Mündliches Erzählen als Performance: die Entwicklung narrativer Diskurse im Fremdsprachenunterricht

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2.2.3 Forschungsentscheidungen der empirischen Studie

Aus den Forschungszielen, dem Kontext der Datenerhebung und den im Folgenden erläuterten Forschungsentscheidungen ergibt sich das qualitative Paradigma der Studie (s. für die Sozialwissenschaften Bortz / Döring 2006: 296ff., Flick / Kardorff von / Steinke 2007b: 13-23, Prengel / Friebertshäuser / Langer 2010: 17-39, für die Fremdsprachenforschung Hu 2001: 12f.; Caspari / Helbig / Schmelter 2007: 499, Grotjahn 2006: 247-270, 2007: 494f., Riemer 2006: 454, Schramm 2016: 52). Da es im empirischen Teil der Studie darum geht, die narrativen Interaktionen der Akteure des Unterrichts in deren Aktionsfeld situationsbezogen zu erforschen und daraus Erkenntnisse über den Gebrauch der Potenziale mündlichen Erzählens als Performance zu gewinnen und da zur Auswertung der Daten interpretative Verfahren angewandt werden sollen, liegt eine Festlegung auf das explorativ-interpretierende Paradigma vor, in dem

[…] das Ziel verfolgt [wird], zu einem Verstehen komplexer Zusammenhänge zu gelangen, wie sie beim Lehren und Lernen von Fremdsprachen entstehen. Dieses Verstehen geschieht mittels einer detaillierten und zugleich umfassenden Beschreibung und Interpretation des entsprechenden Wirklichkeitsbereichs (Exploration). (Caspari /Helbig / Schmelter 2007: 499)

Die beiden von mir gewählten diskursiven Daten, der Erhebungskontext und die gewählten Untersuchungsperspektiven geben der Studie eine ethnografische Ausrichtung, für die eine wichtige Einschränkung gilt: Die Datensammlung erfolgt nicht „unter hochgradig unkontrollierten Bedingungen“ (Schramm 2016: 51). Andere, für die ethnografische Forschung wesentliche Merkmale treffen jedoch auf meine Studie zu. Im Rekurs auf die von Müller-Hartmann vorgetragenen Prinzipien ethnografischer Forschung für das fremdsprachliche Klassenzimmer lassen sich folgende ethnografische Charakteristika meiner Studie festhalten (Müller-Hartmann 2001)1: die Forschung in natürlichen Settings (Kap. 2.1.1), die aktive Rolle der Beforschten innerhalb des Forschungsprozesses (Kap. 8.1), die Verknüpfung der Außensicht auf den Forschungsgegenstand mit der Innensicht der Akteure (Kap. 10) und eine mehrfache Perspektivierung des Forschungsgegenstandes durch Daten- und Methodentriangulation (Kap. 12.4).

Einzelfallstudien als Basisdesign der empirischen Studie

Die Wahl des Basisdesigns ergibt sich aus dem Weiterbildungskontext. Dieser bietet die Möglichkeit, die Unterrichtsprojekte der Teilnehmerinnen und -teilnehmer als Forschungsgrundlage zu wählen. Zwischen den Polen Einzelfall und Vergleichsstudie ist meine Studie in einer Zwischenstufe (Flick 2007a: 254) angesiedelt und „stellt die Verbindung mehrerer Fallanalysen dar, die als solche durchgeführt werden und dann komparativ oder kontrastierend gegenüber gestellt werden.“ (Flick a.a.O.) Dabei wird ein in der Fremdsprachendidaktik angewandtes „engeres Verständnis von Fallstudie zugrunde gelegt: Fallstudie verstanden als eine mehrmethodische Untersuchung unterschiedlicher Konstituenten eines oder mehrerer komplexer Fälle.“ (Caspari 2016b: 69).

