Ein großer Kampf war in Sieg und Glück beendet, ein deutscher Kaiser war glorreich gekrönt, dem Traum einer Nation war Erfüllung errungen – Tausende von kraftvollen Männern lagen zerschossen und verwesend unter blutgedüngtem Erdreich.
Von den Granatsplittern, die ihr Ziel nicht getroffen, verfertigte man Tintenfässer und niedliche kleine Blumenschalen, mit denen die jungen Damen ihre Boudoirs schmückten. Das Militär zu ehren war Recht und Pflicht des deutschen Mädchens.
Eugenie Wutrow hatte immer einen sicheren Instinkt für das Notwendige, für das Ziel, dem die öffentliche Meinung ihres kleinen Kreises zustrebte, sie trug einen Paletot, der beinahe ein Uniformrock war, ihr Zimmer glich einer Seitenabteilung des Zeughauses, die zu einem kriegerischen Feste mit Blumen und den Bildern der hohen Feldherren feierlich geschmückt worden war. Der Patriotismus stand ihr wie jede neue Mode und jede ideale Pflicht, womit sie ihre anmutige Person herausputzte. Sie hatte so einen besonderen Griff, durch den sie jedes Ding für ihren Gebrauch zurechtrückte, und einen feinen Geschmack für die Mischung der Farben.
Wie sie eifrig wurde und scharf und lebendig, wenn sie Martin Greffingers schauderhafte Grundsätze bekämpfte! Wie sie sich im Gespräch mit ihm keck auf Gebiete wagte, vor denen andere Mädchen sich fürchteten! Greffinger war gar nicht gut mehr bei den Vätern und Müttern angeschrieben, seit die Regierungsrätin Heidling ihren Bekannten geklagt hatte, ihr Neffe bereite ihnen großen Kummer, weil er sich den neuen sozialdemokratischen Anschauungen zuneige. Die meisten jungen Mädchen zogen sich, auf Befehl ihrer Eltern, scheu vor dem Studenten zurück. Das wurde ihnen nicht schwer, da er sich seinerseits ziemlich unhöflich gegen sie benahm.
Trotz seiner Abneigung gegen die bürgerliche Gesellschaft kam Martin oft für ein paar Stunden, auch für ganze Tage nach M. hinüber. Anfangs nahm er Heidlings Logierstube und Gastfreundschaft in unbekümmerter verwandtschaftlicher Gewohnheit an. Da verschärfte sich die Spannung zwischen ihm und dem Onkel Regierungsrat, die Luft wurde ihm zu beklommen, und er ließ sich nur selten noch bei den Verwandten blicken. Zu Wutrows ging er jedes Mal, obwohl die Ansichten des alten Tabaksfabrikanten sicher nicht volksfreundlicher waren, als die des Regierungsrats.
Einmal warf Eugenie im Gespräch mit Agathe die Bemerkung hin: ihr Vetter wandle auf gefährlichen Bahnen, aber er sei ein genialer Mensch. Ein anderes Mal fand Agathe auf dem Schreibtisch ihrer Freundin ein Buch mit roter Inschrift auf schwarzem Deckel. Eugenie riss es ihr hastig aus der Hand.
»Polizeilich verboten!« flüsterte sie lachend und schob es unter die Spitzen und Bänder in einer geschnitzten Truhe.
Dann wieder konnte Martin übermütig bis zur Tollheit sein, und trieb, wenn er kam, nur Neckereien und Scherze mit den beiden Mädchen. Wochenlang trug er eine kleine Pelzkappe, die er Eugenie geraubt hatte, und auf deren blondem Kopfe konnte man den Knockabout von Martin Greffinger bewundern. Traf er die Offiziere der Garnison bei Wutrows, so saß er finster und mürrisch in einer Ecke. Eugenies geschickteste Versuche bewogen ihn nicht, an einer Disputation über seine entsetzlichen Ansichten teilzunehmen. Meistens entfernte er sich gleich.
Agathe war überzeugt, dass Eugenie ihn liebe.
