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Weie Nachte

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»Es ist gut,« sagte das Mädchen: »auch ich werde vielleicht morgen abends, gegen zehn Uhr herkommen. Ich sehe schon, daß ich es Ihnen gar nicht versagen kann … Ich muß nämlich morgen hier sein! Denken Sie nur nicht, daß ich Ihnen ein Stelldichein gebe: ich sage Ihnen darum in vorhinein, daß ich meiner selbst wegen herkommen muß. Doch … ich will es Ihnen lieber ganz offen sagen: ich habe nichts dagegen, wenn auch Sie herkommen; erstens könnte mir wieder irgendeine Unannehmlichkeit wie heute zustoßen, doch das ist gleichgültig … Kurz und gut: ich will Sie einfach wiedersehen, um Ihnen einige Worte zu sagen. Sie mißverstehen mich doch nicht? Glauben Sie nur nicht, daß ich so leicht jemandem ein Stelldichein gewähre … Ich täte es auch jetzt nicht, wenn … Das soll aber mein Geheimnis bleiben! Doch zuvor eine Bedingung … «

»Eine Bedingung! Sprechen Sie doch, sagen Sie mir alles: ich bin mit allem einverstanden, zu allem bereit!« rief ich entzückt aus. »Ich stehe für mich ein: ich will bescheiden und ehrerbietig sein … Sie kennen mich ja … «

»Eben weil ich Sie kenne, fordere ich Sie auf, morgen herzukommen,« sagte das Mädchen lächelnd. »Ich kenne Sie vollkommen. Eine Bedingung muß ich Ihnen doch stellen: (ich bitte Sie sehr, sie einzuhalten; Sie sehen ja, daß ich ganz offen spreche) – verlieben Sie sich nicht in mich! … Das dürfen Sie nicht, ich versichere Sie! Zur Freundschaft bin ich bereit, hier haben Sie meine Hand … Aber sich in mich verlieben, das dürfen Sie nicht, ich bitte Sie darum!«

»Ich schwöre es Ihnen!« rief ich und ergriff ihr Händchen.

»Ach, schwören Sie lieber nicht! Ich weiß ja, daß Sie wie Schießpulver explodieren können. Nehmen Sie mir nicht übel, daß ich mit Ihnen so spreche. Wenn Sie nur wüßten … Auch ich habe niemanden, mit dem ich sprechen, den ich um Rat bitten könnte. Allerdings: auf der Straße sucht man keine Ratgeber; doch Sie sind eine Ausnahme. Ich kenne Sie so gut, als ob wir seit zwanzig Jahren befreundet wären … Ich kann mich doch auf Sie verlassen, nicht wahr? … «

»Sie werden sehen … Ich weiß gar nicht, wie ich diesen einen Tag der Erwartung überlebe.«

»Schlafen Sie wohl, gute Nacht! Und denken Sie daran, daß ich mich Ihnen schon anvertraut habe. Sie haben es vorhin so schön gesagt: man kann wirklich nicht über jede Regung des Herzens oder gar über sein brüderliches Mitgefühl Rechenschaft abgeben! Wissen Sie, das war so schön gesagt, daß mir gleich der Gedanke kam, mich Ihnen anzuvertrauen … «

»Um Gottes willen! Was wollen Sie mir denn anvertrauen? Was?«

»Das sage ich Ihnen morgen. Vorerst soll es noch mein Geheimnis bleiben. Das ist auch für Sie besser: so wird es wenigstens entfernt einem Roman gleichen. Vielleicht werde ich es Ihnen morgen sagen, vielleicht auch nicht … Ich will mit Ihnen noch etwas sprechen … Wir müssen uns noch näher kennen lernen … «

»Ich bin bereit, Ihnen morgen alles von mir zu erzählen! Aber was ist denn das? Ich erlebe ein Wunder … Mein Gott, wo bin ich? Nun sagen Sie mir: machen Sie sich vielleicht Vorwürfe, weil Sie mir vorhin nicht böse wurden und mich nicht abwiesen, wie es wohl jede andere getan hätte? Es waren nur zwei Minuten, und Sie haben mich für immer glücklich gemacht. Jawohl! glücklich! Wer weiß: vielleicht haben Sie mich mit mir selbst versöhnt und alle meine Zweifel gelöst … Vielleicht habe ich Augenblicke … Nun, ich werde Ihnen ja alles erzählen, Sie sollen alles erfahren … «

»Schön, ich nehme Ihren Vorschlag an. Sie werden also den Anfang machen … «

»Einverstanden!«

»Auf Wiedersehen!«

»Auf Wiedersehen!«

Wir trennten uns. Ich irrte noch die ganze Nacht durch die Straßen; ich konnte mich nicht entschließen, nach Hause zu gehen. Ich war so glücklich … also morgen!

