Mündliches Erzählen als Performance: die Entwicklung narrativer Diskurse im Fremdsprachenunterricht

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3.1.2 Funktionen des Prototypen: Illustration und Operationalisierung, Stimulus und Gradmesser des Narrativen

Der Prototyp des Narrativen übernimmt im intermedialen Erzählmodell vier wichtige Funktionen, die auch im Kontext meiner Studie relevant sind.

1 Auf der Ebene der Darstellung des Modells übernimmt der Prototyp als „beste[r] Vertreter einer Kategorie“ (Bußmann 2008: 560) illustrierende Funktion. In dieser Funktion nutzt Wolf das Märchen vom ‚Ritter Blaubart‘ (2002a: 43-53). Er setzt das Märchen und mit ihm das episch-literarische Erzählen als Prototypen des Narrativen1. Anhand einer funktionalen Analyse des Märchens zeigt er, dass die o. g. qualitativen, inhaltlichen und syntaktischen Narreme die prototypischen Merkmale des Erzählens darstellen. Eine vergleichbare Funktion übernimmt in meiner Studie die Analyse des Märchens Le conte des échanges, das den beiden von mir exemplarisch untersuchten Erzählstunden als Basistext zugrunde liegt (Kap 9.1).

2 Auf der Ebene der Konzeptualisierung dient der Prototyp der Operationalisierung (Wolf 2002a: 43) der Basiselemente des erzähltheoretischen Modells. Er schafft damit die Verbindung zwischen der theoretischen Modellierung und dem konkreten Text. Dieses Vorgehen ergibt sich aus der kognitionstheoretischen Vorannahme, dass die Narreme sich als prototypische Strukturelemente in konkreten inhaltlichen Elementen der Textebene manifestieren.

3 Auf der interaktionellen Ebene zwischen den Rezipierenden und der Erzählung übernehmen die als prototypische Strukturelemente identifizierten Narreme die Funktion von Stimuli des Narrativen, die von den Rezipierenden wahrgenommen werden können. Sie leisten damit die Verbindung vom Text zu den Rezipierenden, indem sie letztere dazu bringen, das kognitive Schema des Narrativen zu aktivieren und für sich abzurufen.

4 Da im kognitionstheoretischen und transmedialen Ansatz von der Graduierbarkeit des Narrativen ausgegangen wird, übernimmt der Prototyp auf konzeptioneller Ebene zusätzlich die Funktion eines Gradmessers des Narrativen.

Die Graduierbarkeit des Narrativen impliziert, dass der Prototyp als „Kern des Narrativen“ (Wolf 2002a: 45) ein Maximum an typischen Elementen des Narrativen enthält. Aus diesen Elementen wiederum lässt sich eine Minimaldefinition des Narrativen entwickeln, die dessen Kern auf das Wesentliche so zusammenschmilzt, dass in jedem konkreten Einzelfall entschieden werden kann, was als mehr oder weniger narrativ, was noch als narrativ und was nicht mehr als narrativ bezeichnet werden kann. Diese Minimaldefinition formuliert Wolf wie folgt:

Erzählen wäre damit […] die Darstellung wenigstens von Rudimenten einer vorstell- und erlebbaren Welt, in der mindestens zwei verschiedene Handlungen oder Zustände auf dieselben anthropomorphen Gestalten zentriert sind und durch mehr als bloße Chronologie miteinander in einem potentiell sinnvollen, aber nicht notwendigen Zusammenhang stehen. (Wolf 2002a: 51)