Sie selbst musste fortwährend die Frage bei sich erwägen, wie ihr zu Mute sein würde, wenn Referendar Sonnenstrahl oder Lieutenant Bieberitz oder der junge Dürnheim um ihre Hand anhielte? Und was sie wohl empfinden würde, wenn sie mit einem von diesen Herren nach der Trauung am Abend allein an einem Fenster stehen und an seiner Schulter gelehnt in einen dunklen Park hinausblicken würde? So war die Vorstellung, die sie sich unwillkürlich vom Beginn der Ehe machte. Hinter ihnen brannte eine Hängelampe, und dunkelrote Gardinen flossen an den Fenstern nieder. Sie nahm den Kranz und den Schleier ab, und er löste seine weiße Kravatte – und dann würde er komisch aussehen! Darüber kam sie nicht hinweg, und das Gefühl eines großen Glückes wollte sich nicht einstellen.
Vielleicht war sie überhaupt nicht zur Ehe bestimmt, sondern ausbewahrt für ein seltsames, romantisches, schauervolles Schicksal?
Hätte sie nur kleine Kinder nicht so gern gehabt!
Der Regierungsrat Heidling interessierte sich als vielseitig unterrichteter Mann auch für die Kunst und wirkte mit anderen gebildeten Freunden für die Einrichtung einer ständigen Ausstellung älterer und neuerer Gemälde in M. Er sorgte dafür, dass seine Tochter diese Anstalt eines reinen, erhebenden Genusses, nachdem sie dem Publikum geöffnet war, fleißig besuchte. Gern ging er selbst am Sonntag Vormittag mit ihr auf ein Stündchen dorthin und knüpfte manche lehrhafte Bemerkung über die verschiedenen Richtungen der Malerei und der Plastik an das Geschaute. Agathes Geschmack wich oft sehr weit von dem ihres Vaters ab, aber er war ja eben ungeübt und kindisch und sollte sich verfeinern. Es wurde ein Sport bei den jungen Mädchen, sich Sonntags zwischen zwölf und eins um den Regierungsrat zu versammeln, mit ihm von Bild zu Bild ziehend, lachend, schwatzend, sich ihre ketzerischen Bemerkungen in die Ohren tuschelnd und zugleich andächtig zuhörend. Der Blick des ernsten Mannes ruhte dann freundlich auf all den in knappen Pelzjäckchen und flockigen Mützen gekleideten Gestalten, den belebten, von Jugend- und Winterluft frischen Gesichtern.
»Lord Byron in Newstead Abbey«, las der Regierungsrat aus dem Kataloge hervor. »Wann geboren? Welche Hauptwerke? Kain – Childe Harold – gut! Was haben Sie von ihm gelesen? Gefangener von Chillon? Mit den anderen Sachen können Sie noch warten! … Sehen Sie, wie ausgezeichnet unser Maler den schwärmerisch-düsteren Ausdruck des Poeten getroffen hat … Die nervösen Hände – sehr fein! – Auch der gotische Säulengang … Die Hinneigung zur Romantik wird durch das verglimmende Abendrot angedeutet. In der Ecke lehnend die Fahne mit den griechischen Farben … Symbol eines zukünftigen Schicksals – Agathe – wie starb Byron? – Missolunghi – richtig. – – – Hier haben wir nun … Lassen Sie sehen, was der Katalog sagt: Kühe im Grünen … Das Werk eines Meisters der französischen Schule aus den vierziger Jahren …«
Agathe war zurückgeblieben. Mit schwermütig erstaunten Augen träumte sie von dem englischen Lord. – Sie hatte doch früher schon Bilder von ihm gesehen … Was ergriff sie denn plötzlich?
Am nächsten Morgen ging sie wieder in die Ausstellung. Nur für ihn.
Sie blickte so lange, so starr und intensiv auf das Gemälde, bis sie den schönen Männerkopf wie in verkleinertem Abbild deutlich vor den geschlossenen Augen sah. In der Woche war die Ausstellung meist leer und niemand konnte Agathe beobachten. Das Bild nahm ein seltsames Leben für sie an. Es war dem Künstler gelungen, etwas von der Macht, die der Dichter zu seiner Zeit auf die Frauen geübt, in dieses gemalte Antlitz zu bannen. Das Mädchen schlich zu ihm, wie zu einem verbotenen Genuss, sie berauschte sich an der Sehnsucht, die nun ein Ziel gefunden hatte, bei dem sie doch immer Sehnsucht bleiben konnte.
