Read the book: «Lichtgesang»

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L i c h t g e s a n g

- Collage -

Gabriele Prattki veröffentlichte ihr erstes Buch Magische Momente Marokko mit eigenen Fotos 2011 im Selbstverlag. 2013 wurde das kunstvoll gestaltete Buch Der Tanz geht weiter – Gedichte und Bilder mit Werken der Malerin Inge Schnoor-Sturm bei epubli.de veröffentlicht, wo 2013 auch das E-Book Ein Teppich aus Andacht erschien.

Vom Engelsdorfer Verlag Leipzig wurde 2015 die Erzählung Namaste geht immer – Impressionen beim Reisen durch Indien herausgegeben und 2016 der Gedichtband Wolkenvögel und Schwarze Kristalle.

Mehr unter www.prattki.wordpress.com

Gabriele Prattki

LICHTGESANG

- Collage -

Engelsdorfer Verlag

Leipzig

2018

Bibliografische Information durch die Deutsche Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar.

Copyright (2018) Engelsdorfer Verlag Leipzig

Alle Rechte beim Autor

Hergestellt in Leipzig, Germany (EU)

www.engelsdorfer-verlag.de

Inhalt

ÖFFNUNG

Aufbruch wagen

wachsam

Wege erkunden

bedacht

Grenzen weiten

achtsam

SUCHE NACH DEM GLÜCK

Es war einmal ein junger Mann, der hieß Lukas. Mit seiner schönen jungen Frau Lena lebte er in einem kleinen Haus am Waldrand. Er liebte sie sehr und las ihr jeden Wunsch von den Augen ab. Lena aber hatte an allem und jedem etwas auszusetzen. Lukas wurde immer trauriger und stiller, während Lena ihn immer öfter beschimpfte.

Eines Nachts warf er seiner schlafenden Frau einen Blick voller Liebe zu und machte sich auf den Weg. Er wollte das Glück für Lena suchen. Schweigend umhüllte ihn die mondlose Dunkelheit. Mit unsicheren Schritten ging er durch den Wald. Er meinte, schattenhafte Bewegungen wahrzunehmen und fürchtete sich. Doch es waren nur die Zweige der Bäume, die ihn streiften. Er lief weiter. Plötzlich stolperte er. Der Boden unter ihm gab nach, und er stürzte in die Tiefe.

Als er sich von seinem Schrecken erholt hatte, traute er seinen Augen nicht: Er befand sich in einer riesigen, hell erleuchteten Höhle. Köstliche Speisen auf einem festlich gedeckten Tisch verbreiteten lockende Düfte. Drei Elfen saßen an dem Tisch, eine jünger und schöner als die andere. Die Jüngste trug ein kurzes goldfarbenes Kleidchen, die Zweite ein rubinrotes Abendkleid, und die Dritte war in eine schwarze Lederhaut gehüllt.

»Wo bin ich?«, fragte Lukas.

»Du befindest dich im Paradies. Alles, was dein Herz begehrt, wirst du hier finden«, sprach die Elfe in Rubinrot und lächelte verführerisch. »Wir erfüllen Männerträume«, lachte die Jüngste, und ihre Zunge umspielte die Lippen. »Wir haben Erfahrung mit gelebten Männerfantasien.« Die Älteste der Elfen schaute ihm tief in die Augen.

Lukas wurde traurig und schüttelte den Kopf. »Alles, was ich begehre, ist meine Frau. Sie ist jung und schön, aber unzufrieden und nörgelt an mir und unserem Leben herum. Ich weiß nicht ein noch aus. Jetzt suche ich das Glück für sie.«

Aus dunklen Sternenaugen strahlte die jüngste Elfe ihn an. »Wenn das dein einziger Wunsch ist, junger Mann, wollen wir dir helfen.«

Die zweite Elfe erhob sich, strich über ihr elegantes Abendkleid und sprach: »Jede von uns wird dir eine Frage stellen. Überlege gut, denn wir lassen nur eine Antwort gelten.« Langsam schritt die in schwarzes Leder gewandete Elfe um den Tisch und strich Lukas über die Wangen. »Wenn du die drei Fragen richtig beantwortest, kannst du zu deiner Frau zurückkehren und wirst sie glücklich und zufrieden vorfinden. Sind deine Antworten aber falsch, dann musst du bleiben und uns als Spielzeug dienen.«

»Ihr freundlichen Elfen«, rief Lukas aus, »wie schön ihr auch seid und so verlockend sich die Alternative anhören mag - es ist nicht mein Wunsch, bei euch zu bleiben. Um Lenas und meiner Liebe willen bitte ich euch: Stellt mir eure Fragen.« Da boten ihm die Elfen Speisen und Getränke zur Stärkung an.

