf Jahre befristet, sozusagen zur Bewährung. Die Frage war, ob diese »Graphische Datenverarbeitung« einen nachhaltigen Auftragsforschungsmarkt finden würde.

Für die personelle Ausstattung der neuen AGD suchte der – nun frisch gebackene – Fraunhofer-Institutsleiter Professor Encarnação natürlich Mitarbeiter. Er konnte vier Abteilungsleiter für die AGD gewinnen, einer davon war Detlef Krömker. In seiner Abteilung »Animation und Simulation« sollte es um die Erforschung computergenerierter realistischer Bilder und Filme auf der Basis räumlicher Szenen gehen. Das Raffael-Projekt war eine erste Grundlage für diese Forschungsrichtung. So wurde ich mit Beginn des Jahres 1987 ein wissenschaftlicher Mitarbeiter, abgekürzt »WissMA«, bei der AGD, in der Abteilung von Detlef Krömker. Ich blieb also auch nach dem Studium in Darmstadt.

Der »speed of life« in der entstehenden Informationsgesellschaft nahm deutlich zu, die Zahl der Studierenden am Institut GRIS wuchs erheblich. Wir WissMA vertraten Professor Encarnação manchmal in seinen Vorlesungen und Seminaren, denn er konnte den akademischen Lehrbetrieb an der TH Darmstadt unmöglich noch selbst und allein erledigen. Und so kam es – nach meinem eiligen Studium – zu der einigermaßen absurden Situation, dass Kommilitonen, mit denen ich vor einigen Wochen noch gemeinsam die Bank im Hörsaal gedrückt hatte, mir nun als Hörer in den Vorlesungen und Seminaren gegenüber saßen.

Guerino Mazzola war nach dem Ende der Symmetrie-Ausstellung am Sonntag, 24. August 1986, um exakt 18:00 Uhr, demonstrativ pünktlich und sofort aus Darmstadt nach Zürich abgereist. Ich habe in der Rückschau schon den Eindruck, dass sein intellektueller Anspruch nicht immer für eine gedeihliche Arbeitsatmosphäre in der Darmstädter Kulturszene gesorgt hat. Ich hielt weiter zu ihm persönlichen Kontakt. Ab und an gab es ein Telefonat. Man sollte die Wichtigkeit und die Rolle des sozialen Kontextes für eine erfolgreiche akademische Projektarbeit keinesfalls unterschätzen. Ich würde nach all den Jahren durchaus die Meinung vertreten, dass ein funktionierendes Projektteam eher eine sinnvolle Projektaufgabe findet, als umgekehrt, dass sich für eine gegebene Forschungsaufgabe ein sozial funktionierendes Projektteam finden lässt.

So gegen Ende des Jahres 1986 stellte Guerino Mazzola eine neue Projektidee vor. Es sollte ein Musikcomputer mit einem »Graphical User Interface« (GUI) gebaut und »Music Designer MDZ71« genannt werden. Damit hatten wir bei der AGD einen der ersten Projektaufträge, gar einen internationalen, nämlich aus der Schweiz. Mazzola hatte für sein MDZ71-Projekt einen Sponsor finden können. Das war Toni Hauswirth, »a truly international business man«, der auf einer Insel in der Südsee lebte. Er fiel bei den bodenständigen Fraunhofer-Kollegen auf, weil er als Rechnungsadresse ein Postfach in Panama City angab. Einige Jahre später war er der Sponsor der Nationalmannschaft der Fidschi-Inseln bei den Olympischen Winterspielen im Jahr 2002 in Salt Lake City – never mind.

Man konnte im Laufe des MDZ71-Projekts den Eindruck gewinnen, Guerino Mazzola sei ein Jünger des Pythagoras. Er war gleich diesem davon überzeugt, dass sich im Prinzip große Teile der Welt, und gar schon Teilbereiche der Musik, mit mathematisch-topologischen Strukturen beschreiben lassen müssten. Er hatte bereits 1985 das Buch »Gruppen und Kategorien in der Musik« publiziert. Der MDZ71 sollte das darin entwickelte, sehr radikal-generelle Verständnis von Tonereignissen aufgreifen. Die Dimensionen der Töne waren Höhe, Dauer, Einsatzzeit, Klangfarbe, die entsprechend parametrisiert die Elemente einer Partitur sind. Tonereignisse sollten in dem dadurch aufgespannten multi-dimensionalen »Raum der Töne« mit beliebigen geometrischen Abbildungen und Operationen in allgemeiner Form manipulierbar sein.