Die Verknüpfung der Einzelfallstudie mit Prinzipien von Aktionsforschung

Legt man die von der Bildungswissenschaft und seit den 2010er Jahren auch in der Fremdsprachendidaktik vertretene Konzeption von Praxis- und Aktionsforschung2 zugrunde, so sind einige wichtige Charakteristika von Aktionsforschung in den Projekten der Weiterbildungslehrkräfte realisiert (Altrichter/Posch 2007: 15ff., Altrichter / Aichner / Soukup-Altrichter / Welte 2010: 803, Hermes 1997: 5ff., Bergfelder-Boos 2011, Prengel 2010: 785f., Caspari 2016c: 72f.). Dazu gehört vor allem der subjektbezogene Ansatz, denn in diesem Projekt sind Lehrkräfte nicht nur ‚Beforschte‘, sondern werden selbst als Forschende ihres eigenen Unterrichts tätig. Weitere Merkmale von Aktionsforschung sind die innovative, auf die Weiterentwicklung ihrer Praxis ausgerichtete Zielsetzung der Projekte, ferner die prozesshafte Verbindung von Aktion im Unterricht und Reflexion in der Weiterbildung, die Perspektivierung der Forschung durch Einbeziehung unterschiedlicher Sichtweisen sowie die kollegial-kooperativen Arbeitsformen und die Einbettung der Forschung in eine professionelle Gemeinschaft. Ein weiteres Merkmal – eine aus der Praxis sich ergebende Fragestellung – trifft nur bedingt zu, denn die Motivation zur Erkundung des Potenzials mündlichen Erzählens ist zwar eine für die Praxis relevante Fragestellung, sie entstand jedoch außerhalb des Praxisfeldes3. Nur in Ansätzen vorhanden ist der „wissenschaftlich-reflexive Habitus“ (Altrichter / Posch 2007: 337), der sich in einem systematischen methodischen Vorgehen realisieren müsste, das Prengel für die Praxisforschung wie folgt beschreibt:

Alle systematischen Methoden der Praxisforschung enthalten im Kern zwei Phasen: erstens diagnostizieren sie „was ist“, zweitens entwerfen sie, „wie es weitergeht“. Die vorhandene Perspektive auf den „Fall“ wird analysiert und zum Ausgangspunkt genommen für intendierte und inszenierte Suche nach neuen Perspektiven. (Prengel 2010: 791)

Für die Lehrkräfte dieser Weiterbildung wird ihre eigene Unterrichtssituation nicht zum ‚Fall‘. Sie führen weder eine selbstständige Datenerhebung wie z.B. eine Befragung der Schülerinnen und Schüler noch eine systematische Datenauswertung auf der Grundlage ausgewiesener methodischer Verfahren durch. Die sehr zeit- und arbeitsaufwändige Projektarbeit sollte machbar, die inhaltlichen und organisatorischen Anforderungen sollten überschaubar sein. Aus den bisher erläuterten Aspekten folgt, dass die Projektarbeit der Lehrkräfte lediglich Elemente von Aktionsforschung enthält. Diese verleihen ihr ein besonderes Profil, das in Abgrenzung vom o. g. wissenschaftlich-reflexiven Habitus als experimentierend-reflektierend charakterisiert werden kann. Anders verhält es sich mit dem Projekt der Forscherin. Für sie stellen die Ergebnisse der Unterrichtsprojekte die Einzelfälle dar, die systematisch, anhand ausgewiesener Forschungsmethoden untersucht werden. Chancen und Herausforderungen dieses Forschungskontextes werden im Zusammenhang mit der Präsentation der Projektarbeit und der Darstellung der Datenerhebung erläutert (Kap. 8.1).

2.3 Forschungsverfahren und Forschungsinstrumente

Zur Umsetzung der Zielsetzungen und Forschungsentscheidungen wähle ich einen Mehr-Methodenansatz, mit dessen Hilfe sich eine reichhaltige und detaillierte Beschreibung des Forschungsgegenstandes realisieren lässt (Riemer 2006: 452).

2.3.1 Datenerfassung und -gewinnung

Zur Durchführung der empirischen Studie werden einige für den ethnografischen Ansatz und die Einzelfallstudie typische Verfahren der Datenerfassung und -gewinnung eingesetzt: die Sammlung unterrichtsbezogener Dokumente (1), die Beobachtung (2) und die Befragung (3).