Die zweite Nacht

»Nun haben Sie es doch erlebt!« sagte sie lachend und mir beide Hände reichend.

»Ich bin schon seit zwei Stunden hier. Sie wissen gar nicht, wie mir heute den ganzen Tag zumute war.«

»Ich weiß es, ich weiß es. Doch zur Sache. Wissen Sie, wozu ich hergekommen bin? Doch nicht um Unsinn zu schwatzen, wie gestern. Hören Sie: wir müssen in Zukunft vernünftiger sein. Ich habe darüber gestern noch lange nachgedacht.«

»Worin sollen wir denn vernünftiger sein? Ich meinerseits bin ja zu allem bereit; doch ich habe in meinem ganzen Leben wirklich nichts Vernünftigeres erlebt, als das, was ich jetzt erlebe.«

»Ist es wahr? Erstens muß ich Sie bitten, mir nicht so fest die Hände zu drücken; zweitens erkläre ich Ihnen, daß ich heute viel über Sie nachgedacht habe.«

»Und zu welchem Ergebnis sind Sie gekommen?«

»Zu welchem Ergebnis? Nun, daß wir alles von vorne anfangen müssen, denn ich habe heute schließlich eingesehen, daß ich Sie noch gar nicht kenne, daß ich mich gestern wie ein Kind, wie ein kleines Mädchen benommen habe; zuletzt sagte ich mir, daß an allem nur mein gutes Herz schuld sei, d.h. ich lobte mich, was auch immer herauskommt, wenn wir uns über uns selbst Rechenschaft abgeben wollen. Und um diesen Fehler gutzumachen, habe ich beschlossen, mich über Sie sehr eingehend zu erkundigen. Da ich mich aber über Sie bei niemandem erkundigen kann, so müssen Sie mir selbst alles erzählen, die reine Wahrheit. Was sind Sie also für ein Mensch? Fangen Sie doch gleich an, erzählen Sie mir Ihre Geschichte!«

»Meine Geschichte!« rief ich erschrocken aus, »Meine Geschichte! Wer hat Ihnen gesagt, daß ich überhaupt eine Geschichte habe? Ich habe nämlich gar keine Geschichte … «

»Wie lebten Sie denn, wenn Sie keine Geschichte haben?« unterbrach Sie mich lachend.

»Ganz ohne Geschichte! Ich lebte so ganz für mich, das heißt, ganz allein. Wissen Sie, was allein heißt?«

»Was verstehen Sie unter ›allein‹? Sind Sie denn niemals mit Menschen zusammengekommen?«

»Das nicht! Gewiß komme ich mit Menschen zusammen und doch bin ich allein … «

»Nun, sprechen Sie denn mit niemand?«

»Eigentlich mit niemand.«

»Wer sind Sie denn? Erklären Sie es mir! Doch warten Sie, ich glaube, ich kann es selbst erraten: Sie haben wohl eine Großmutter wie ich. Sie ist blind, läßt mich ihr ganzes Leben lang nicht von ihrer Seite, so daß ich beinahe zu sprechen verlernt habe. Und als ich vor zwei Jahren einen üblen Streich anstellte, und sie einsah, daß sie mich nicht anders festhalten konnte, rief sie mich einmal zu sich heran und befestigte mein Kleid mit einer Stecknadel an das ihrige. So sitzen wir nun seither tagelang nebeneinander; sie strickt, obwohl sie blind ist, einen Strumpf, und ich muß brav an ihrer Seite sitzen, nähen, oder ihr etwas vorlesen, – es ist so seltsam: seit zwei Jahren lebe ich an die Großmutter angesteckt … «