»Nun die erste Frage«, wandte sich die schöne Jüngste danach an ihn. »Wen liebt deine Frau mehr als dich?« Verwirrt starrte Lukas erst sie, dann die Höhlendecke an. Er dachte an all die Menschen, mit denen Lena Kontakt hatte, bedachte die Art, wie sie Begegnung mit Menschen suchte und sagte schließlich: »Ich glaube nicht, dass sie einen anderen Menschen mehr liebt als mich. Aber mir scheint, ihr Kummer ist ihr wichtiger als alles andere.«

»Nun gut. Und sag uns, was ist die Ursache ihres Kummers?«, fragte die elegante zweite Elfe. ›Oh Gott‹, dachte Lukas. ›Das weiß sie doch selbst nicht; wie kann ich es dann wissen?‹ Und er ging in der erleuchteten Höhle auf und ab und suchte nach einer Antwort. Er versuchte, sich an alles zu erinnern, was Lena je über ihre Befindlichkeiten ihm gegenüber geäußert hatte. Ihm fielen Sätze ein wie: »Du weißt so vieles, ich komme mir oft dumm vor.« Oder: »Ich möchte das machen, was du machst.« Häufig fielen Bemerkungen wie: »Ich kann gar nicht glauben, dass jemand wie du mich gern hat.« Oder sie fragte: »Findest du mich wirklich in Ordnung?« Er schüttelte den Kopf. Wie unsicher sie war! Wie schwer tat sie sich, etwas Gutes an sich selbst zu sehen, wie sehr schwärmte sie oft für ihn und andere Menschen, um danach an ihnen herumzumäkeln.

»Und?«, fragte die elegante Elfe.

»Ich glaube, die Ursache für ihren Kummer ist ihre große Unsicherheit. Lena sieht nichts Gutes an sich selbst.« Lukas blickte verzweifelt zu Boden.

Schweigend sahen die drei Elfen sich an. Dann trat die schwarz-gewandete dritte Elfe zu ihm und stellte die letzte Frage. »Sag uns: Was kann deine Frau glücklich machen?« Lukas’ Augen füllten sich mit Tränen. Was hatte er nicht alles versucht, um seine junge Frau glücklich zu machen. Er hatte ihr Geschenke gemacht, einen Ring mit edlen Steinen, eine goldene Halskette, eine kunstvolle Brosche, wertvolle Bücher. Er hatte Reisen in ferne Länder mit ihr unternommen, um sie auf andere Gedanken zu bringen. Gesungen und gedichtet hatte er für sie. Er wollte gern Kinder mit ihr haben. Nichts war ihr ein Grund gewesen, glücklich zu sein.

Er weinte und sagte: »Ich bitte euch um Bedenkzeit. Denn alles, was mir möglich war, habe ich getan.«

Die Augen der Elfen verdunkelten sich. Die Lichter in der Höhle erloschen. Lukas erschrak. Dann wurden seine Augenlider schwer, und er fiel in einen tiefen Schlaf. Im Traum sah er Lena als Kind, glücklich, ungestüm und zufrieden in ihrer Welt. Dann wurde diese von Dunkelheit überschattet und ein schreckliches Unwetter zog über sie hinweg. Danach war Lena verwandelt, so, wie Lukas sie kannte.

Er erwachte und schaute in drei erwartungsvoll geöffnete Augenpaare. Er sagte: »Ihr wundersamen Wesen, ich glaube, wenn Lena das unbeschwerte Kind in sich wiederfinden könnte, das sie einmal war, dann würde sie glücklich werden.«

Die Elfen strahlten ihn an. »Auch wenn wir hier gern Spielzeug haben«, sagte die in schwarzes Leder gehüllte Älteste augenzwinkernd, »ist es für uns ein Fest, solche Liebe und Treue zu erfahren. Lass uns feiern, bevor du zu deiner geliebten Lena zurückkehrst. Denn wir werden uns nie wieder begegnen.« Und sie feierten mit Gesang und Tanz und köstlichen Speisen.

Kurz darauf fand sich Lukas im Wald wieder. Die Sonne schien. Er eilte nach Hause. Schon von weitem hörte er Musik. Lena trug ein buntes Kleid, lachte fröhlich und flog ihm in die Arme.