1 Das Erfassen von Dokumenten (Kap. 2.2.2), die im Rahmen der Projektarbeit entstehen, bietet sich an, weil diese den Arbeitsprozess der Lehrkräfte und die Ergebnisse der narrativen Aktivitäten der Lernenden auf besonders gewinnbringende Weise abbilden:Der große Gewinn der Arbeit mit unterrichtsbezogenen Texten liegt darin, dass diese nicht gezielt für Forschungszwecke verfasst wurden, sondern in natürlichen Kontexten entstanden sind. Das heißt, dass es keine durch Designs und Instrumente sonst notwendigerweise einhergehende Beeinflussungen, Begrenzungen und Artefakte gibt, sondern dass sie das Resultat authentischer Lehr-/Lern- bzw. Aus- und Weiterbildungssituationen in der Gegenwart oder der Vergangenheit sind. (Caspari 2016e: 200)

2 Das Verfahren der Beobachtung bietet sich an, weil auf diese Weise die Gestaltung der Erzählperformances und die narrative Interaktion der Akteure der Erzählstunden erfasst werden können. Als Instrument der Beobachtung werden die direkte Beobachtung und die Videografie eingesetzt. Die direkte Beobachtung nutze ich, um mir einen unmittelbaren, nicht durch die Kamera gefilterten akustischen und visuellen Eindruck von der unterrichtlichen Aktion und dem ästhetischen Erlebnis der Performances zu verschaffen. Ich führe sie durch als observer-as-participant (Schramm / Götz 2016: 143) aus überwiegend etischer Perspektive (s. die Diskussion dieser Problematik in Kap. 8.1.3). Allerdings nutze ich das Instrument der direkten Beobachtung nicht zur Auswertung des empirischen Materials, sondern stütze mich auf das zweite Erhebungsverfahren, die Videografie. Die Videografie eignet sich in besonderem Maße zur mehrdimensionalen Erforschung des mündlichen Erzählens. Das Datenmaterial ist dynamisch und vielschichtig (Burwitz-Melzer 2001: 137), weil es sowohl das Verbale als auch das Non-Verbale, das Körperliche und das Atmosphärische einfängt und Möglichkeiten bietet, das Material in Mikro- und Makrosequenzen einzuteilen und damit einzelne Szenenausschnitte, aber auch den Gesamtablauf in den Blick zu nehmen.

3 Das Verfahren der Befragung von Lehrenden und Lernenden bietet sich an, weil mit ihrer Hilfe die Innenperspektive der Akteure erforscht werden kann:Mit Blick auf das allgemeine Erkenntnisinteresse der Erforschung des Lehrens und/oder des Lehrens von Fremd- und Zweitsprachen, bietet es sich häufig an, hierfür gerade die Protagonisten – die Lehrenden und Lernenden – selbst mit ihrer Binnensicht zu Wort kommen zu lassen. Es hat aber auch damit zu tun, dass viele Untersuchungsgegenstände (wie etwa Erfahrungen, Einstellungen, Motivationen oder Haltungen von Lehrenden und Lernenden) nicht aus der Außenperspektive beobachtbar sind […]. (Riemer 2016: 155)Als Erhebungsinstrument dient mir das leitfadengestützte Interview mit halboffenen Fragestellungen. Dieses Format hat gegenüber dem erzählgenerierenden Interview den Vorteil, dass ich die theoretischen Vorannahmen zum Potenzial mündlichen Erzählens in die zu erfragenden Themenkomplexe einbeziehen, die Interviewten nach einem einheitlichen Fragengerüst befragen und gleichzeitig auch vertiefende, auf den spezifischen Fall eingehende Zusatzfragen stellen kann:Leitfaden-Interviews setzen ein Vorverständnis des Untersuchungsgegenstandes auf Seiten der Forschenden voraus, denn das Erkenntnisinteresse richtet sich in der Regel auf vorab bereits als relevant ermittelte Themenkomplexe. Deren Bedeutung kann sich aus Theorien, eigenen theoretischen Vorüberlegungen, bereits vorliegenden Untersuchungen, ersten eigenen empirischen Befunden oder eigener Kenntnis des Feldes ableiten. (Friebertshäuser / Langer 2010: 439)Die Interviews sollen retrospektiv im Anschluss an die Erzählstunden als Gruppeninterviews geführt werden. Ich gehe davon aus, dass die Interviewpartnerinnen und -partner unmittelbar nach einer gemeinsam gestalteten Erzählstunde ein Bedürfnis nach Austausch haben, das sie in das Interviewgespräch hineintragen können. Ihre Interaktion kann als zusätzliche Erkenntnisquelle genutzt werden (Caspari / Helbig / Schmelter 2007: 502, Deutsch 2016: 95). Darüber hinaus sind pragmatische Gründe ausschlaggebend, denn die Gruppendiskussion ist weniger zweitaufwändig und lässt sich unter schulorganisatorischen Bedingungen besser realisieren als Einzelinterviews.