»Mein Gott, wie traurig! Doch ich, nein, ich habe keine solche Großmutter.«

»Wenn Sie keine haben, wie können Sie dann immer zu Hause sitzen?«

»Hören Sie: Sie wollten doch wissen, wer ich bin?«

»Ja, gewiß?«

»Im eigentlichsten Sinne des Wortes?«

»Ja!«

»Also bitte: ich bin ein Typ.«

»Ein Typ? Was für ein Typ?« rief das Mädchen aus und lachte so, als ob sie ein ganzes Jahr keine Gelegenheit zum Lachen gehabt hätte. »In Ihrer Gesellschaft ist es wirklich lustig! Schauen Sie: hier ist eine Bank; wollen wir uns setzen. Hier kommt kein Mensch vorbei, niemand wird uns hören, also können Sie mir Ihre Geschichte erzählen! Sie werden mir nichts vormachen: natürlich haben Sie eine Geschichte, Sie verheimlichen sie nur. Sagen Sie mir vor allen Dingen: was ist ein Typ?«

»Ein Typ? Ein Typ ist ein Sonderling, ein lächerlicher Mensch,« sagte ich und begann, von ihrem kindlichen Lachen angesteckt, gleichfalls zu lachen. »Das ist so ein Charakter. Hören Sie einmal: wissen Sie, was ein Träumer ist?«

»Ein Träumer?! Wie sollte ich das nicht wissen? Auch ich bin eine Träumerin! Wenn ich so neben meiner Großmutter sitze, kommt mir doch alles Mögliche in den Sinn. Und so fange ich an zu träumen, und wenn ich schon einmal im Zuge bin, so kann es auch vorkommen, daß ich in meinen Gedanken den Kaiser von China heirate … Manchmal ist es sehr schön zu träumen! Übrigens nein, – ich weiß wirklich nicht … Besonders wenn man auch an andere Dinge denken muß … « fügte das Mädchen ziemlich ernst hinzu.

»Vortrefflich! Wenn Sie schon einmal so weit waren, daß Sie den Kaiser von China heirateten, so werden Sie auch mich verstehen. Also hören Sie zu … Erlauben Sie übrigens: ich weiß ja noch gar nicht, wie Sie heißen!«

»Endlich fällt's Ihnen ein, danach zu fragen! Früh genug!«

»Ach mein Gott! Früher dachte ich gar nicht daran, ich fühlte mich auch so schon glücklich … «

»Ich heiße Nastenka.«

»Nastenka! Und weiter?«

»Nichts weiter! Ist es Ihnen zu wenig? Sie sind wirklich unersättlich!«

»Ob es mir zu wenig ist? Im Gegenteil: es ist viel, sehr viel! Sie sind wirklich ein gutes Mädchen, Nastenka, wenn Sie sich gleich zu Beginn mit dem Kosenamen Nastenka vorstellen.«

»Nun sehen Sie es! Also weiter!«

»Hören Sie, Nastenka, was für eine komische Geschichte ich Ihnen erzählen werde.«

Ich setzte mich neben sie, nahm eine pedantisch-ernste Pose an und begann wie aus einem Buche:

»Es gibt, wenn Sie es noch nicht wissen, Nastenka, es gibt hier in Petersburg recht seltsame Winkel. In solche Winkel schaut jene Sonne, die sonst für alle Einwohner Petersburgs scheint, wohl niemals hinein. An ihrer Statt guckt zuweilen eine andere, neue Sonne hinein, eine eigens für solche Winkel geschaffene Sonne, die auf alles ein ganz anderes, eigenes Licht wirft. In solchen Winkeln, liebe Nastenka, lebt man ein ganz besonderes Leben, das von dem Leben, das um uns brandet, gänzlich verschieden ist; ein Leben, das es vielleicht nur noch irgendwo, in einem fernen Märchenlande gibt, aber keineswegs hier bei uns, in unsrer ernsten, bitterernsten Zeit. Dieses Leben ist ein Gemenge von etwas rein Phantastischem und brennend Idealem und – leider, Nastenka! – trüb Prosaischem und Gewöhnlichem, um nicht zu sagen – grenzenlos Banalem.«

 

»Pfui! Du lieber Himmel! Diese Vorrede! Was werde ich denn noch zu hören bekommen?«