PFÜTZE

in

der tiefe

das schimmernde licht

der himmel down under

nah erscheint die tiefe

doch bergab fällt

man nicht

weich

STURZFLUG

Ich war stolz wie selten in meinem Leben. Beim sommerlichen Schauspringen des Fallschirmsportclubs im Sauerland durfte ich zum ersten Mal aktiv dabei sein, mit dem Strato Star, einem damals neuen Fallschirmtyp. Mit ihm war ich zum Ende der Saison im Herbst zwei oder drei Mal gesprungen und hatte ein fantastisches Erlebnis in Erinnerung, unvergleichlich besser als mit dem schwerfälligen Rundkappen-Schirm. Nach privaten und beruflichen Rückschlägen glaubte ich, nur im Sport gut zu sein. Das Training und die Wochenenden mit Fallschirmspringen lenkten mich von meinem inneren Chaos ab. Kalle, der Ausbilder, forderte und protegierte mich.

Seine Anweisungen vor dem Abflug der Cesna, dem Vereinsflugzeug, waren klar: In siebenhundert Metern Höhe sollte ich die Bremsen des Fallschirms einmal ausprobieren. »Du ziehst die Steuerleinen langsam nach unten«, erklärte Kalle. »Damit du nach der Winterpause wieder ein Gefühl für den starken Bremseffekt dieses Schirmtyps bekommst.«

Bei Sonnenschein und wolkenlosem Himmel ratterte die kleine Cesna los und hob ab. Die Maschine stieg und kreiste, stieg und kreiste. Außer mir und dem Piloten waren noch drei Clubkameraden an Bord. Wir erreichten die Höhe von dreitausendachthundert Metern. Der große blonde Theo kniete in der Türöffnung und hielt Ausschau nach dem Zielkreis. Als er ihn entdeckt hatte, flogen wir noch eine Strecke darüber hinaus.

Nach dem Öffnen des Fallschirms würden die Fallschirmspringer in Windrichtung auf den Zielkreis zusteuern, darüber hinweg fahren und dann versuchen, ihn im Gegenwind bremsend zu erreichen. Wer das schaffte, war gut. Super war es, die »Null«, die Mitte des Zielkreises zu erreichen. Auch ich hatte bei meinen Sprüngen versucht, so nah wie möglich an den Zielkreis heran zu fahren. Ob es dann ein nahe gelegenes Getreidefeld oder ein Blumenbeet in größerer Entfernung war, in dem ich landete, oder immerhin der Sprungplatz nahe dem Zielkreis, war mir egal. Ich liebte das aufregende Gefühl beim freien Fall, freute mich jedes Mal, wenn der Fallschirm sich öffnete und über jede glückliche Landung.

Mit einem Erlebnis zogen mich die Vereinsmitglieder gern auf: Auch an jenem Tag im Jahr zuvor hatte ich einen Fallschirm gehabt, der mir nicht vertraut war. Der Griff zum Öffnen des Schirms hatte versetzt zur linken Seite statt, wie ich es kannte, rechts gelegen. Nach dem freien Fall hatte ich, wie ich glaubte, den Griff zum Öffnen des Fallschirms gezogen. Doch war es die Vorrichtung zum Abwerfen des Hauptschirms! Sofort spürte ich damals die überraschende Erleichterung im Rücken, als der Hauptschirm sich von mir verabschiedete und als purzelndes Paket seinen Weg zur Erde antrat. Etwas beunruhigt öffnete ich den auf dem Bauch befestigten Reservefallschirm und hing dann in leichter Rückenlage in der Luft, die Leinen vor meinem Gesicht. Ich musste mich treiben lassen. Weit entfernt vom Sprunggelände ging es gemächlich auf einen großen Wald zu. Bald streifte ich die Baumkronen mit den Springerstiefeln, sank tiefer und tiefer zwischen die Bäume und blieb stecken. Mit nach oben verdrehten Händen hielt ich die Leinen des Fallschirms, mein Kopf mit dem verrutschten Helm steckte dazwischen. Auf meine gequält klingenden Rufe hatten die besorgt suchenden Clubkameraden mich gefunden und bei meinem jämmerlichem Anblick schallend gelacht, bevor sie mich aus der misslichen Lage befreit hatten.

Theo hob den Daumen, das Signal für den Piloten, den Motor zu drosseln und Signal zum Absprung für die Fallschirmspringer. Tom juchzte, rollte mit einem Purzelbaum hinaus – fort war er. Ich war die Zweite.