 

2.3.2 Datenauswertung

Zur Auswertung der Dokumente und Daten werden folgende interpretative Verfahren angewandt:

1 Texte und Dokumente werden mithilfe funktionaler Textanalysen untersucht. Die Kriterien dieser Analysen werden im konzeptionellen Teil der Studie entwickelt.

2 Um die Vielschichtigkeit und Dynamik der Erzählstunden anhand der Videoaufnahmen zu erfassen, werde ich Analyseverfahren entwickeln, mit deren Hilfe ich unterschiedliche Aspekte im Detail und in ihrem Zusammenwirken untersuchen kann. Dazu gehören die gesprächsanalytische (Kap. 9.2.2.2, Kap. 9.3.2.1) und die theatersemiotische Analyse der Erzählperformances (Kap. 9.2.2, Kap. 9.3.2) sowie die Interaktionsanalyse der narrativen Aktivitäten (Kap. 9.2.3, Kap. 9.3.3). Die Analysen erfolgen auf der Basis von Kriterien der Analysemodelle, die ebenfalls im konzeptionellen Teil erarbeitet werden.

3 Um die Innenperspektive der Akteure möglichst unvoreingenommen zu erfassen, werde ich die Leitfadeninterviews durch eine Kombination von zusammenfassender und strukturierender Inhaltsanalyse (Mayring / Brunner 2010: 328; Schmidt 2010: 473-486) auswerten.

Einen Überblick über die dem Forschungsdesign zugrunde liegenden methodischen Entscheidungen enthält die folgende Übersicht:


Methodologie Theoretische Rahmung Datenauswahl, Datenerhebung und -auswertung
Forschungstradition:- theoretische Forschung&- empirische Studie Generalisierungsziel:- Potenzi­alemodell- Analysemodelle- Konzepte für die Unterrichtspraxis Grundlagen der Theoriearbeit: - intermediale Narratologie- semiotische Performancetheorie- Theorien des Erzählerwerbs- Erzähldidaktik Empirische Arbeit:- Einzelfälle- Ethnografie- Elemente von Aktionsforschung Methoden der Erhebung ausgewählte Daten Methoden der Auswertung
Beobachtung Videoaufnahmen - semiotische Analyse- Interaktionsanalyse
Dokumentensammlung - Märchentext- Unterrichtsdokumente - funktionale Textanalyse
Befragung Leitfadeninterviews - Inhaltsanalyse

Tab. 1:

Das Forschungsdesign der Studie im Überblick

2.4 Chancen, Herausforderungen, Konsequenzen des komplexen Vorhabens

Neben der Chance auf eine vielfältige Erkundung des Gegenstandes und seiner Einsatzmöglichkeiten hält der komplexe Ansatz der Studie aber auch Stolpersteine bereit. Für die Forscherin bedeutet es eine Herausforderung, das Vorhaben in einer für das Format der Studie und die zur Verfügung stehenden Ressourcen angemessenen Form zu bewältigen. Aus dieser Situation habe ich folgende Konsequenzen gezogen:

Exemplarisches Vorgehen

Aus der Vielzahl erzähltheoretischer Arbeiten greife ich auf die in der aktuellen Erzählforschung aufgrund ihrer wegweisenden, impulsgebenden Ansätze meist rezipierten Autorinnen und Autoren zurück und untersuche ihre Texte exemplarisch für die von ihnen vertretenen Forschungsrichtungen. Dasselbe gilt für alle weiteren Disziplinen (Kap.2.2.2) und die Auswahl der empirischen Studien (Kap. 2.5).

Materialreduktion

Was das erhobene Datenmaterial betrifft, so werde ich den Datensatz reduzieren und lediglich zwei Erzählstunden und die dazu gehörenden Interviews für eine systematische Datenaufbereitung und -auswertung vorsehen (zur Begründung der Auswahl s. Kap. 8.2.2). Die andern drei Erzählstunden werden in Form von Kurzberichten so aufbereitet, dass sie punktuell ergänzend herangezogen werden können.