Zu Haus las sie Byrons Werke – alle, vom Anfang bis zu Ende. Die Freude daran war schon schmerzliche Leidenschaft. Vieles erfuhr sie hier, aber die natürlichen Beziehungen der Geschlechter zu einander erschienen in einer wilden Gewitterstimmung, durch die ihr dann doch alles wieder den Eindruck eines fantastischen Märchens machte.
Sie weinte vor Eifersucht, als sie aus der Biografie Byrons Verhältnis zur Gräfin Guiccioli erfuhr. Aber keine von den Frauen, an die er sein glühendes Herz verschwendete, hatte ihn befriedigt. Keine … Das war ein Trost!
Das Glück, die heitere Götter-Ruhe, die dem Genius, wie seine Kritiker sagten, gefehlt, um ihn zu einem Klassiker zu machen – Agathe Heidling hätte sie ihm gebracht! – Da wurde ihr nun die Melancholie klar, die sie oft so rätselhaft überschattete.
Ein halbes Jahrhundert zu spät geboren … Die Romantik dieses Geschickes genügte ihr endlich. Sie beruhigte sich gewissermaßen dabei. Unter der Oberfläche ihres Daseins begann ein sonderbares Traumleben. Sie richtete sich häuslich ein in der neuen fantastischen Heimat, in die sie fortan ihre tiefsten Freuden, ihre geheimnisvollen Leiden verlegte – tote Kinder sich wohl eine zweite Welt schaffen, der sie irgend einen barocken Namen geben und an deren Ausgestaltung ihre Gedanken unaufhörlich tätig sind, und Eltern oder Erzieher wundern sich dann, dass sie den Aufgaben des Hauses und der Schule nur ein schwaches Interesse entgegenbringen.
Während Fräulein Heidling Bälle, Kränzchen, Landpartien und Sommerfrischen besuchte – während sie Schlittschuh lief, Kotillonorden verteilte, sich reizende Frühjahrshüte aussuchte, Stahlbrunnen trank und Stickereien anfertigte, wurde sie zugleich an der Brust des toten Dichterlords auf rasend sich bäumendem Renner über Schottlands öde Haiden entführt, – da lag sie in orientalischen Maskenkostümen auf Ruhebetten in verfallenen Hallen, und zu den Klagetönen einer Harfe sangen Geisterstimmen von dunkler Schuld und wildem Leiden. Durch unerhörte Entsagung entsühnte sie den Geliebten – und er weinte zu ihren Füßen und seine Augen waren tote lodernde Flammen …
*
Im nächsten Jahre wurde Walter als Lieutenant nach M. versetzt. Seine Kameraden und Agathes Freundinnen gingen bei Heidlings ein und aus, es war dort immer ein fröhliches Treiben.
Manchmal kam es freilich zu unangenehmen Auftritten, wenn der Regierungsrat plötzlich seiner Frau und Tochter heftige Vorwürfe über ihre Verschwendungssucht im Haushalt machte und erklärte, er habe kein Geld zu dieser ausgebreiteten Geselligkeit. Aber gleich darauf meinte er wieder, Agathe müsse neue Stiefel haben, oder er braute eine Bowle, wenn sich sechs bis acht junge Leute zum Abend einfanden und nur Kartoffel und Häring essen wollten.
Es war dem Regierungsrat anfangs schwer geworden, von den Traditionen seiner Familie abzuweichen und den Sohn nicht Jura studieren zu lassen. Am Offizierstande haftete in seinen Augen ein unechter oberflächlicher Glanz. Walter hatte die jahrelang nachklingende Begeisterung von 1870 benutzt, um den Vater seinem Wunsche günstig zu stimmen. Der Regierungsrat sah jetzt, dass auch sein Sohn strenge arbeiten musste, wenn er vorwärts kommen wollte. Es war ein eifriges Streben unter den jungen Leuten, jeder suchte sich im neuen Reich einen eigenen guten Platz zu erobern. Walter und seine Freunde lachten viel über Martin Greffingers zornige Kritik der frisch errungenen Herrlichkeit.