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Eintrag im Tagebuch:

»Ich kniete in der Öffnung und ließ mich kopfüber hinaus gleiten. Im freien Fall sah ich den blauen Himmel bis zur weit entfernten Linie des Horizonts. Ich zog Beine und Arme ein wenig an und fühlte mich als Widerstand zur Luft schwer wie Blei. Durch leichtes Herunterziehen des linken Armes kam ich in eine blitzschnelle Drehung, die gleich in die nächste überging, weil ich sie nicht schnell genug stoppte. Dann versuchte ich die Drehung nach rechts. Der Wind zerrte und knatterte an meiner orangefarbenen Springer-Kombination. Dann lag ich stabil in der Luft.

Sanfte Langsamkeit im unendlichen Raum, ein zeitloser Augenblick, Sekunden-Ewigkeit in Himmelsnähe. Wie ein flauschiger, grün-brauner Flickenteppich schwebte die Erde mir entgegen. Dann folgte ein Zischen und Rauschen wie tosende Meeresbrandung, als ich meine Arme eng an den Körper legte: Wie ein Pfeil schoss ich, Kopf als Spitze, der Erde entgegen. Ein Rausch erfasste mich, Glücksgefühl in jeder Pore. Für einige Sekunden gab ich mich dem rasenden Fall hin, spürte, wie meine Gesichtshaut nach oben gezogen wurde und die Lippen sich im Luftwiderstand öffneten. Im Zeitlupentempo hob ich dann die Arme, bis ich in die stabilisierende Bauchlage kam. Eintausendzweihundert Meter zeigte der Höhenmesser an. Ich öffnete den Hauptschirm, spürte einen leichten Ruck im Rücken und hörte das laute ›Plopp‹, als der Fallschirm aufsprang. Stille umgab mich, ein krasser Gegensatz zu den starken Geräuschen vorher. Über der weiten Landschaft schwebte ich leicht wie ein Blatt im Herbstwind. Leise rauschten über mir die Kammern des Strato Stars. Ich fuhr einige Zeit mit dem Wind, schraubte mich dann herunter. Ein tolles Gefühl, als der Körper ausschwang.

Dann drehte ich gegen den Wind, sah den Zielkreis, den Platz, die Zuschauer. Schock und Schreck! Einhundert Meter Höhe, ich hatte vergessen … Schnell die Bremsübung! Zack, zog ich die Leinen herunter, spürte, wie der Schirm mich nach hinten in die Rückenlage warf, hörte Trainer Kalle brüllen, er brüllte wie ein Tier: »Mensch, lass’ die Bremsen los!« Zack, ließ ich sie los, viel zu schnell schossen sie nach oben. Meine Augen riesig wie Wagenräder, der Boden raste auf mich zu. Grün, Grün, Grün. Ein stumpfes Bong. Meine Füße schienen sich in den Boden zu bohren.

Seit zehn Tagen liege ich im Krankenhaus, meine Füße sind heftig gebrochen. Die Ärzte meinen, das sei es wohl mit dem Springen gewesen.

Immerhin landete ich direkt neben dem Krankenwagen der Malteser.«

ALTERTÜMER

Die Wurzeln gar tief in der Erde,

dort liegen die Ahnen sehr kalt

und helfen mir wachsen. Ich werde

bestimmt wie ein Stein so alt.

MARATHON TÜRKEI

Eine Woche Weltkulturerbe plus

Istanbul 2015

Ankunft – Angebote – Abendessen

Muezzins begannen rund um das Hotel zu singen. Kurz nach unserer Ankunft war das, gegen halb sieben am frühen Abend, erst zwei, dann drei, aus einer anderen Richtung weitere. Bis zu acht verschiedene Stimmen erklangen. Die Gebete wurden von dem ersten Muezzin mit einem Gebetsteil eröffnet und von den anderen jeweils mit anderen Sätzen aus dem Gebet beantwortet.

Die Gegend um das Hotel war unwirtlich und im Dunkeln ein wenig unheimlich: Abfallhaufen, Berge von Autoreifen, Lagerhallen, verfallene Häuserkästen. In einigen Hochhäusern verbreiteten Imbissbuden im Erdgeschoss kaltes Licht. Wo lebten die Menschen? Das Hotel fiel in dieser Gegend auf, deplatziert, würde ich sagen. Die Investoren hatten sicher scharf kalkuliert.