Umfang und Tiefe der theoretischen und empirischen Analyse

Im Gegenzug zur Materialreduktion setze ich auf Tiefe und Präzision der Analyse. Aus diesem Grund werde ich ein umfangreiches Repertoire non-verbaler Zeichen zusammenstellen (Kap. 4.3) und deren performative Verwendung in den Erzählstunden (Kap. 9) analysieren. Die detaillierte Darstellung hat den Vorteil, reiches Material für die Entwicklung des Erzählkonzepts und Anschauungsmaterial für interessierte Praktikerinnen und Praktiker zu liefern, sie hat aber auch den Nachteil eines umfangreichen Textvolumens. Die Zusammenfassung der Ergebnisse am Ende des Kapitels (Kap. 9.4) bietet dafür einen Ausgleich.

Spiralförmiges Vorgehen und Bearbeitungszeit

Die relativ lange Bearbeitungszeit und das Hin und Her zwischen theoretischer und empirischer Arbeit bot die Chance, theoretische Ansätze und Analyseinstrumente zu überarbeiten und zu schärfen sowie neue Impulse aufzunehmen. Dies betrifft vor allem einige empirische Studien, die ich vor, während und auch nach Abschluss der Datenauswertung nicht als Forschungsgrundlage (Kap. 2.2.2), sondern als Impulsgeber für ausgewählte Aspekte der Potenzialrecherche nutzen konnte. Diese Zusammenhänge werden im folgenden Kapitel gezeigt.

2.5 Impulsgebende empirische Untersuchungen zum mündlichen Erzählen

Die von mir ausgewählten empirischen Untersuchungen sind – mit einer Ausnahme – in den Nullerjahren der Erst-, Zweit- und der Fremdsprachenforschung entstanden. Es handelt sich um Studien zur Sprach- und Erzählentwicklung vor allem von Kindern im Grundschulalter (Becker 2013a). Sie sind für mein Forschungsprojekt von besonderem Interesse, weil sie ihre Fragestellungen mit denen der Erzählforschung und -didaktik verbinden. Ziel der Erzählforschung der Nullerjahre war es, in kritischer Auseinandersetzung mit den Ergebnissen der Erzählforschung der 80er und 90er Jahre (z.B. dem Stufenmodell von Boueke et al. 1995) Neuansätze einer Erzähldidaktik zu entwickeln, die bisher vernachlässigte Faktoren der Erzählentwicklung und ihrer Förderung in der Schule berücksichtigt. Dazu gehören z.B. die Abhängigkeit der Erzählkompetenz von der Erzählsituation und dem Erzählgenre (Becker 2013b) sowie die Aktivierung von Ressourcen des Wissens und Könnens der Lernenden und der Erzählsituation (Schramm 2006). In den Zehnerjahren ziehen Becker / Wieler 2013b in dem von ihnen herausgegebenen Sammelband Erzählforschung und Erzähldidaktik heute eine erste Bilanz der Bemühungen um Einwirkung auf die Erzählwirklichkeit der Schule:

Der Blick auf die Schulpraxis stellt sich für die gegenwärtige Erzählforschung und Erzähldidaktik als besondere Herausforderung dar, zumal dort trotz der festen Verankerung im Curriculum, und damit auch im Unterricht vor allem der Primarstufe, weder ein erzähldidaktisches Konzept noch ein Konzept von Erzählen selbst konsensfähige Verbreitung gefunden haben. Als mögliche Ursache dafür wurde angeführt, dass viele didaktische Ansätze unvermittelt nebeneinander stehen, und selbst aktuelle Förderkonzepte für das Vor- und Grundschulalter schwer miteinander vereinbar sind. Damit einher geht wiederum, dass maßgebliche Erkenntnisse der Erzählforschung die (Vor-)Schulpraxis nicht erreichen. (Becker / Wieler 2013b: 7f.)

Das von Becker / Wieler evozierte Desiderat, das sich auf den Erstsprachenunterricht bezieht, stellt für mich einen wichtigen Anknüpfungspunkt dar. In meinem Forschungsansatz verbindet sich – wie von Becker / Wieler angemahnt – die Suche nach dem Potenzial mündlichen Erzählens mit der Absicht, die konkreten Bedingungen des Erzählens anhand konkreter Unterrichtsaktionen zu erforschen und auf dieser Basis ein konsensfähiges performatives Erzählkonzept für den Fremdsprachenunterricht zu entwickeln. Möglicherweise kann die Verknüpfung von Weiterbildung und Elementen von Aktionsforschung, die meiner Forschungsarbeit zugrunde liegt, einen Beitrag zu der von Becker / Wieler anvisierten Praxiseinwirkung leisten (Kap. 11.3.3).