Walter war kaum drei Monate in M., als er sich mit Eugenie Wutrow verlobte. Das kam selbst seiner Familie überraschend. Agathe hatte angenommen, Eugenie sei mit Martin heimlich versprochen. Wenige Tage vorher, bei einem gemeinsamen Spaziergang, der mit Kaffeetrinken in einem öffentlichen Garten endete, hatte sie zu sehen geglaubt, wie Martin unter dem Tisch nach Eugenies Hand fasste, und das Mädchen ließ sie ihm. Dabei tauschte sie, den Kopf in die Rechte gestützt, über den Tisch Neckereien mit Walter.
Sobald Agathe mit der Braut allein war, konnte sie nicht unterlassen, die Bemerkung hinzuwerfen:
»Ich glaubte, es wäre Martin, den Du gern hättest!«
»Einen sozialdemokratischen Studenten?« fragte Eugenie vorwurfsvoll. »Aber Agathe –! Den heiratet man doch nicht! – Und übrigens hasst er ja auch die Ehe«, fügte sie mit ihrem frivolen kleinen Lachen hinzu.
Ein Gefühl von Abneigung, von Verachtung gegen die neue Schwägerin peinigte Agathe, während ihr alle Bekannte Glück wünschten, weil ihr Bruder die liebste Freundin zur Frau wählte. Sie meinte, es sei ihre Pflicht, Eugenie noch einmal ernstlich zur Rede darüber zu setzen, ob sie Walter auch wirklich liebe. Aber nach dem ersten missglückten Versuch fand sie nicht den Mut. Was hätte Eugenie auch bewegen sollen, sich mit Walter zu verloben? Sie war ein reiches Mädchen und hatte schon verschiedene Anträge ausgeschlagen.
Die beiden Freundinnen berichteten sich getreulich jede Kleinigkeit ihres täglichen Lebens. Sie würden es sehr übel genommen haben, wenn eine von ihnen sich eine Schleife gekauft hätte, ohne die andere um Rat zu fragen und längere Verhandlungen darüber zu pflegen. Was aber im Innern ihrer zukünftigen Schwägerin vor sich ging, blieb Agathe eine so fremde Welt, wie es Eugenie ihr fantastisches Traumleben gewesen wäre. Jede hütete ängstlich die eigenen Geheimnisse.
Zur Zeit, als die Kinder noch klein waren, hatte Frau Heidling nach dem Tode ihrer Schwiegermutter deren Köchin ins Haus genommen. Schon damals hieß sie die alte Dorte. Mit den Jahren hart und dürr geworden, gleich einem verwitterten Zaunstecken, und von galliger Gemütsart, arbeitete sie für die Familie mehr in zähem Eigensinn als in linder Treue. Wie oft sie schon gekündigt hatte und trotzdem geblieben war, konnte niemand mehr nachrechnen. Hörte man sie in der Küche vor sich hinbrummen und schelten, so musste man ihren Ausdrücken nach die Überzeugung gewinnen, ihre Herrschaft gehöre eigentlich in ein Narrenhaus. Den jungen Stubenmädchen, die ihr zur Hilfe gehalten wurden, bezeigte Dorte gleichfalls die grimmigste Verachtung und wurde von ihnen sehr gefürchtet; denn die alte Dorte war unermüdlich in der Arbeit und verlangte von den jungen Dingern das Gleiche. Deshalb beneideten die Rätinnen sämtlich Frau Heidling um den Schatz, den sie in der alten Küchendorte gefunden.
Ein Ehrgeiz hatte sich in dem verdorrten Gemüt der alten Magd herausgebildet. Sie wollte die Belohnung für fünfundzwanzigjährige Dienstleistung in ein und derselben Familie erwerben. Die Königin schenkte in solchen seltenen Fällen ein silbernes Kreuz und eine Bibel.
Und weil die Rätin Heidling Dortes Hoffnungen teilte, ja, weil im Grunde diese öffentliche Anerkennung der Herrin ebensoviel Ehre brachte, als der Dienerin, darum behielt sie sie geduldig im Haus, obwohl Dorte sich durchaus nicht geneigt erwies, Agathe Einblicke in ihre Kunst zu gestatten.