Diese Minimaldefinition ist als Klassifizierungsinstrument auch für den Fremdsprachenunterricht geeignet. Auf dieser Basis können die in unterschiedlicher medialer Realisierung hervorgebrachten Produkte der Lernenden, z.B. verbale Erzählungen, Bilder, szenische Darstellungen auf ihre Narrativität hin untersucht werden. Auch der Grad der Narrativität der Produkte kann angegeben werden, denn aufgrund der Nachweisbarkeit der Stimuli des Narrativen in konkreten Werken können einerseits die Nähe und Ferne konkreter Werke oder Werkteile zum Prototypen genauer bestimmt, andererseits auch diejenigen Elemente ausgemacht werden, die den Grad an Narrativität erhöhen. Dazu zählt Wolf „konfliktbeladene und spektakuläre Handlungen“ (Wolf 2002a: 52), „die Konzentration auf spezifische Figuren“ (a.a.O.), „die Situierung der Geschichte in einer abgeschlossenen […] Vergangenheit“ (a.a.O.), „die Klarheit und Eindeutigkeit der Sinn- und Kohärenzbezüge […], ferner die Fiktionalität“ (a .a. O.) und den Gebrauch ästhetischer Gestaltungsmittel. Besonders diese Elemente der Graduierung sind für den Einsatz des Narrativen im Fremdsprachenunterricht interessant, weil sie möglicherweise Einfluss auf den Prozess der Narrativierung durch die Rezipierenden, hier die Lernenden, haben. Es kann davon ausgegangen werden, dass bei einer Rezeption in der Erstsprache diejenigen Werke und diejenige mediale Realisierung, die die meisten Narreme, damit die meisten Stimuli des Narrativen bereit halten, die geringste Narrativierungsleistung der Rezipierenden verlangen, während umgekehrt, die Medien mit der geringsten Anzahl an Narremen, d.h. der geringsten Narrativität, die höchste Narrativierungsanstrengung verlangen. Aber ist das auch in der fremdsprachlichen Rezeption so? Auf diese Frage wird die Analyse der Narrativierungsleistungen der Schülerinnen und Schüler in den Erzählstunden (Kap. 9.2.3, 9.3.3, 9.4) eingehen.

Um die Nähe und Ferne zum Prototypen und den Grad an Narrativität weiterer Medien geht es Wolf in seinen Ausführungen zur Realisierung des Narrativen im Medium der bildenden Kunst und der Musik. Was die bildnerische Darstellung betrifft, die in der vorliegenden Studie als Narrativierungsleistung der Lernenden eine Rolle2 spielt, so legt Wolf eine Zusammenstellung „potentiell narrativer Bilder“ (Wolf 2002a: 56) vor, zu denen zwei Haupttypen, die Bildserien und Einzelbilder, mit jeweils zwei Untergruppierungen gehören. Auch hier ist die Narrativität der Produkte anhand der Indikatoren des Prototypischen graduierbar. So besitzen Bildserien die Fähigkeit, Narratives darzustellen, Einzelbilder sind eher geeignet, Narratives zu indizieren. Das Medium der (Instrumental-)Musik bietet nach Wolfs Untersuchungen den geringsten Grad an Narrativität, da es lediglich Geschichtenanaloga hervorbringt, also „quasi-narrativ“ (a.a.O.: 96) funktioniert und deshalb von den Rezipierenden die höchste Narrativierungsanstrengung verlangt.

Das abschließend von Wolf entwickelte Modell des narrativen Potenzials unterschiedlicher Medien (s. Schema 3 in Wolf 2002a: 96) erfasst die von ihm untersuchten medialen Darstellungen des Narrativen und den jeweiligen Anteil an werkinternen Narremen und rezipientenseitiger Narrativierung. Aus dem Modell „ergeben sich drei grobe Typen innerhalb des Skalars zwischen maximaler und minimaler werkseitiger Narrativität“ (a.a.O.): erstens „geschichtendarstellende, genuin narrativ verwendbare Medien“ wie literarisch-episches Erzählen, Drama, Film, in Teilen auch Bildserien, zweitens ein „als narrationsindizierendes […] narrativ verwendbares Medium“ wie das Einzelbild und drittens das „quasi-narrativ verwendbare Medium der (Instrumental-)Musik“ (a.a.O.).

3.1.3 Impulse des intermedialen Modells für die Konzeption der Studie

Die dem Wolfschen Modell zugrunde liegenden konzeptionellen Entscheidungen und die Konstituenten des Modells liefern für die Erkundung des Erzählpotenzials folgende Impulse:

 Sie eröffnen Möglichkeiten, das Potenzial des Narrativen sowohl strukturell zu erfassen als auch seine Manifestationen in konkreten Werken zu beobachten und zu analysieren. Neben der transmedialen Konzeptualisierung bietet das Wolfsche Modell Anregungen für die Analyse intermedialer Prozesse, die in den zu untersuchenden Erzählstunden zum Tragen kommen (Kap. 9.2.2.2).

 Sie liefern Anregungen für eine mehrdimensionale Recherche des Erzählpotenzials. Die Öffnung des Konzepts gegenüber den pragmatischen, werkexternen Aspekten macht das Konzept in besonderem Maße geeignet, seine Kategorien zur Analyse konkreter sprachlicher Werke und damit zur Analyse des empirischen Materials des Fremdsprachenunterrichts zu nutzen.