Mazzola hatte schon als Kind klassischen Klavierunterricht und seit den 1970er-Jahren trat er auch im Metier des »Free Jazz« auf. Diese »Mathematische Musiktheorie« von Guerino Mazzola war mir sofort sehr sympathisch, hatte ich doch seit meinem elften Lebensjahr Unterricht in Trompete und war bei einem Posaunenchor in der Nähe meines Wohnorts, im Nachbarort Breuberg, in der Kirchmusik engagiert. Von daher wusste ich durchaus, was eine Partitur ist. Mein generelles Interesse an Neuer und Elektronischer Musik war ebenfalls sicher kein Nachteil für das MDZ71-Projekt.

Die Basis der Entwicklung des MDZ71 sollte das »Musical Instrument Digital Interface« (MIDI) sein. Das MIDI war – und ist – ein Industriestandard, damals vor allem unterstützt vom Synthesizer-Hersteller Roland. Mit MIDI können Steuerinformationen zwischen elektronischen Instrumenten-Komponenten, wie Keyboards oder Synthesizern, ausgetauscht werden. Die MIDI-Daten sind lediglich »symbolische« Steuerdaten, keine digitalen Audiosignale. MIDI-Daten modellieren etwa die Betätigung von Keyboard-Tasten und können an einen Synthesizer gesendet werden, der das geforderte Tonereignis dann produziert, was wiederum über einen Lautsprecher hörbar gemacht werden kann. MIDI-Daten sollten im MDZ71 als Partitur visualisiert und fast beliebig editiert und transformiert werden können, um etwa Töne auf die andere Tonhöhe oder Einsatzzeit zu bringen oder ihnen eine andere Klangfarbe zuzuweisen.

Für den Aufbau des MDZ71 war im Jahr 1987 ein kleiner PC namens »Atari ST« der Firma »Atari Corporation« ideal. Dieser hatte standardmäßig eine MIDI-Schnittstelle. Der Atari ST hatte außerdem ein Basissystem »Graphics Environment Manager« (GEM), das die Programmierung einer graphischen Bedienoberfläche für den MDZ71 ermöglichte. Die Graphik war allerdings nur schwarz-weiß, mit einem Bit pro Pixel.

In den Jahren 1987 bis circa 1989 gab es zwar schon E-Mail und die AGD konnte sie auch benutzen, das brachte aber nicht viel, weil man dafür noch zu wenige Kommunikationspartner hatte. Die kritische Anzahl der E-Mail-Teilnehmer war noch nicht erreicht. Eine Fraunhofer-Visitenkarte aus diesen Jahren führte noch keine E-Mail-Adresse auf, wohl aber eine Telex-Nummer. Die allermeisten Arbeitsunterlagen wurden im MDZ71-Projekt zwischen Zürich und Darmstadt per Briefmarkenpost zugeschickt. Ein modernes Echtzeit-Kommunikationsmittel war damals das Telefax, das man aber nur für Dokumente von wenigen Seiten Umfang gebrauchen konnte.

Die Deutsche Bundespost bot sogar einen Schnellbrief-Dienst an, den »Teletex-Brief«. Dazu konnte man als Absender von einem Postamt aus einen Brief per Fax an einen Empfänger schicken, der selbst kein Fax haben musste. Die Post suchte ein Postamt in der Nähe des Empfängers. Dorthin wurde das Fax geschickt, und dann der Thermopapier-Ausdruck dem Empfänger im Briefumschlag per Postboten zugestellt. Wir hatten damals bei der AGD für das Posttechnische Zentralamt (PTZ) in Darmstadt ein kleineres Projekt im Umfeld des Teletex-Briefs. Es ging darum, Monitore für die Darstellung von diesen Teletex-Briefen auszusuchen, um diese Dokumente ohne Ausdruck – von Postamt zu Postamt – weiterleiten zu können. Das Problem war als Gegenstand der Angewandten Forschung schon interessant, weil anscheinend niemand bis dahin auf den Gedanken gekommen war, ein Fax auf einem Bildschirm darstellen zu wollen.

Für den Musikcomputer MDZ71 wurde der Atari ST über das MIDI-Protokoll mit einem Yamaha-Synthesizer TX802 verbunden, der die – damals hochmoderne – Frequenz-modulierte Synthese von Tönen ermöglichte. Der TX802 realisierte damit die Klangfarbe von Tonereignissen als Elemente eines unendlich-dimensionalen Funktionenraums. Für die Implementierung der eigentlichen MDZ71-Software konnte ich meinen ehemaligen Kommilitonen Christof Blum gewinnen, der damit seine Diplomarbeit realisierte. Für den MDZ71 wurde eine Verallgemeinerung »Score« des bekannten Prinzips der Partitur programmiert. Die Parameter der Tonereignisse wurden als geometrische Parameter modelliert und dargestellt. Es war dann möglich – aber freilich nicht immer sinnvoll, etwa die Tonart eines Stücks zu verändern oder die Abspielgeschwindigkeit. Man konnte auch, einfach so, die Parameter komplett austauschen, etwa Einsatzzeit versus Tonhöhe, was dann eine aleatorisch anmutende Musik im Ergebnis ergab.