Konnte Agathe von Dorte nichts lernen, so nahm sie sich desto eifriger der Erziehung des kleinen Hausmädchens an, welches mit ihr zusammen konfirmiert worden war. Pastor Kandler hatte ihr die Verantwortung für das unverdorbene Landkind warm ans Herz gelegt. Sie gab also Wiesing Groterjahn am Sonntag Nachmittag Geschichten von Frommel und Marie Nathusius zu lesen, und hielt ihr kleine moralische Vorträge über die Schädlichkeit und die Gefahren der Tanzböden. Während Frau Regierungsrat es passender fand, das Mädchen Luise zu rufen, obwohl dem heimwehkranken Kinde anfangs jedes Mal die Tränen in die Augen schossen, nannte Agathe sie nach wie vor mit der traulichen Abkürzung »Wiesing«. Nahmen sie zusammen eine Arbeit vor, so unterhielt sie sich freundlich mit Wiesing und suchte ihr begreiflich zu machen, wie gut es für sie sei, in einem Hause zu dienen, wo keine Sorge und nichts von dem Elend, welches die Arbeiterinnen in Fabriken erwarte, an sie herantreten könne. Es bekümmerte Agathe zuweilen, dass trotz ihrer liebreichen Bemühungen Wiesing ihr kein rechtes Vertrauen zu schenken schien.
»Die Mädchen betrachten Euch als ihre natürlichen Feinde, und im Grunde haben sie recht darin«, hatte Martin einmal gesagt. Das konnte Agathe doch nicht verstehen.
Indessen interessierte sie sich nach und nach weit mehr für ihren imaginären Geliebten, als für die Seelenbildung des Hausmädchens, und bekümmerte sich nur noch um sie, wenn diese ihre Dienste brauchte.
»Fräulein«, sagte Wiesing eines Morgens, als sie Agathe warmes Wasser in ihr Schlafzimmer brachte, und dabei stand sie mit gesenkten Augen, »an meiner Tür is kein Riegel, könnte da nicht einer angemacht werden?«
»Ja – hast Du denn keinen Schlüssel?«
»Den hat der junge Herr abgezogen«, stotterte Wiesing.
»Der junge Herr? Was ist denn das für dummes Zeug! Du hast ihn sicher verloren!«
»Ne, Frölen!«
»Lüge nicht, Wiesing. Als ob Du jemals sagen würdest, wenn Du etwas zerbrochen oder verloren hast!«
»Ne, Frölen – ach mien leiwer Gott – ick wet mie jo gor nich mehr tau helpen!«
»Ich verstehe Dich gar nicht. Was willst Du denn – so rede doch hochdeutsch«, sagte Agathe ungeduldig und goss das warme Wasser in ihre Waschschüssel.
»De junge Herr – seggen Se man nix tau de Fru Regierungsräten – ik hew jo da ok nix von seggt, un Dorte die seggt, ik redte mir das man bloß ein!«
Das runde, kindische Gesicht des Mädchens verschwand in ihrer weißen Schürze, sie schluchzte erbärmlich.
Agathe sah sie erstaunt an. Plötzlich wurde sie dunkelrot.
»Walter hat Dich wohl nur erschrecken wollen«, sagte sie leise. »Ich will ihm sagen, dass Du solche Späße nicht magst!«
Wiesing hob das nasse Gesicht und sah Agathe mit verstörten blauen Augen hilflos an. »Fräulein – das war ja wull kein Spaß!«
»Ach, was denn sonst. Du dummes Ding. Denkst Du denn … mein Bruder ist ja verlobt!«
»Det hew ik den jungen Herrn ok seggt, he sullt sich de Sünd’ schämen, hew ik seggt. He wull un wull nich hören … Frölen, wenn he wieder kimmt – ik wet mie nich tau helpen!«
»Wieder kommt?« fragte Agathe, wie in einem beängstigenden Traum erstarrend. »Wo hat er Dir das gesagt?«
»In mien lütt’ Kammer.«
»Luise, Du lügst«, schrie Agathe zornig.