»Sie werden hören, Nastenka, (ich glaube, ich werde niemals müde, Sie Nastenka zu nennen), Sie werden hören, daß in solchen Winkeln sonderbare Menschen – ich nenne sie Träumer – leben. Ein Träumer, wenn ich genauer definieren soll, ist gar kein Mensch, sondern, wissen Sie, ein Wesen sächlichen Geschlechts. Dieses Wesen siedelt sich gewöhnlich in einem möglichst unzugänglichen Winkel an, als ob es sich sogar vom Tageslicht abschließen wollte, und wenn es schon einmal einen solchen Winkel gefunden hat, so wächst es mit ihm zusammen wie die Schnecke mit ihrem Haus; oder es gleicht zumindest einem andern interessanten Geschöpf, das Tier und Haus zugleich ist und das man Schildkröte nennt. Was glauben Sie, warum liebt dieser komische Mensch seine vier Wände, die unbedingt grün angestrichen, schmierig, düster und in ganz unerlaubtem Maße verräuchert sind? Warum empfängt er einen Bekannten, der ihn besuchen will, (und es endet immer damit, daß er seine wenigen Bekannten einen nach dem andern verliert), warum empfängt er ihn mit so verlegenem und verändertem Gesicht, als ob er in seinen vier Wänden soeben irgendein Verbrechen begangen hätte: als hätte er falsche Banknoten hergestellt oder ein Gedicht geschrieben, um es an eine Redaktion mit einem anonymen Begleitbrief zu schicken, in dem es heißt, daß der wirkliche Autor längst gestorben sei und daß ein Freund des Verstorbenen es für seine Pflicht halte, die Verse zu veröffentlichen? Warum, erklären Sie es mir, Nastenka, warum kann zwischen ihm und seinem Gast unmöglich ein Gespräch zustandekommen? Warum kann der plötzlich erschienene und schon ganz verdutzte Freund auf einmal weder lachen noch scherzen, während er ja sonst gar nicht abgeneigt ist, zu lachen, zu scherzen oder über das zarte Geschlecht oder ein anderes lustiges Thema zu plaudern? Sagen Sie mir, warum ist schließlich auch der Freund selbst, der den Träumer wohl erst vor kurzem kennen gelernt hat und seinen ersten Besuch bei ihm macht (einen zweiten wird er nämlich nie machen!) warum ist er bei all seinen gesellschaftlichen Talenten, wenn er sie besitzt, auf einmal so verlegen und zu Erz erstarrt, wenn er das veränderte Gesicht des andern sieht, der seinerseits schnell aus dem Konzept gekommen ist, nachdem er zuvor, um wenigstens durch seinen guten Willen dem Gast zu gefallen, einige übermenschliche doch vergebliche Anstrengungen gemacht hat, die Unterhaltung in Fluß zu bringen und zu beleben und dem armen Gast, der wohl aus Versehen zu ihm geraten ist, zu zeigen, daß auch er Unterhaltungsgabe besitzt und, gleichfalls vom schönen Geschlecht zu plaudern versteht? und warum greift der Gast schließlich ganz unvermittelt nach seinem Hut und macht sich schleunigst aus dem Staube, nachdem er irgendeine unaufschiebbare Angelegenheit, die ihm soeben eingefallen sei, erfunden und seine Hand aus dem warmen Händedruck des andern, der seine tiefste Reue und Bereitwilligkeit, alles wieder gut zu machen, zeigt, mit Not losgerissen hat? Warum beginnt der fortgehende Freund, sobald er draußen ist, wie wahnsinnig zu lachen, warum leistet er unverzüglich das Gelübde, nie wieder den Sonderling zu besuchen, obwohl dieser im Grunde genommen ein vortrefflicher Mensch ist, und warum kann er seiner Phantasie nicht das harmlose Vergnügen versagen: den Gesichtsausdruck, den sein Freund während der soeben stattgefundenen Unterredung zeigte, wenigstens ganz entfernt mit dem eines unglückseligen Kätzchens zu vergleichen, das Kinder heimtückisch gefangen genommen, und dann, geplagt und auf jede Weise mißhandelt haben und das sich schließlich vor ihnen unter einen Sessel oder in eine finstere Ecke verkrochen hat, wo es nun eine ganze Stunde Zeit hat, sein zerzaustes Fell in Ordnung zu bringen, sein beleidigtes Schnäuzchen mit beiden Vorderpfoten zu waschen und dann noch lange Zeit feindselig auf die Natur und das Leben zu sehen und selbst auf den guten Bissen, den ihm die mitleidige Wirtschafterin von der herrschaftlichen Tafel aufgehoben hat?«

»Hören Sie einmal,« unterbrach mich Nastenka, die die ganze Zeit erstaunt, mit großen Augen und offenem Munde zugehört hatte: »Hören Sie: ich weiß wirklich nicht, warum dies alles geschah und warum Sie diese komischen Fragen gerade mir vorlegen; aber was ich ganz sicher weiß, ist, daß Sie es sind, der alle diese Abenteuer erlebt hat.«

»Zweifellos!« antwortete ich mit ernster Miene.