Nach dem Abendessen wartete ich mit vielen anderen Gästen lange, bis ein Lift kam, der mich in den sechzehnten Stock des Hotels hinauf fuhr. Auf einer kleinen Terrasse wurde mein Blick von zahllosen Leuchtpunkten in der früher auf sieben Hügeln erbauten Metropole angezogen, die man mehr als 1000 Jahre lang Byzanz und später Konstantinopel nannte. Sieben Hügel, das ist heute allein die Fläche der Altstadt Istanbuls. Weit zogen sich die Straßen aus Licht hin. In der Ferne ahnte man auf einer Anhöhe berühmte Gebäude, die besonders hell angestrahlt wurden. Es war diesig und kühl.

Um 22 Uhr fiel kurz der Strom aus. Die Hochhäuser in der Umgebung des Hotels wirkten wie ausgelöschte Fackeln.

Auf der Fahrt vom Flughafen zum Hotel hatte der Reiseleiter eilig ein außerplanmäßiges Angebot eröffnet: »Morgen Nachmittag möchte ich mit Ihnen eine Bootsfahrt inklusive Abendessen unternehmen. Das Boot wird nur unsere Gruppe durch die Meerenge des Bosporus fahren, bis zu den berühmten Brücken zwischen Europa und Asien, die über den Bosporus führen. Anschließend werden wir, wenn der Verkehr es zulässt, eine Lichterfahrt durch einen Teil Istanbuls machen. Das kostet pro Person neunundsechzig Euro.« Dem Angebot folgte ein zweites: »Wer noch dreißig Euro drauf legt, erhält an den folgenden vier Tagen mittags ein Menü.« Nach Alternativen zur Bootsfahrt gefragt, antwortete er in leicht pikiertem Tonfall, den wir öfter hören sollten: »Wer an der Bootsfahrt nicht interessiert ist, wird zum Hotel gefahren.« Als wenige Gäste dennoch nach Möglichkeiten fragten, sich selbst in Istanbul umzusehen, reagierte er unwirsch: »Meine Verantwortung für Sie bezieht sich auf Bus und Hotels. Wenn Sie selbständig etwas unternehmen, habe ich nichts damit zu tun.« Ich meldete mich für die Bootstour.

Das Buffet des ersten Abends war verführerisch vielfältig, ich etwas desorientiert. Menschenschlangen an jedem Teil des üppigen, unüberschaubaren Speisegeländes mit rohem Gemüse, angemachtem Gemüse, Suppen und Fleisch, Fisch, mit Nudeln, Pfannkuchen, Kartoffeln, gratinierten Speisen. Ein großes Angebot an zuckerig dekorierten Süßspeisen lockte, egal wie satt man schon war: Puddings, Torten, Joghurtspeisen, frisches Obst … Und wer weiß, was ich alles in der Fülle nicht wahrnehmen konnte!

Ein Glas Bier kostete laut Getränkekarte neun Euro. Echt teuer, dachte ich. Dann fiel mir ein, dass es Alkohol offiziell in islamischen Ländern nicht bzw. für Touristen nur in entsprechenden Örtlichkeiten zu kaufen gibt. So war ein erhöhter Preis in Ordnung, fand ich, bestellte aber kein Bier. Einen jungen Kellner fragte ich zweimal, was Danke auf türkisch heißt, doch ich versuchte vergeblich, es nachzusprechen, so fremd waren mir die Laute.

Sechs Reisebusse mit deutschen Touristen waren im Hotel eingetroffen, um die Fahrt entlang der Westküste zu berühmten historischen Stätten zu erleben, pro Bus um die vierzig Personen. Eine Künstlerin in unserer Gruppe erklärte ihre Anwesenheit damit, dass sie die Welt weitgehend bereist und genug Elend erlebt habe. Jetzt wolle sie nur Schönes genießen. Unangenehme Nachrichten erreichten sie indes von ihrer Schwester, die sich zum Zeitpunkt eines Terroranschlages des sogenannten IS, der während unserer Reise stattfand, in Paris am Flughafen aufhielt und von dort nicht weiterfliegen konnte. Zum Glück meldete sie sich später aus Deutschland; ihr war nichts passiert.

In der Nacht kreiste mein Gedankenkarussell. Um halb drei gab ich den Versuch zu schlafen auf. Durfte ich meine Zähne mit dem Wasser aus dem Hahn putzen? Oder sollte ich besser Mineralwasser nehmen? Später erfuhr ich, dass die Einheimischen das Wasser nicht trinken, zum Zähneputzen jedoch benutzen. Würden wir überhaupt Zeit zum Frühstücken haben, wenn das Buffet erst um sieben Uhr eröffnet wurde, wir aber um Viertel vor Acht schon im Bus sein sollten? Und das bei den Wartezeiten an jedem Lift! In Gedanken ging ich nachts die Umrechnung von Euro in Türkische Lira (TRY) durch, darin war ich noch nicht fit. Zur Zeit unserer Reise galt: 1 Euro ca. 3 TRY, 1 TRY ca. 0, 35 Cent, 20 TRY ca. 7 Euro.