 Der kognitive Ansatz des Modells bietet Anregungen, die (fremd-)sprachlichen kommunikativen Aktivitäten der Lernenden als ‚Narrativierungsleistungen‘ aufzufassen und den Umgang mit den Stimuli des Narrativen zu beobachten und zu analysieren. Aus diesem Grund werde ich diese von Wolf gebrauchte Kategorie zur Bezeichnung der narrativen Aktivitäten der Lernenden verwenden.

 Der funktionale Ansatz des Modells liefert für die empirische Analyse der Studie besonders fruchtbare Impulse. So werden die verbalen und non-verbalen kommunikativen Tätigkeiten von Lehrenden und Lernenden nicht nur unter werkinternen Aspekten betrachtet, sondern auch als Manifestationen von Funktionen des Narrativen – u.a. seiner sozialen und kommunikativen Funktion – aufgefasst und unter diesem Aspekt beobachtet.

 Der prototypische Ansatz liefert Anregungen für den Umgang mit prototypischen Elementen des Narrativen im Hinblick auf die Auswahl und Aufbereitung der Erzähltexte durch die Lehrkräfte und auf die Planung und Durchführung ihrer Erzählprojekte.

 Die mit dem prototypischen Ansatz verbundene Auffassung von der Graduierbarkeit des Narrativen liefert im konzeptionellen Teil Anregungen zur Erarbeitung des Erzählens als narrativer Vermittlungsform zwischen dem epischen und dramatischen Erzählen, im empirischen Teil u.a. zur Analyse von Narrativierungsleistungen der Lernenden.

Aufgrund der vielfältigen Impulse werde ich das intermediale Erzählmodell von Wolf als Referenzmodell zur Entwicklung des Potenziale-Modells (Kap. 2.1.2, Kap. 7) nutzen.

3.2 Mündlich-verbales Erzählen (1): (Re-)Konstruktions- und Interaktionsprozesse beim Gebrauch der Diskursform

In Kapitel 3.2 wird zunächst der zugrunde gelegte Diskursbegriff (3.2.1) erläutert, um auf dieser Basis die interaktionelle Gesprächsstruktur und die interaktionellen Aufgaben (3.2.2) zu beschreiben. Abschließend (3.2.3) wird das Prinzip der Erzählwürdigkeit erläutert und dessen Bedeutung für den narrativen Diskurs im Fremdsprachenunterricht erörtert.

 

3.2.1 Erzählen als Diskurseinheit

In Abgrenzung zu einem weiten, vor allem in der Semiotik zum Tragen kommenden Textbegriff, der jedes eingrenzbare Segment einer Botschaft oder jegliche in einem kulturellen System gesendete Nachricht (Volli 2002: 79, Bußmann 2008: 719) oder, weniger weit, sowohl mündliche als auch schriftliche sprachliche Äußerungen als Texte begreift (Lewandowski 1994: 1153ff., Vater 2001: 14, Heinemann / Heinemann: 2002: 97, Bußmann 2008: 719), nehme ich eine für meinen Forschungszusammenhang funktionale Trennung zwischen den Begriffen Text und Diskurs vor und fasse unter ‚Text‘ lediglich schriftlich-verbale, unter ‚Diskurs‘ mündlich-verbale Äußerungen (Quasthoff 2001: 1302, Ehlich 2007: 4, Bußmann 2008: 141). Für meinen Forschungszusammenhang entscheidend ist ein in der Pragmatik vorzugsweise auf die mündliche Kommunikation bezogener Diskursbegriff, wie ihn Ehlich formuliert:

In der Pragmatik wird er [der Begriff Diskurs: Einfügung durch Verf.] zur Bezeichnung von strukturierten Ensembles von Sprechhandlungen verwendet, die aus einfachen oder komplexen Sprechhandlungsfolgen bestehen. Diese setzen sprachliche Handlungsmuster oder ihre systematische Kombination zu größeren kommunikativen Einheiten kommunikativ um. Die Strukturiertheit dieser kommunikativen Formen bestimmt sich über die Zwecke der daran beteiligten sprachlichen Handlungen und ihrer spezifischen Integration. So entstehen Diskursarten. (Ehlich 2007: 4)

Um bei der Analyse des empirischen Materials die im fremdsprachlichen Klassenzimmer hervorgebrachten Diskurse voneinander abzugrenzen und die narrativen Diskurse zu identifizieren, teile ich, Ehlich folgend, die Diskursarten in Sprechhandlungssequenzen (z.B. Frage-Antwort-Sequenzen) vs. Sprechhandlungsverkettungen (z.B. Vortrag, Bericht, Erzählung) und in unterschiedliche Diskurstypen wie argumentative, explizierende, narrative etc. Typen ein (s. auch Werlich 1975: 30ff.). Den von Quasthoff privilegierten Begriff der „narrativen Diskurseinheit“ (Quasthoff 2001: 1300) verwende ich synonym für narrative Sprechhandlungsverkettungen, vor allem dann, wenn diese Einheiten aus den klassenzimmerspezifischen Sprechhandlungen heraus zu lösen sind1.