»Wenn es zweifellos ist, so fahren Sie fort,« sagte Nastenka, »denn ich möchte wirklich gerne wissen, womit das alles endet.«

»Sie wollen also wissen, Nastenka, was unser Held, oder richtiger, was ich in meiner eigenen bescheidenen Person trieb? Sie wollen wissen, warum ich nach dem unerwarteten Besuch eines Freundes jedes Gleichgewicht verlor und es einen ganzen Tag lang nicht wiederfinden konnte? Sie wollen wissen, warum ich erzitterte und errötete, als die Türe meines Zimmers aufging, warum ich den Gast nicht wie es sich gehört empfing und warum ich auf eine so lächerliche Weise von der Last meiner Gastfreundschaft erdrückt wurde?«

»Nun ja!« erwiderte Nastenka: »Das will ich eben wissen! Hören Sie: Sie erzählen ja sehr schön, vielleicht können Sie aber doch etwas weniger schön erzählen? Denn Sie sprechen so, als ob Sie aus einem Buche vorläsen!«

»Nastenka!« sagte ich wichtig und ernst, doch im Grunde mit Mühe ein Lachen verbeißend: »Liebe Nastenka, ich weiß, daß ich sehr schön erzähle, Sie müssen mich aber entschuldigen: ich kann nicht anders erzählen. Jetzt gleiche ich dem Geiste des Königs Salomo, der tausend Jahre lang in einem Kästchen unter sieben Siegeln eingeschlossen war und den man endlich von diesen sieben Siegeln befreit hat. Und nun, liebe Nastenka, wo wir uns nach einer so langen Trennung wieder begegnet sind, denn ich kannte Sie schon lange, Nastenka, und sehnte mich schon lange nach jemand, (was ein Beweis dafür ist, daß Sie es sind, die ich suchte, und daß unsere Begegnung eine Fügung des Schicksals ist) – jetzt haben sich in meinem Kopfe tausend Schleusen geöffnet, und ich muß alles Aufgespeicherte in einem Redefluß ausgießen, oder ich ersticke. Also ich bitte Sie, Nastenka, mich nicht zu unterbrechen, sondern mir geduldig und folgsam zuzuhören. Sonst höre ich auf!«

»Nein, nein, nein! Das will ich nicht! Sprechen Sie nur! Ich werde Sie mit keinem Wort unterbrechen!«

