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Unsere

Alltagserfahrung: Entfremdung von den Affekten

Doch die Wurzeln dieser Auffassung reichen noch tiefer. Sie ist in unsere Alltagserfahrung und viele alltägliche Redensarten verwoben. Kämpft ein Mensch gegen eine Versuchung an und unterliegt (nehmen wir an, er will nicht trinken, trinkt dann aber doch), so betrachten wir ihn ganz selbstverständlich als unter einem Zwang stehend. Wir sagen vielleicht: Er wollte nicht trinken, aber sein Durst war stärker, und der hat ihn dazu gebracht. Das ist eine solch alltägliche Redensart, dass sie uns einfach herausrutscht und überhaupt kein Aufsehen erregt. Das sollte sie aber, denn sie ist eigentlich recht kurios. Wenn wir sagen: „Er wollte nicht trinken, sein Durst hat ihn dazu gezwungen“, dann machen wir aus einer Sache ganz lässig zwei. Wir sprechen von dem Menschen und seinem Durst so, als wäre der Durst etwas Separates. In gewisser Hinsicht tun wir sogar mehr: Da ist ein Mensch, der einen Entschluss gefasst hat und der auch Durst hat. Diese beiden Attribute sind gleichberechtigt. Aber wir beenden dieses Gleichgewicht einfach. Seinen Vorsatz formen wir um in ihn. Er besteht aus nichts als seiner guten Absicht, und dafür erhält er unsere ganze Anerkennung. Den Durst stellen wir dagegen ins Abseits. Er ist etwas Eigenständiges, Schlechtes, mit dem der Mensch konfrontiert wird und das er bekämpft wie der heilige Georg den Drachen. Man könnte nicht von „Zwang“ oder „Unterliegen“ sprechen, wenn es diese Sichtweise nicht gäbe.

Platons Sichtweise hat ihre Grundlage in solch einer Erfahrung – und es ist eine Sache der Erfahrung und nicht bloß der Sprache, denn wir erleben den Durst als etwas, gegen das wir ankämpfen. Man könnte Platons Prinzip als eine Verallgemeinerung auffassen, als eine induktive Schlussfolgerung, die sich von diesen Erfahrungen auf die ganze Sphäre der Leidenschaften und der Vernunft ausweitet. Höchstwahrscheinlich gab es dabei eine Wechselwirkung: Diese Art und Weise, Versuchungen zu erleben, übte sehr wahrscheinlich einen Einfluss auf Platon aus, aber seine Autorität verstärkte wiederum die Gewohnheit, so zu denken, und verbreitete sie. Platon half, sie zu etwas „Normalem“ zu machen.

Und dasselbe gilt für die Moral. Wir ziehen einen Menschen für ein vorsätzliches Verbrechen stärker zur Rechenschaft als für ein „Verbrechen aus Leidenschaft“ und bestrafen dementsprechend das erste strenger als das zweite. Wieder sagen wir: „Er ist nicht verantwortlich, seine Emotionen waren stärker als er“, und auch das klingt ganz natürlich und normal. Und doch ist es eigentlich wieder sehr kurios, denn nach beiden gängigen Bestrafungstheorien, den Theo­rien der Abschreckung und der Resozialisierung, ließe sich argumentieren, dass man in der Praxis genau andersherum verfahren sollte. Untersuchungen würden vielleicht zeigen, dass Strafen für Verbrechen, die nach langer und sorgfältiger Planung begangen wurden, bei weitem nicht so effektiv sind wie Strafen für Taten, die im Affekt begangen wurden. Strafen würden auf die Leidenschaften eines Menschen vielleicht mehr wirken als auf sein Denken – vor allem, wenn die Strafen schnell kommen. Wenn das so wäre, sollten wir für Affekttaten stärker zur Rechenschaft gezogen und strenger bestraft werden als für vorsätzliche Straftaten. Im Hinblick auf Resozialisierung oder Abschreckung wäre das nur konsequent. Aber wir weigern uns, das zu tun, und das Strafmaß in der beschriebenen Weise umzukehren, würde unser Moralgefühl verletzen. Aber warum sollte ich für vorsätzliche Taten mehr Verantwortung tragen und für Affekthandlungen weniger? Warum gehört eine Handlung mehr zu mir, wenn ich darüber nachgedacht habe, und weniger, wenn ich sie im Zorn begehe? Auch der Zorn bin ich – vielleicht mehr als mein Denken. Die Antwort lautet, dass wir auch hier etwas Ähnliches annehmen wie Platon; und auch in diesem Fall hat wahrscheinlich wieder eine Art Wechselspiel stattgefunden: Diese Art und Weise, jemanden zur Rechenschaft zu ziehen, übte wahrscheinlich einen gewissen Einfluss auf Platon aus, aber er stellte sich mit seiner Autorität dahinter und verstärkte dadurch diese „Gewohnheit“.