Die von der Gesprächslinguistik (Gühlich / Hausendorf 2000, Quasthoff 2001) gelieferten Untersuchungen mündlichen Erzählens bieten geeignete Instrumente zur Identifikation und zur Analyse narrativer Diskurseinheiten2 aus interaktioneller Perspektive. Von besonderem Interesse sind die Betonung des gemeinsamen Aufbaus der narrativen Tätigkeit, die als eine „gemeinsame Leistung der beteiligten Partner“ (Quasthoff 2001: 1301) angesehen wird, und die Vergabe der Rollen und der narrationsspezifischen Aufgaben an die Akteure auf der Basis der folgenden Definition narrativer Interaktion:

Erzählen im interaktionstheoretischen Sinn ist eine Form der verbalen Aktivität, die mindestens zwei Teilnehmer gemeinsam und aufeinander zugeschnitten kontextualisierend betreiben, indem sie für sich wechselseitig deutlich die Rollen Erzähler und Zuhörer installieren. (Quasthoff 2001:1300)

Von den sie umgebenden Sprechhandlungssequenzen grenzen sich nach Quast­hoff die narrativen Diskurseinheiten ab durch folgende Merkmale:

 Sie werden eingeleitet und abgeschlossen durch Gliederungselemente, sog. „discourse markers“ (a.a.O.) und weisen ein spezifisches Strukturschema auf.

 Sie realisieren das „Prinzip des primären Sprechers“ (Quasthoff 2001: 1300 im Rekurs auf Wald 1978), was eine „eine spezielle Variante des Spre­cherwechsels“ (a.a.O.) darstellt.

Zur Identifikation der von den Lehrenden als „primären Sprechern“ verantworteten narrativen Diskurseinheiten eignen sich (Kap. 3.2.2) die von Quasthoff und Gühlich entwickelten Instrumente der Interaktionsanalyse. Zur Beschreibung der Schüleräußerungen bedarf es weiterer begrifflicher Klärungen. Hier ist es schwierig festzustellen, inwieweit Diskurseinheiten vorliegen und inwieweit überhaupt von einem ‚Erzählen‘ der Schüler gesprochen werden kann. Anregungen bietet der von Ehlich entwickelte Begriff des „Architerms“ (Ehlich 2007: 372). Ehlich versteht darunter einen die Vielfalt des Wortfeldes ‚Erzählen‘ neutralisierenden Oberbegriff und nennt ihn „Erzählen1“. Darunter subsummiert er die in der Alltagssprache als ‚Erzählen‘ bezeichneten unterschiedlichen sprachlichen Tätigkeiten wie das Erzählen2, Berichten, Mitteilen, Schildern, Beschreiben, Wiedergeben, Darstellen. Lediglich ‚Erzählen2‘ in der o. g. Reihe bezeichnet den Diskurstypen ‚Erzählen‘. Es wird zu untersuchen sein, ob diese unter dem Architerm ‚Erzählen2‘ subsummierten sprachlichen Aktivitäten im Anschlussgespräch an die Erzählperformances der Lehrenden zu identifizieren sind und welche Rolle sie darin spielen. Es wird auch zu untersuchen sein, welches besondere Profil sie ggf. diesem Unterrichtsdiskurs verleihen.