»Gut, ich fahre fort. Es gibt, meine liebe Nastenka, in meinem Tage eine Stunde, die ich ganz besonders liebe. Es ist die Stunde, wo alle Leute ihr Tageswerk abgeschlossen haben, aus den Geschäften und Ämtern nach Hause eilen, um zu essen und auszuruhen, und unterwegs lustige Pläne fassen in bezug auf den Abend, die Nacht und die ganze ihnen noch zur Verfügung stehende freie Zeit. In dieser Stunde schreitet auch unser Held – Sie müssen mir gestatten, Nastenka, daß ich von mir in dritter Person erzähle, denn ich schäme mich, in erster Person zu sprechen – schreitet also unser Held, der ja auch irgendeine Beschäftigung hat, hinter den übrigen her. Doch ein eigentümlich zufriedenes Gefühl spricht aus seinem bleichen, gleichsam zerknitterten Gesicht. Ganz entzückt blickt er auf die Abendröte, die langsam auf dem kalten Petersburger Himmel erlischt. Wenn ich sage: er blickt, so lüge ich; denn er blickt nicht, sondern er schaut, ohne sich irgendwelche Rechenschaft abzugeben und gleichsam ermüdet und mit anderen, wichtigeren Dingen beschäftigt, so daß er seine Umgebung nur ganz flüchtig und beinahe unbewußt mit einem Blicke streifen kann. Er ist zufrieden, denn er ist bis morgen von seiner ihm lästigen Tätigkeit erlöst, und freut sich wie ein Schulknabe, den man aus dem Klassenzimmer herausgelassen hat und der nun an seine Lieblingsspiele und Streiche gehen darf. Schauen Sie ihn nur von der Seite an, Nastenka: Sie werden bemerken, daß dieses Freudegefühl bereits wohltuend auf seine kranken Nerven und seine krankhaft erregte Phantasie gewirkt hat. Nun ist er plötzlich nachdenklich geworden. An was mag er denken? Sie glauben, an sein Mittagessen? Oder an den bevorstehenden Abend? Was betrachtet er plötzlich so aufmerksam? Jenen soliden Herrn dort, der sich soeben so graziös vor der Dame verneigt hat, die an ihm in glänzender mit schnellfüßigen Pferden bespannten Equipage vorübergefahren ist? Nein, Nastenka! Was geht ihn dieser Tand an! Er ist jetzt an seinem eigenen Leben reich; er ist ganz plötzlich reich geworden, und der Abschiedsstrahl der untergehenden Sonne hat ihn nicht wirkungslos gestreift, sondern in seinem erwärmten Herzen einen ganzen Schwarm von Eindrücken geweckt. Nun bemerkt er kaum die Straße, auf der ihn sonst jede Kleinigkeit fesseln kann. Schon hat ›Göttin Phantasie‹ (Sie kennen wohl dies Bild, Nastenka, aus Shukowskij's Gedichten?) auf ihrem Webstuhle goldene Kettenfäden gespannt und vor seinen Blicken Gebilde eines phantastisch märchenhaften Lebens zu weben begonnen; wer weiß: vielleicht hat sie ihn auch schon mit ihrer launischen Hand vom vorzüglichen Granittrottoir, auf dem er nach Hause geht, in den siebenten kristallenen Himmel gehoben? Versuchen Sie ihn nur anzusprechen und zu fragen, wo er sich jetzt befinde und durch welche Straßen er gegangen sei. Er wird sich darauf sicher nicht besinnen können; er wird vor Ärger erröten und des Anstandes wegen etwas vorlügen. Darum fährt er auch so zusammen, schreit beinah auf und sieht sich erschrocken um, als ihn eben eine alte Dame von sehr ehrwürdigem Aussehen mitten auf dem Bürgersteige anhält und sich nach dem Wege, den sie verloren hat, erkundigt. Geärgert und mit gerunzelter Stirn setzt er seinen Weg fort und merkt kaum, daß mancher Passant bei seinem Anblick lächelt und sich nach ihm sogar umsieht, und daß irgendein kleines Mädchen ihm scheu ausweicht und laut auflacht, als es mit Erstaunen sein breites beschauliches Lächeln und seine seltsamen Handbewegungen sieht. Und schon hat diese selbe Göttin Phantasie in ihrem launischen Fluge die alte Dame, die neugierigen Passanten, das lachende Mädchen und die Bauern, die auf ihren auf der Fontanka liegenden Kähnen (nehmen wir an, daß unser Held gerade an der Fontanka vorübergeht) ihr Abendbrot verzehren, erhascht und spielend in ihr Gewebe eingefügt, wie die Spinne die Fliege einfängt; schon hat der Sonderling, mit diesen neuen Fund bereichert, seine gemütliche Behausung erreicht, sich an den Tisch gesetzt und längst seine Mahlzeit verzehrt; er kommt erst dann zur Besinnung, als seine ewig versonnene und traurige Köchin