Der Gesang der Muezzins, fremd und schön, weckte mich um Viertel vor Sechs. Danach schlief ich noch einmal kurz ein. Beinahe hätte ich den frühen Beginn unseres Programms verschlafen.

Metropole – Monumente – Marmara Meer

Spitzen von Minaretts ragten in den Himmel. Hinter verfallenen Bauten reckten sich Hochhäuser. Roh und unverputzt lagen neue Wohnblocks dazwischen. Abfallhaufen brannten, Sonnenstrahlen flirrten im Rauch.

Wir standen im Stau, immer wieder. Am Horizont tauchten irgendwann die Silhouetten von Hagia Sophia und der Blauen Moschee auf und neben dem Bus üppig bepflanzte Parkanlagen; die Gegend erschien gepflegter. Dort lebten vermutlich die besser verdienenden Stadtbewohner.

Über etwa sieben Kilometer zogen sich gut sichtbare Reste der ehemals gigantischen Theodosianischen Landmauer hin, zu Beginn des fünften Jahrhunderts ein Bollwerk zum Schutz des damaligen Konstantinopel vor den Angriffen der Goten und Hunnen. Auch einige Stadttore blieben erhalten.

Unser erstes Ziel war der Platz ›Hippodrom‹ in Istanbul, auf dem in römischer Zeit Wagenrennen vor bis zu 100000 Zuschauern stattgefunden hatten. Seine Mittelachse wird von einer bronzenen Schlangensäule aus Delphi geschmückt, Beutekunst, wie auch der Obelisk aus dem Amun-Tempel in Karnak, Ägypten. Schön und rätselhaft wirkten die Hieroglyphen auf rosafarbenem Granit. Die Kunstwerke waren auf Anordnung des römischen Kaisers Konstantin in seine neue Hauptstadt verschleppt worden. Auf dem Sockel des Obelisken ist die byzantinische Gesellschaft mit dem uneingeschränkten Herrscher abgebildet. Der Deutsche Brunnen, auch Kaiser-Wilhelm-Brunnen genannt, war als Geschenk anlässlich eines Staatsbesuches im Jahr 1898 errichtet worden, achteckig und kostbar verziert.

Frauen trugen lange schwarze oder dezent andersfarbige Kleidung, etwa beige-braune Töne; sie wirkten elegant, auch mit dem für uns ungewohnten Kopftuch. Manche trugen Burkas und hielten die Kamera vor den schmalen Sehschlitz. Das Gewirr verschiedener Sprachen zeigte an, wie international die Besucher waren.

In Zeiten des Osmanischen Reiches war ein Sultan der höchste Machthaber. 1609 ließ Sultan Ahmed seine Moschee als Gegen-Prunkstück zur Hagia Sophia erbauen. Die Sultan-Ahmed-Moschee ist die berühmteste Moschee Istanbuls, ein gewaltiges Gebäude mit sechs Minaretts und beeindruckenden Kuppelkaskaden. Bevor wir eintraten, bedeckten wir Frauen unser Haar mit Kopftüchern. Alle Besucher zogen ihre Schuhe aus, bekamen eine Plastiktüte dafür und nahmen sie darin mit. Eine große Menschenmenge hielt sich in der Moschee auf, die seit Jahren ein Museum ist. Der Reiseleiter gab uns Kopfhörer, damit er mit seinen Ausführungen andere Besucher nicht störte.

Ein roter Teppich bedeckt den gesamten Boden mit Ornamenten in einem Muster, das den Gläubigen anzeigt, wie viel Platz sie bei den rituellen Gebete haben, um sich niederlassen und verbeugen zu können, ohne die vor oder hinter ihnen knienden Personen zu beeinträchtigen. Dies ist auch der Grund, warum Muslime vor dem Betreten jeder Moschee die Schuhe ausziehen: Der Boden soll sauber sein, auf dem gebetet wird. Auch der gläubige Muslim soll rein und sein Körper sauber sein, besonders vor dem Gebet. Die Muslime waschen sich die Hände, die Arme bis zu den Ellbogen, ihr Gesicht und die Füße. Das Haar wird mit den nassen Händen gestreift. Durch die Reinigung wird kein Schmutz in den Gebetssaal getragen; auch unangenehmer Geruch wird vermieden. Reinigungsbecken befinden sich auf jeder Seite der Moschee. Für muslimische Frauen gibt es Areale, die vor öffentlichen Blicken geschützt sind.