3.2.2 Narrationsspezifische Aufgaben der Diskursteilnehmer

Ausgehend von dem textlinguistischen und gesprächslinguistischen Zugriff auf das Erzählen ist es möglich, zum einen den „prozesshaften, sequenziell geord­neten Charakter“ (Quasthoff 2001: 1296) des mündlichen Erzählens zu erfassen, zum anderen die sprachhandelnden interaktiven Tätigkeiten der Diskursteilnehmer als spezifisch narrative zu identifizieren. Inspirierend für die Übertragung des Konzepts auf den Fremdsprachenunterricht ist auch die von Quasthoff vorgenommene Unterscheidung zwischen der kommunikativen und der interaktiven Funktion mündlichen Erzählens (Quasthoff 2001: 1295). Quasthoff zufolge müssen, damit eine narrative Diskurseinheit realisiert wird, die kommunikativen und interaktiven Funktionen von den Erzählenden und von den Zuhörerenden als kommunikative und als interaktive Aufgabe bzw. Leistung wahrgenommen werden. Die erste Funktion bzw. Aufgabe wird über die (Re-)Konstruktion narrativer Inhalte, die zweite über die gemeinsame narrative Tätigkeit realisiert. Zu den wesentlichen narrativen Inhalten rechnen Quasthoff und Gühlich übereinstimmend die – vom Zeitpunkt des Erzählens aus gesehen – zurückliegenden bzw. als zurückliegend imaginierten Handlungen bzw. Ereignisse und Vorkommnisse1. In der „situativ angemessenen, adressatenbezogenen Rekonstruktion der Ereignisse“ (Quasthoff 2001: 1303) besteht die kommunikative Hauptaufgabe des Erzählens. Auf Seiten der Erzählenden erfordert diese Aufgabe eine produktive, auf Seiten der Zuhörenden eine rezeptive Narrativierungsleistung. Auf der Ebene der Interaktion besteht diese Aufgabe im Elaborieren bzw. Dramatisieren der Handlung. Diese und weitere interaktive Aufgaben werden in der Gesprächslinguistik als „gesprächsorganisatorische Jobs“ (a.a.O.: 1302f.) der Teilnehmerinnen und Teilnehmer des narrativen Diskurses aufgefasst.

In dem von Quasthoff entwickelten Modell der narrativen Gesprächsorganisation fungieren die o. g. gesprächsorganisatorischen Jobs als Kriterien der Sequenzierung der narrativen Diskurseinheit, indem sie entweder eine Sequenz einleiten, abschließen oder steuern. Mit der Anwendung des Modells auf den Klassenzimmerkontext wird zum einen das Instrument der Globalsequenzierung2 der mündlichen narrativen Interaktion, zum anderen – im Abgleich mit der Gesprächssituation des Alltags – ein Instrument zur Bestimmung der Spezifika der narrativen Jobs im fremdsprachlichen Kontext gewonnen. Sequenzierung und Jobs der Diskurseinheit sollen deshalb im Folgenden kurz vorgestellt und anhand einer auf Quasthoff rekurrierenden Visualisierung veranschaulicht werden. Ersetzt man den gesprächsanalytischen Begriff turn-by-turn-talk durch ‚Klassenzimmerdiskurs‘ und ergänzt den Job des Elaborierens / Dramatisierens durch die in der Studie relevante Aufgabe der performativen Gestaltung, so ergibt sich folgender Ablauf mit folgenden narrativen Aufgaben: Verlassen der Unterrichtsdiskursebene durch Darstellen der Erzählrelevanz, Thematisieren, Elaborieren / performatives Gestalten, Abschließen der Erzählung, Überleiten in den auf die Erzählung folgenden Unterrichtsdiskurs.

Zur Visualisierung des Erzählprozesses und der Sequenzierung wählt Quast­hoff die Form einer Schüssel (Quasthoff 2001: 1302), die in der folgenden Abbildung (Abb.2) beibehalten wurde. Damit sollen die Übergänge von der Diskurswelt des turn-by-turn-talk bzw. des Klassenzimmerdiskurses in die Diskurswelt des Narrativen verdeutlicht werden. Die Höhe bzw. Breite der Schüssel kann bei Darstellung von Einzelfällen den jeweiligen Beispielen angepasst werden. Wird der Übergang von der einen in die andere Welt kurz gehalten, kommt eine flache Schüssel zustande, dauert sie länger, ist die Schüssel tief usw.

Abb. 2:

Narrative Jobs in einer narrativen Diskurseinheit im Fremdsprachenunterricht. Nach: „Gesprächsorganisatorische Jobs einer narrativen Diskurseinheit“ (Quasthoff 2001: 1302)

Mit der Übernahme der narrationsspezifischen Jobs werden folgende Tätigkeiten ausgeführt

 Mit dem Darstellen von Inhalts- / Form- / Unterrichtsrelevanz „wird in der Regel ein Hintergrund etabliert, auf dem sich die Erzählung entwickeln kann“ (Gülich / Hausendorf 2000: 376). In der Unterrichtssituation wird es voraussichtlich darum gehen, den Grund, die Bedeutung, das Procedere der Performance zu erläutern bzw. diese anzukündigen. Inhaltsbezogen ist diese Ankündigung dann, wenn sie bereits Hintergrund­informationen zur Geschichte liefert, formbezogen, wenn sie sich auf die Form der Präsentation, unterrichtsrelevant, wenn sie sich auf fremdsprachliche Zielsetzungen bezieht.