Matrjona den Tisch abgeräumt und ihm seine Pfeife gebracht hat: er kommt zu sich und stellt mit Erstaunen fest, daß er bereits gegessen hat, ohne auch nur das Mindeste davon gemerkt zu haben. Im Zimmer ist es inzwischen dunkel geworden, in seiner Seele ist es öde und traurig; ein ganzes Reich von Träumen ist rings um ihn spurlos und lautlos zusammengestürzt, ist wie ein Traum zerronnen und er kann sich nicht einmal besinnen, was er geträumt hat. Doch ein seltsam dunkles Gefühl, das seine Brust schmerzhaft erbeben macht, irgendein neuer Wunsch kitzelt und reizt schon wieder seine Phantasie und ruft unmerklich einen neuen Schwarm neuer Gesichte herbei. In seinem kleinen Zimmer ist es still; Einsamkeit und süßes Nichtstun umschmeicheln seine Phantasie; sie entzündet sich allmählich und beginnt ganz langsam zu brodeln wie das Wasser in der Kaffeekanne der alten Matrjona, die sorglos nebenan in der Küche waltet und ihren Köchinnenkaffee kocht. Schon beginnt die Phantasie stoßweise zu sprudeln, schon ist das Buch, das unser Träumer zwecklos und unbesehen vom Bücherbrett genommen hat, und in dem er kaum bis zur dritten Seite gekommen ist, seiner Hand entfallen. Seine Phantasie ist neu gestimmt und gereizt, und vor seinen Blicken ist schon wieder eine neue Welt, ein neues bezauberndes Leben in strahlend herrlicher Perspektive entstanden. Ein neuer Traum – ein neues Glück! Eine neue Dosis raffinierten, süßen Giftes! Was ist ihm unser wirkliches Leben! Seinem durchaus nicht ungetrübten Blick erscheint unser Leben, Nastenka, so träge, langsam und welk; erscheinen wir alle mit unserm Schicksal unzufrieden und von der Last des Lebens bedrückt! Es ist auch wirklich so: erscheint denn beim ersten Blick nicht alles zwischen uns so kalt, mürrisch und düster?! Die Armen! denkt sich der Träumer. Es ist auch kein Wunder, daß er so denkt! Beachten Sie doch nur die zauberhaften Gestalten und Erscheinungen, die sich vor seinen Blicken so launisch, so uferlos und in solcher Fülle zu einem feenhaften, beseelten Bilde formen, in dessen Vordergrunde als Hauptgestalt natürlich unser Träumer in eigener Person steht. Sie wollen vielleicht wissen, was er träumt? Wozu soll man danach fragen? Er träumt von allem … vom Schicksal eines anfangs verkannten und später lorbeerbekränzten Dichters; von seiner Freundschaft mit E. Th. A. Hoffmann, der Bartholomäusnacht, Diane Vernon, einer Heldentat bei der Eroberung von Kasan durch Iwan den Grausamen, von Klara Mowbray, Minna und Brenda und anderen Heldinnen Walter Scott'scher Romane, vom Prälatenkonzil und Johannes Huß, von der Totenauferstehung im ›Robert der Teufel‹ (erinnern Sie sich an diese Musik? Sie ist wie ein Hauch vom Friedhof!), von der Schlacht an der Beresina, von der Vorlesung eines Gedichts im Salon der Gräfin Woronzow-Daschkow, von Danton, Kleopatra ei suoi amanti, von Puschkins ›Häuschen in der Kolomnavorstadt‹, von seinem eigenen Winkel, in dem an seiner Seite ein entzückendes Mädchen sitzt, das ihm an einem Winterabend mit offenem Mündchen und großen Augen zuhört, – genau so wie Sie mir jetzt zuhören, mein kleiner Engel … Nein, Nastenka, was kann ihm, dem wollüstigen Faulenzer, das Leben bedeuten, nach dem wir uns beide so sehnen? Er ist überzeugt, daß dieses Leben armselig und blaß ist, und er ahnt gar nicht, daß auch ihm einmal die traurige Stunde schlägt, wo er für einen einzigen Tag dieses armseligen Lebens alle seine phantastischen Jahre hingeben würde; und nicht einmal für irgendeinen ausgewählt glücklichen Tag: denn er wird in jener Stunde der Trauer, Reue und Wehmut nicht einmal wählen wollen. Doch solange ihm diese drohende Stunde noch nicht geschlagen hat, wünscht er sich nichts, denn er ist über alle Wünsche erhaben, denn er besitzt alles, ist übersättigt, ist selbst der Gestalter seines Lebens, das er sich jeden Augenblick nach einer neuen Laune neu schafft. Und wie leicht, wie natürlich entsteht so eine märchenhaft phantastische Welt! Als ob sie greifbar und nicht gespenstisch wäre! Er ist manchmal wirklich zu glauben geneigt, daß dieses Leben nicht ein Spiel der Phantasie, nicht eine