Die ausgewählten empirischen Studien werden im Folgenden kurz vorgestellt und deren Impulse für die Studie benannt.

Flader / Hurrelmann 1984: eine Studie zum freien Erzählen in der Erstsprache

Die von Dieter Flader und Bettina Hurrelmann zu Beginn der 80er Jahre durchgeführte Studie zum freien Erzählen im Unterricht (1984: 223-241) ist für meine Studie im Hinblick auf ihre Fragestellungen und Analysekriterien von Interesse. Flader / Hurrelmann untersuchen, ob und unter welchen Bedingungen das freie, spontane, alltägliche Erzählen im Unterricht möglich ist. Das empirische Material der Studie bilden die in der Erstsprache der Probanden durchgeführten Erzählstunden in zweiten und dritten Grundschulklassen. Zielgenre ist die mündlich erzählte Erlebnisgeschichte. Die Analyse der Erzählstunden geht zwei Leitfragen nach:

Welche Idee von einer ‚guten Erzählung‘ dient dem Lehrer, der ‚freies‘ Erzählen in den Unterricht aufnimmt, als Orientierungspunkt für seine Kommentare und Interventionen? […] Welche Konflikte ergeben sich für den Lehrer und die Schüler aus dem Transfer der Form des alltäglichen Erzählens in die Unterrichtssituation? (Flader / Hurrelmann 1984: 226)

Zur Analyse der Aktivitäten von Lehrenden und Lernenden wird ein dreigliedriges Interaktionsschema zur Einbettung des Erzählens in den Klassenzimmerdiskurs entwickelt. Auf der Basis des Interaktionsschemas werden Charakteristika der narrativen Interaktion zwischen den erzählenden Kindern und den Lehrkräften, die die Erzählungen der Kinder begleiten, herausgearbeitet. Zwei Impulse für meine Studie zum Erzählen als Performance ergeben sich aus den Erzählstundenanalysen von Flader / Hurrelmann:

1 Die von ihnen erarbeiteten Einmischungsstrategien der Lehrkräfte boten mir schon vor der Lektüre der Studie von Schramm 2006 Anregungen zur Entwicklung von Kriterien zur Analyse der Rolle von Lehrkräften in der narrativen Interaktion.

2 Die Frage nach den Vorstellungen der Lehrkräfte von einer ‚guten Erzählung‘ und nach möglichen Konflikten, die sich aus dem Transfer dieser Vorstellungen in die Unterrichtspraxis ergeben und die nach Einschätzung von Becker / Wieler (2013b) immer noch ein Problem der Erzählpraxis in der Schule darstellen, haben mich dazu angeregt, die Rolle von Erzählkonzepten der Weiterbildungsstudierenden zu reflektieren und sie in die Interpretation meiner Analyseergebnisse einzubeziehen.

 

Karen Schramm 2006: eine Studie zur Interaktion bei Erzählungen in der Zweitsprache

Die von Schramm durchgeführte Studie zur narrativen Interaktion in der Grundschule (mit dem Schwerpunkt Deutsch als Zweitsprache) ist für meine Studie interessant im Hinblick auf die Weiterentwicklung der Kriterien zur Analyse von Lehrkräftestrategien (Flader / Hurrelmann 1984), die Schramm als narrative Scaffolding-Verfahren vorstellt. Das empirische Material der Studie bilden Interaktionen von Lehrkräften mit Schülerinnen und Schülern der ersten und zweiten Klassen der Grundschule, von denen im Durchschnitt 80 Prozent Deutsch als Zweitsprache sprechen. Schramm untersucht das Potenzial schulischen Erzählens für die langfristige zweitsprachige Förderung in der Grundschule. Eine entscheidende Rolle spielt dabei das narrative Scaffolding, d.h. die Unterstützung der Lernenden durch soziale Interaktion. Ausgehend von der Unterscheidung zwischen