Im Gebetssaal der Moschee hängt ein runder Leuchter riesigen Ausmaßes mit zahllosen Glühbirnen von der Kuppel. Diese ruht auf vier Elefantenfüßen, wie die gewaltigen kannelierten Pfeiler genannt werden. Darunter bilden Halb- und Viertelkuppeln, kaskadenartig abgestuft, eine bezaubernde Gewölbelandschaft. Wände, Bögen und Gewölbe sind mit porzellanartigen Ornamenten reich geschmückt, dekorative Inschriften in die Wände graviert oder als Tafeln angebracht, meist Koranverse und Gebete in arabischer Schrift.

»Blaue Moschee« wird dieses Museum nicht von Türken, sondern nur von westlichen Besuchern wegen der mehr als 21000 blaugrundigen Iznik-Kacheln genannt. Sie leuchten wie Edelsteine und zieren das Innere der Moschee mit exotischen Blattformen und floralen Mustern, zum Beispiel Tulpen, Hyazinthen, Pfingstrosen, welche die Erde im Frühling sowie das Paradies darstellen. Durch zahlreiche mit Glasmalerei verzierte Fenster fällt weiches Licht in Fülle.

Ich hörte nicht auf zu staunen, diese Schönheit hatte etwas Überwältigendes.

Nicht weit entfernt liegt die rot getünchte »Kirche der Heiligen Weisheit«, Hagia Sophia, Wahrzeichen der Stadt und einst die größte Kirche der Christenheit. Mit ihrem Bau waren im sechsten Jahrhundert neue architektonische Akzente gesetzt worden, indem griechischrömische mit orientalischen Elementen verbunden wurden. Nach der Eroberung der Stadt durch die Muslime (1493) wurde sie in eine Moschee umgewandelt und ist heute ein Museum mit byzantinischen Mosaiken, ein Bauwerk mit vielen Anbauten aus verschiedenen Zeiten unter verschiedenen Herrschern. Für uns nichtmuslimische Touristen ist es ein Glück, dass dieses Gebäude zum Museum wurde, das mit seinen Kostbarkeiten die Sinne betört und dem Besucher eine Ahnung himmlischer Herrlichkeit vermittelt: Die gewaltige Kuppel der Basilika scheint zu schweben, als würde sie eine Verbindung zwischen himmlischer und irdischer Welt herstellen. Durch zahlreiche Fenster an ihrer Basis erstrahlt sie in einem warmem Licht.

Stumm und fasziniert verharrte ich einige Augenblicke. Betörend zarte ornamentale Zeichnungen schmücken den mittleren Teil des Gebetssaals. Die Gebetsnische, der Mihrab, zeigt die Richtung von Mekka an. Große marmorne Kugelvasen aus Pergamon zogen meine Blicke im Westteil an.

Durch einen langen, gewundenen Gang entlang alter Mauern stieg ich zur Empore hinauf. Dort entdeckte ich oberhalb des Gebetssaales kostbare Mosaiken aus dem zwölften Jahrhundert: Christus, vor dem sich der Kaiser, Herrscher von Gottes Gnaden und Stellvertreter Gottes auf Erden, verneigt. Für das Museum wurden die Bilder ab 1934 freigelegt.

Viele der byzantinischen Kunstwerke waren von Kreuzrittern aus den Wänden gebrochen und als Beute mitgenommen oder durch Erdbeben zerstört worden. Die damals aus Konstantinopel geraubten Kunstwerke befinden sich heute zum Beispiel in der Kirche San Marco in Venedig. In der Zeit der Umgestaltung zur Moschee wurden christlich-orthodoxe Mosaiken übertüncht.

Von der Empore schaute ich auf den beeindruckenden Leuchter. Gegenüber verkleidete ein Gerüst in blauer Folie große Teile des Bauwerkes, ein Zeichen der permanent notwendigen Restaurierung. Diese wird von der UNESCO unterstützt. Die Mosaiken der Kuppel bestehen aus Marmor und Glas, in das Gold und Silber eingearbeitet wurde.

Draußen sah ich das Gesamtkunstwerk, die Verschachtelung der vielfältigen Anbauten, fremdartig und schön mit den himmelwärts strebenden Minaretts. Der mehrfach überkuppelte Zentralbau ist ein Wesensmerkmal der osmanischen Sakral-Architektur.