Luftspiegelung, nicht eine trügerische Einbildung, sondern etwas wirklich Seiendes, Echtes, Reales sei! Warum, sagen Sie es mir, Nastenka, warum stockt in solchen Augenblicken sein Atem? Durch welche Zauberkraft, durch welchen unerforschlichen Machtspruch beginnen plötzlich seine Pulse zu fliegen, seine Augen zu tränen und seine blassen, tränenfeuchten Wangen zu brennen, während sein ganzes Wesen von einem alles überwältigenden Lustgefühl erfüllt wird? Warum vergehen für ihn lange schlaflose Nächte wie ein Augenblick in unerschöpflicher Freude und Lust, und erst wenn die aufgehende Sonne ihren ersten rosigen Strahl in sein Fenster wirft, und sein unfreundliches Zimmer sich mit dem ungewissen, phantastischen Licht des Petersburger Morgens füllt, – warum sinkt unser Träumer erst dann ermüdet und matt auf sein Bett und schläft ein, während sein krankhaft erschütterter Geist in Wonne erstirbt und sein Herz vor süßem Schmerz vergeht? Ja, Nastenka, man kann sich leicht täuschen, die Leidenschaft, die sein Herz erfüllt, für echt, und seine körperlosen Traumbilder für lebendig und greifbar halten! Und so vollkommen ist die Täuschung! Da ist zum Beispiel in seinem Herzen die Liebe mit allen ihren grenzenlosen Wonnen und verzehrenden Qualen aufgegangen … Sie brauchen ihn nur anzuschauen und Sie werden daran glauben! Würden Sie es, liebe Nastenka, bei diesem Anblick für möglich halten, daß er diejenige, die er in seiner rasenden Phantasie so sehr liebt, niemals gekannt hat? Hat er sie denn nur in seinen verführerischen Träumen gesehen, und war diese Leidenschaft nur ein Traum? Sind sie denn wirklich nicht Hand in Hand durch so viele Jahre nebeneinander gegangen, zu zweien, die ganze übrige Welt vergessend und die eigene Welt und das eigene Leben mit dem Leben des Freundes vereinend? War es denn nicht sie, die in der späten Stunde des Abschieds, weinend und sich in Seelenqualen verzehrend, an seiner Brust lag, ohne auf den Sturm, der unter dem düsteren Himmel raste, und auf den Wind, der die Tränentropfen von ihren schwarzen Wimpern wegtrug, zu achten? War denn das Ganze nur ein Traum: der traurige verwilderte Park mit den moosüberwucherten Wegen, auf denen sie so oft zu zweien lustwandelten, das Herz voller Hoffnung und Liebe so ›tiefer und süßer Liebe‹? Und das alte, noch vom Urgroßvater erbaute Haus, in dem sie so lange Zeit einsam und traurig an der Seite eines ewig schweigsamen, alten und mürrischen Gatten lebte, der die beiden, die so scheu wie Kinder waren und ihre Liebe furchtsam voreinander verbargen, immerwährend ängstigte? Wie quälten sie sich, wie fürchteten sie sich, wie rein und keusch war ihre Liebe und wie schlecht – das versteht sich doch von selbst, Nastenka! – wie schlecht waren die Menschen! Und, mein Gott, war es denn nicht sie, die er später, fern vom heimatlichen Gestade, unter einem fernen, südlichen, glühenden Himmel wiedergesehen, in der wunderbar ewigen Stadt, im Glanze des Balles, bei schmetternder Musik in einem strahlend erhellten Palazzo (es muß unbedingt ein Palazzo sein), auf einem von Rosen und Myrten umrankten Balkone, wo sie, nachdem sie ihn wiedererkannt, ihre Maske hastig von sich warf und mit den Worten: ›Nun bin ich frei!‹ ihm zuflog; wo sie sich mit einem Aufschrei von Wonne in die Arme fielen und in einem Augenblick alles vergaßen: ihren Kummer, die Trennung, alle Pein, das düstere Haus, den alten Gatten, den düsteren Park in der fernen Heimat und die Bank, auf der sie sich mit dem letzten, leidenschaftlichen Abschiedskuß aus seinen vor Verzweiflung erstarrten Armen gerissen hatte … Geben Sie es doch zu, Nastenka, daß man erzittern, zusammenfahren und wie ein Schuljunge, der soeben im Nachbarsgarten einen Apfel gestohlen hat und ihn hastig in der Tasche verbirgt, erröten muß, wenn nun plötzlich irgendein baumlanger, lustiger Bursche als ungebetener Gast an der Schwelle erscheint und, als ob nichts geschehen wäre, herausplatzt: ›Weißt du, mein Lieber? Ich komme eben aus Pawlowsk!‹ Mein Gott! Der alte Graf ist tot, ein unaussprechliches Glück bricht an, – und dem Kerl fällt es ein, aus Pawlowsk zu kommen!«