Das Mädchen schluchzte nur noch heftiger.
Agathe ging von ihr fort, an das andere Ende des Zimmers.
»Mein Gott – mein Gott!« stammelte sie nach einer Weile und wand die Hände in einander.
»Wiesing, wir wollen Mama nichts sagen«, flüsterte sie, ihre Tränen strömten dabei. »Mama könnte das nicht ertragen, sie ist ohnehin so kränklich – und sie hat Walter so lieb!«
»Jo Frölen!«
»Du musst aus dem Haus, Wiesing.«
»Jo Frölen!«
»Wie fangen wir das nur an?«
Wiesing antwortete nicht.
»Ich muss mit Walter reden. Mein Gott – das kann ich ja nicht – das kann ich ja nicht – Was ist denn nur über ihn gekommen!«
»So’n fiener jung’ Herr«, sagte Wiesing nachdenklich und trocknete sich die Augen.
»Zum Donnerwetter! wo sind nur meine Stiefel wieder! Luise!« rief Walter im Flur.
Die beiden Mädchen schraken zusammen und blickten sich erschrocken an.
»Er hat doch seinen Burschen zur Bedienung«, murmelte Agathe.
»Luise!« scholl des Lieutenants grollende Stimme aufs Neue über den Flur. Das kleine Hausmädchen lief in der Gewohnheit des Gehorsams hinaus.
Agathe horchte, mit einem Gefühl, als seien ihr die Glieder abgestorben, was draußen zwischen den beiden vor sich ging.
Walter sagte jedoch nur kurz und scharf: »Luise, rufen Sie mir den Burschen.« Wiesing antwortete mit ihrem mühsamen Hochdeutsch: »Ja, Herr Lieutenant.« Da war es Agathe plötzlich, als habe sie das eben Gehörte alles nur geträumt.
So leicht ging es doch nicht, sich darüber hinwegzusetzen.
Jetzt musste sie überlegen, ohne mit Rat unterstützt zu werden, ganz allein nach ihrem Ermessen, unter ihrer Verantwortung. Sie musste mit Walter reden, es gab keinen anderen Ausweg. Wenn sie das ihrem Vater sagte, es musste eine furchtbare Szene werden – etwas so Ehrloses würde Papa seinem Sohne nie und nie verzeihen.
Zuerst ging sie zu einem Schlosser und kaufte einen Riegel mit großen Krampen. Sie konnte kaum ihr Anliegen hervorbringen, denn sie meinte, man müsse ihr im Laden ansehen, zu welchem Zweck sie den Riegel brauchen wollte. Dann hämmerte sie ihn mit Wiesings Hilfe an deren Kammertür fest, zitternd in der Furcht, Mama möchte sie dabei treffen und fragen, was das zu bedeuten habe.
Wiesing hatte das Fenster in dem engen Raum seit dem Morgen noch nicht geöffnet, es war eine abscheulich dumpfe Luft darin. Schmutziges Wasser stand in der Schüssel, ausgekämmtes Haar und allerlei armseliger Plunder lag auf dem Boden herum. Und Walter – ihr peinlich sauberer, eleganter Bruder, in seiner glänzenden Uniform war hier gewesen … wie war es nur möglich?
Es schüttelte sie ein Grauen, ein Ekel.
Wie sollte sie Walter anreden? Er kam ihr vor wie ein Verworfener, zu dessen Gefühlen sie keine Brücke mehr fand. Auch wenn sie Wiesing ansah, empfand sie eine heftige Abneigung gegen das Mädchen, durch welches sie ihren Bruder verloren hatte.
Sie las in ihrem neuen Testament und betete um Kraft. Sie erinnerte sich, dass Pastor Kandler ihr einmal gesagt hatte: in jedem Menschen lägen die Keime zu allen Sünden verborgen. Sie wollte versuchen, ihrem Bruder in Liebe zuzureden. Sie hatte eine Empfindung, als tappte sie in die schwarze Finsternis und ergreife etwas Widerliches.
So quälte sie sich den ganzen Tag hin und wünschte, Walter möge so viel Dienst haben, dass eine Unterredung mit ihm unmöglich werde. O war sie feige!