Die Sonne schien, es war warm, ein November zum Genießen. Ich wäre gern länger im Café geblieben, um in Gedanken bei den eindrucksvollen Bildern und Geschichten, die wir gehört hatten, zu verweilen. Doch dafür reichte die Zeit nicht.

Wir fuhren zum Topkapi-Palast. Dort nahm ich die prachtvoll gestalteten Palasttore wahr. Eines hieß Tor des Friedens, ein weiteres Tor der Glückseligkeit. Wie schön ließe sich darüber fantasieren, wenn man Zeit hätte … Im vierten Hof lag ein Garten mit alten Bäumen und blühenden Pflanzen, von dem aus ich einen Blick auf den Bosporus warf, der in der gleißenden Mittagssonne glänzte.

Der Palast ist eine Sultansresidenz mit vielen Prunk-, Verwaltungs- und Wirtschaftsgebäuden sowie Harem und Schatzkammer. Er besteht aus vier großen Höfen. In jedem gibt es andere Museen. Ich sah Waffen, insbesondere Schwerter, Küchengeräte, feines chinesisches Porzellan, kostbare Inschriften des Korans, auch solche in Gold.

Dann saß ich bis zur Abfahrt in der Sonne, schloss die Augen und genoss die ruhigen Momente.

In der City hatten wir Zeit für einen kurzen Bummel durch den Ägyptischen Basar, früher eine Karawanserei am Ufer des Goldenen Horns. Heute werden in etwa hundert kleinen Läden Gewürze, Kräuter, Parfüms und andere Waren zum täglichen Gebrauch angeboten. Lebhaft und eng war es in den bunten Gassen.

Viele Burkas sah ich an dem Tag. Ich sage »Burkas«, nicht »Frauen in Burkas«. Wer weiß, wer unter jener Kleidung steckt? Fremd und beunruhigend finde ich die volle Verschleierung. Mir fehlt das Gesicht zur Kommunikation. Aber würde ich überhaupt in die Situation kommen, so jemanden anzusprechen? Würde die Person das überhaupt wollen?

Die Bootsfahrt vom Goldenen Horn im Norden Istanbuls über das Marmara Meer im Süden bis zum Bosporus im Osten, hinter dem das Schwarze Meer liegt, sie begann, als die Sonne langsam hinter den Horizont sank. Wir fuhren unter der Galata-Brücke hindurch, aus deren Restaurant-Etage die erleuchteten Fenster lebhaftes Treiben verhießen. Über dreißig Kilometer zieht sich die Meerenge hin. Auf steilen Hügeln liegen Sultanspaläste und aus Holz gebaute Sommerhäuser. Moscheen ragen auf und an der schmalsten Stelle des Bosporus osmanische Festungen. Die beiden berühmten Brücken über den Bosporus, die Europa und Asien miteinander verbinden, waren mit Tausenden kleiner Lichter geschmückt, die farbig schillerten.

Nach dem Essen verbrachte ich einige Zeit draußen auf der Rückseite des kleinen Ausflugsbootes, genoss die Lichter am Ufer und das funkelnde Wasser, Spiegel des orange gefärbten Himmels.

Durch Trakien nach Troja

Häuserberge – Hügellandschaft – Historisches

Wieder fuhren wir ein Stück an der Theodosianischen Landmauer entlang, dann an einem Friedhof mit Steingräbern. Auf vielen wehte die türkische Flagge in flammenden Rot unter dem blauen Himmel. Zwischen maroden Häusern leuchtete eine kleine Moschee mit blauer Kuppel und blauen Minarett-Spitzen wie aus einem Märchenbuch, ›Der kleine Muck‹ fiel mir ein. Häusermeere wogten auf weiter Fläche, Wäschestücke wehten an Balkonen. Elstern und Möwen kreisten und kreischten. Die Bebauung war oft so dicht, als würde kein Lufthauch zwischen die Mauern passen.

Morgendlicher Stau in Istanbul City. Zeit für den Verkehr muss man dort großzügig einplanen. Die Entfernung innerhalb von Istanbul beträgt von Osten nach Westen ungefähr siebzig Kilometer. Unser Bus schob sich weiter, kroch im Stau bis zur Autobahnauffahrt Richtung Canakkale. Auf Istanbuls Hügeln ragten Hochhäuserburgen in den Himmel. Einfamiliensiedlungen wirkten daneben adrett. Die Autoschlange auf der gegenüberliegenden Fahrbahn in Richtung Innenstadt wand sich endlos.

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