 Das Thematisieren macht die nun folgende Geschichte für den Zuhörer erwartbar. Die Erzählenden erwerben sich mit der Ankündigung eines besonders erzählwürdigen Inhalts der Geschichte die „Eintrittskarte“ (Quasthoff 2001: 1297) zum Erzählen – das Recht auf die Rolle des „primären Sprechers“3.

 Mit dem Elaborieren und Dramatisieren wird die narrative Hauptaufgabe, d.h. die der Darstellung bzw. (Re-)Konstruktion der Ereignisse, übernommen. In der Gesprächslinguistik wird zwischen zwei Formen der Darstellung unterschieden: dem Elaborieren, bei dem das Geschehen eher als Bericht präsentiert wird, und dem Dramatisieren, das Elemente der szenischen Gestaltung einbezieht.

 Das Abschließen stellt „das Pendant zum Thematisieren“ (Gülich / Hausendorf 2000: 380) dar. Die im Laufe der Handlung aufgetretene Komplikation wird aufgelöst, das Ende der Geschichte markiert.

 Das „Überleiten [leistet] die Einbettung der narrativen Einheit in die anschließende Kommunikation“ (Gülich / Hausendorf 2000: 381) ‒ im Falle der Erzählstunden in den folgenden Unterrichtsdiskurs.

Zentral für die Anwendung des gesprächslinguistischen Modells und seiner Elemente auf den Fremdsprachenunterricht sind die theoretischen Vorannahmen, dass „jede Art direkter Kommunikation in ihrer Struktur eine gemeinsame Leistung der beteiligten Partner darstellt“ (Quasthoff 2001: 1301), dass die interaktiven Strukturen auf der „manifesten Oberfläche des verbalen und sonstigen Interaktionsgeschehens“ (a.a.O.) beobachtbar sind und stets „adressatenbezogen kontextualisiert“ (a.a.O.) auftreten.

Die unterschiedlichen Formen und möglicherweise auch der unterschiedliche Grad an Gemeinsamkeit der interaktiven Leistungen bilden einen der Schwerpunkte meiner empirischen Untersuchung, bei der ich als Beobachtungs- und Analyseinstrumente folgende Elemente des gesprächslinguistischen Modells anwenden werde: die narrationsspezifischen Jobs, die pragmatischen und die ästhetisch-verbalen sowie die performativen Mittel, mit denen sie realisiert werden.

Was die Gemeinsamkeit in der Wahrnehmung der narrationsspezifischen Jobs der Interakteure betrifft, so gehe ich – Quasthoff folgend – davon aus, dass sie in der Übernahme ihrer Rollen als Erzählende (Produktion) und Zuhörende (Rezeption) besteht. Beobachtbar ist die Wahrnehmung der Jobs anhand der zum Einsatz kommenden pragmatischen Mittel. Zu diesen zähle ich die Handlungszüge der Akteure, die entweder die Globalsemantik der Erzählung (wie z.B. das Beachten der Chronologie der Ereignisse auf Seiten der Erzählenden und den Versuch des Identifizierens wichtiger Erzählbausteine auf Seiten der Zuhörenden) oder die Interaktionsebene (wie z.B. den Einsatz von Frage-Antwort-Sequenzen) betreffen.

 

Was die verbalen Mittel zur Realisierung der Jobs betrifft, so interessieren in meinem Forschungskontext vor allem die Mittel zur Gliederung der Textoberfläche, die sog. Diskursmarker. Die Diskursmarker stellen für die Erzählenden ein wichtiges Instrumentarium zur Gestaltung ihrer Aufgabe des Elaborierens dar. Für die Rezipierenden in der mündlich-fremdsprachlichen Kommunikation können sie als Verstehenshilfe genutzt werden, um die Textbausteine und den Erzählplan (s. dazu Ehlers 1998: 200) zu identifizieren und zu verfolgen, d.h. um die im Unterricht geforderte Narrativierungsleistung zu erbringen.

Von besonderem Interesse für meine Untersuchung ist auch die Annahme einer adressatenbezogenen Kontextualisierung der narrativen Jobs und der Gestaltungsmittel. Der Adressatenbezug betrifft u.a. die Textauswahl und -bearbeitung durch die Lehrkräfte und das Prinzip der Erzählwürdigkeit, das im Folgenden thematisiert wird.