Nachmittag kam Eugenie auf eine Viertelstunde. Als sie noch dasaß und Eugenie nicht wusste, was sie mit ihr sprechen sollte, trat Walter ein. Er war geritten, das krause Haar klebte ihm feucht an der Stirn. Er sah ein wenig verdrießlich aus. Doch küsste er Eugenie. Sie ordnete mit ihren hübschen, geschickten Fingern sein Haar, sah ihm mit ihrem kühlen, spöttischen Lächeln in die Augen und fragte: »Ärger gehabt?« Und dann strich sie leicht über seine Uniform, wie einst ihre Hände beruhigend über Agathes Schläfe geglitten waren, wenn diese Zahnschmerzen hatte, in der Pension.
Durch die Erinnerung kamen Agathes Gedanken auf den Kommis, der Eugenies erste Liebe gewesen, und auf das Zimmer mit den Zigarrenproben.
Ach, wenn sie doch hätte fortlaufen können – weit, weit fort von allen Menschen.
Eugenie nahm Abschied, Walter brachte sie hinaus. Der Vater machte seinen täglichen Spaziergang, Mama hatte ihn heute begleitet, weil sie einen Besuch damit verbinden wollten. Walter kam ins Zimmer zurück. Da war Agathe allein mit ihm, und nun musste sie reden, es half ihr niemand.
»Was machst Du nur heute für ein Gesicht? Eugenie fragte auch, was Dir wäre?« Damit begann Walter unvermutet das Gespräch. Sie nahm ihre Kraft zusammen – übrigens verstand er sie schon nach den ersten halblaut hingestammelten Worten.
Aber es kam ganz anders, als sie erwartet hatte! Er zeigte keine Spur von Scham oder Reue, wurde zornig, ging mit klirrenden Sporen im Zimmer hin und her und rief halblaut, vor Ärger heiser:
»Kümmere Dich nicht um Dinge, die Du nicht verstehst! Hörst Du? Hiervon verstehst Du garnichts. Keinen Schimmer! Darum hast Du auch kein Recht, abzuurteilen.«
»Ich verstehe, dass Du verlobt bist! Ich finde es ehrlos …«
»Untersteh’ Dich …!« Agathe sah die drohend erhobene Faust ihres Bruders vor ihren Augen.
»Schlag’ mich nur«, rief sie, »darum ist Dein Betragen doch ehrlos. O pfui – pfui – dass Du mein Bruder bist!«
Sie brach in leidenschaftliches Weinen aus. Er hatte seine Hand sinken lassen, aber er war jetzt ganz weiß und knirschte mit den Zähnen.
»Ich verbiete Dir, Dich in meine Angelegenheiten zu mischen – hörst Du? Du beträgst Dich nicht wie eine Dame, sondern wie ein exaltiertes Frauenzimmer. Es ist unpassend von Dir, an solche Dinge zu rühren! Verstehst Du mich?« Damit riss er die Tür auf und warf sie gleich darauf krachend zu.
Agathe saß eine Zeit lang still und betäubt von großem Kummer auf einem Stuhl.
Später am Abend fragte sie Wiesing, ob sie nicht zu ihren Eltern gehen könne, ob sie nicht sagen wolle, ihre Mutter wäre krank und brauche sie. Aber das kleine Hausmädchen schüttelte den Kopf und antwortete mit unbegreiflicher Ergebung: »Ach, wat meinen Frölen, – mien Modder wull mi schön schelten, wenn ik nach Hus käme. Un’ Dorte seggt ok, dat’s all gliek bei de Herrschaften. De jung’ Herr hat ja och woll bald Hochtied und dann kümmt he jo ok weg.«
Was konnte Agathe weiter tun? Sie hoffte, dass ihr Bruder einen Eklat fürchten würde. Aber sie hatte jeden Maßstab für die Berechnung der Möglichkeiten verloren.
Sie konnte sich nicht entschließen, Wiesing jemals wieder nach dieser Angelegenheit zu fragen, doch nannte sie sie von nun ab wie die Mutter »Luise« Es war für sie etwas Gemeines an dem Mädchen haften geblieben.