[…] Korrekturen, bei denen der Sprecher seinen Mitteilungsfokus aufgibt, und Reparaturen, bei denen der Sprecher seine Äußerungsabsicht mit Hilfe des Hörers realisieren kann (Schramm 2006: 171),

legt Schramm ihren Untersuchungen die drei folgenden Analysekriterien zugrunde: „(a) Selbst- vs. Fremdinitiierung, (b) Selbst- vs. Fremddurchführung, (c) Reparatur vs. Korrektur.“ (a.a.O.) Den von ihr untersuchten Interaktionsbeispielen entnimmt sie zwei unterschiedliche Scaffolding-Verfahren. Das erste wird durch sog. didaktische Fragen (Schramm 2006: 173f.) umgesetzt. Diese dienen der Lehrkraft meist nicht zur Klärung von Verständnisproblemen, sondern zur Fehlerkorrektur und Ausrichtung der Erzählung nach ihren Vorstellungen bzw. der Orientierung am Original. Das zweite erfolgt durch sog. genuine Fragen (Schramm 2006: 176), affektive Markierungen und inhaltliche Erweiterungen. Diese Verfahren dienen dem „Ausbau der Geschichte“ (a.a.O.). Das erste Verfahren birgt die Gefahr, dass der Sprechende seinen Beitrag abbricht, das zweite hilft ihm, seine Sprechabsicht weiterzuverfolgen. Die Unterscheidung zwischen narrativer Korrektur und narrativer Unterstützung und zwischen den beiden kommunikativen Absichten nehme ich als weitere Anregung zur Entwicklung von Analysekriterien der narrativen Interaktion.

Tabea Becker 20134: eine Studie zur Erzählentwicklung in der Erstsprache

Die von Becker Ende der 90er Jahre im Rahmen ihrer Dissertation (2001)1 durchgeführte Untersuchung zur Erzählentwicklung von Kindern im Vorschul- und Grundschulalter ist für meine Studie von Interesse im Hinblick auf ihre zentrale Frage nach dem Zusammenhang von Erzählleistung und Erzählform und im Hinblick auf die ihrer Erzählanalyse zugrunde gelegten Untersuchungsdimensionen und Analyseinstrumente. Becker untersucht vier verschiedene, von den Kindern erzählte Formen: Erlebnis- und Phantasiegeschichten, die sie Primärerzählungen zuordnet, sowie Bildergeschichten und Nacherzählungen, die sie reproduktiven Erzählungen zurechnet. Zur Analyse der vier Erzählformen entwickelt Becker in Auseinandersetzung mit verschiedenen erzähltheoretischen Ansätzen, vor allem mit dem interaktiven Ansatz von Hausendorf / Quasthoff (1996) und dem schematheoretischen Ansatz von Boueke / Schülein (1991), einen dreidimensionalen Erzählbegriff2, der für die Entwicklung meines Erzählmodells relevant ist. Folgende Impulse für meine Studie ergeben sich aus ihrer Untersuchung:

1 Von großem Interesse sind die Zusammenhänge, die Becker zwischen den Bedingungsfaktoren mündlichen Erzählens nachweist. Sie zeigt, dass sich eine Passung zwischen der Präsentation der Erzählung und der Erzählsituation positiv auf die Erzählungen der Lernenden auswirkt3. Dieser Passung werde ich bei der Analyse der Erzählstunden nachgehen.

2 Als wichtigsten Impuls ihrer Studie kann ich die von ihr recherchierten narrationsspezifischen Kriterien der Analyse von Erzähltexten und -diskursen zur Konstruktion von Analysemodellen nutzen (Kap. 3.1.1, Kap. 5.3.1).

Ahrenholz 2006b: eine Studie zur Entwicklung mündlicher Sprachkompetenz

Die unter Ko-Leitung von Bernt Ahrenholz im Rahmen des DFG-Projekts FöDaZ4 von 2003 bis 2005 durchgeführte Studie (Ahrenholz 2006a: 91-109) zur Entwicklung mündlicher Sprachkompetenzen bei Schülerinnen und Schülern mit Migrationshintergrund ist für meine Studie von Interesse wegen ihrer detaillierten, erzähltheoretisch basierten Analyseinstrumente und eines ihrer zentralen Ergebnisse. Ziel der Studie von Ahrenholz ist eine empirisch basierte Beschreibung mündlicher Sprachkompetenzen von Schülerinnen und Schülern dritter und vierter Grundschulklassen. Informanten sind 29 Schüler mit Migrationshintergrund und acht Kinder mit Deutsch als Erstsprache aus zwei unterschiedlichen Berliner Grundschulen. Schwerpunkt der Untersuchung sind die Diskurstypen Beschreiben und Erzählen und – bezogen auf die Diskursformen – vor allem Fragen der Kohärenzbildung. Erzählaufgaben für die Schülerinnen und Schüler sind freie Erlebniserzählungen sowie Nacherzählungen von Filmen, mündlich präsentierten Geschichten und Bilderfolgen. Für meine Studie ergeben sich folgende Impulse:

 Mit der Unterscheidung von Haupt- und Nebenstrukturen einer Erzählung nach dem Quaestio-Modell (Kap. 3.1.1) gewinnt Ahrenholz ein Instrument für eine präzise Beschreibung von Erzählkompetenzen im Erstspracherwerb.

 Die Ergebnisse seiner Studie zeigen einen Zusammenhang von fortgeschrittener Sprachkompetenz und häufigem Einsatz von Hauptstrukturen und Ausgestaltung von Nebenstrukturen – gegenüber einer Fokussierung auf das „Skelett einer Handlung“ (Ahrenholz 2006b: 106).

Beide Ergebnisse werde ich als Anregung zur Gestaltung der Analysemodelle gebrauchen.

Diehr / Frisch 2008: eine Studie zur Förderung und Beurteilung von Sprechleistungen im Englischunterricht der Grundschule

Die unter Federführung von Diehr und Frisch von 2005 bis 2007 durchgeführte TAPS-Studie (Testing and Assessing Spoken English in Primary Scool) zur Feststellung und Beurteilung der Sprechleistungen von Grundschülerinnen und -schülern im frühen Fremdsprachenunterricht Englisch ist für meine Studie von Interesse wegen ihres praxisbezogenen Forschungsansatzes und ihres diskursspezifischen Schwerpunkts. Den Forscherinnen der TAPS-Studie ging es vor allem um die Bereitstellung von standardbasierten und gleichzeitig praxistaug­lichen Diagnoseinstrumenten für die Unterrichtspraxis. Diese wurden in Kooperation mit Lehrkräften der Grundschule und ihren Lerngruppen, 216 Schülerinnen und Schülern dritter und vierter Klassen, entwickelt, erprobt und evaluiert. Die von den beteiligten Lerngruppen gelieferten Sprechdaten wurden, vergleichbar mit der Datengewinnung meiner Studie, im Rahmen von Unterrichtssequenzen erhoben. Langfristiges Ziel war es, den Schülerinnen und Schülern mithilfe geeigneter Aufgaben und Sprechanlässe die Möglichkeit zu verschaffen „in kleinen Schritten vom imitativen zum produktiven und schließlich zum freien Sprechen“ (Diehr / Frisch 2008: 8) zu gelangen und diese Fortschritte datenbasiert nachzuweisen. Zur progressiven Entwicklung der Sprechleistungen von Ein-Wort-Äußerungen bis zum kohärenten Diskurs wurden acht Diskursformen ausgewählt und von den Lernenden erarbeitet5. Für jede Diskursform wurden Lernaufgaben und Beurteilungsbögen entwickelt, mit deren Hilfe die Sprechleistungen nicht nur allgemein, sondern auch diskursspezifisch erfasst werden. Folgende Impulse für meine Studie ergeben sich aus den Untersuchungen der TAPS-Studie:

1 Die für die Forscherinnen überraschend guten Ergebnisse der Studie, d.h. der Nachweis guter, progressiv sich entwickelnder diskursiver Fähigkeiten der Grundschullernenden, geben Hinweise auf ein Fähigkeitenpotenzial, das im weiterführenden Unterricht der Sekundarstufe als Ressource genutzt und weiterentwickelt werden kann. Vor allem aber geben die mehrfach von den Forscherinnen erläuterten Voraussetzungen der guten Sprechleistungen – die Abhängigkeit der Kompetenzentwicklung von den gestellten Aufgaben und Arbeitsaufträgen (Diehr / Frisch 2008: 64) – Anregungen zur Erforschung dieser Zusammenhänge in dem von den Erzählprojekten gestellten Datenmaterial.

2 Die im Ansatz mehrdimensional konzipierten Beobachtungsbögen zur Leistungsfeststellung geben weitere Anregungen für die Konzeption des Analyseinstrumentariums meiner Studie.