Dieses Element in unserer Alltagserfahrung und -moral ist der Fels – vielleicht der Sandstein –, auf dem diese zweite Auffassung von Freiheit letztendlich beruht. All ihre verschieden ausgeprägten Formulierungen ruhen auf dieser gemeinsamen Grundlage. Ohne sie hätte Platon dem sokratischen Paradoxon nie seine neue Bedeutung geben können, und wenn diese Basis nicht vorhanden gewesen wäre, hätten Freiheit und Rationalität nicht miteinander verknüpft werden können.

Das Lebensgefühl eines nach dem platonischen Konzept freien Menschen

Nun, da wir die grobe Skizze einer zweiten, ganz anderen „Theorie“ der Freiheit haben, können wir dieselbe Frage an sie richten, die wir weiter oben im Zusammenhang mit unserem ersten Beispiel gestellt haben. Dort sahen wir das extreme Beharren darauf, dass eine Handlung nur frei ist, wenn sie „völlig unabhängig“ ist, und wir wählten ein Element dieser allgemeinen Aussage aus, nämlich die Forderung, eine freie Handlung müsse gegen die Vernunft verstoßen, und fragten, wie ein Mensch seine eigene Vernunft erleben müsste, damit das so sei. Jetzt haben wir das genaue Gegenteil dieser These vor uns. Gemäß der jetzigen, philosophisch wesentlich angeseheneren Auffassung ist eine Handlung nur dann frei, wenn sie vernünftig ist (obwohl sie der Vernunft „gehorcht“), und wir sind unfrei genau dann, wenn gegen die Rationalität verstoßen wird, wir sind Sklaven, wenn eine Leidenschaft oder ein Gelüst uns zu irrationalem Verhalten führt.

Die Fragestellung

Die simpel klingende, jedoch entscheidende Frage lautet nun wieder: Was für eine Erfahrungsqualität bringt diese Position mit sich? Unter welchen Bedingungen wäre diese Doppel-These (wenn vernünftig, dann frei, wenn gegen die Vernunft, dann erzwungen) nicht nur plausibel, sondern auch wahr? Wie, kurz gesagt, müsste jemand seine eigenen Gedankengänge erleben, wenn er immer dann frei sein soll, wenn er ihnen gemäß handelt, und immer unfrei, wenn er gegen sie verstößt? Und weiter: Welche Einstellung gegenüber allem anderen, das eine Handlung verursachen kann (gegenüber Motiven, Leidenschaften, Wünschen usw.) muss jemand haben, wenn er immer unfrei ist, wenn diese anderen Kräfte ihn in Konflikt mit der Vernunft bringen?

Einige

Vorüberlegungen

Lassen Sie mich hier, bevor wir darauf antworten, schnell einwerfen, dass die fraglichen Thesen natürlich keineswegs auf Anhieb einleuchtend sind. Warum sollte eine Handlung „frei“ sein, bloß weil sie sich mit der Vernunft deckt? Oder „erzwungen“, weil sie irrational ist? Es ist keineswegs offensichtlich, weshalb solch eine Verbindung existieren sollte, weshalb das Eine auf irgendeine Weise das Andere beeinflussen sollte. Warum sollte es insbesondere unmöglich sein, dass die Gebote der Vernunft uns unterdrücken? Es ist ja ein wesentlicher Teil dieser Auffassung von Freiheit, dass das nicht geschehen kann, dass die Vernunft die Leidenschaften, den Willen und das Verhalten der gesamten Person beherrschen kann ohne das Risiko, dass das in eine Tyrannei umschlägt.

Wie außergewöhnlich diese Behauptung im Grunde ist, wird klarer, wenn wir uns daran erinnern, dass sowohl Hegel (in seinen frühen Schriften über das Christentum und auch in der Phänomenologie) wie auch Friedrich Schiller genau deshalb gegen Kants Ethik polemisierten, weil Kant auf eindeutigem Gehorsam gegenüber den Imperativen der „praktischen Vernunft“ bestanden hatte – natürlich vor dem Hintergrund der Auffassung, dass man durch diesen Gehorsam gegenüber der Vernunft frei sei. Hegel und Schiller argumentierten beide, dass Kant der Vernunft tyrannische Vollmachten eingeräumt habe; dass er den Menschen in zwei Teile gespalten und den größeren Teil in eine Sklaverei unter der Herrschaft der Vernunft verkauft habe. Weiterhin sagten sie, dass diese Form der Sklaverei besonders niederträchtig sei, weil durch sie der Mensch sich gegen sich selber wende und völlig entwürdigt werde, eine Hälfte Tyrann, die andere Hälfte Sklave.

„Platonische“

Freiheit: Vernunft als wahres Selbst

Aber zurück zu unserer Frage: Welche Erfahrung von Vernunft würde alle meine rationalen Handlungen frei erscheinen lassen? Wieder ist die Antwort nicht schwer. Es ist klar, dass das nur unter einer Bedingung der Fall ist: Ich müsste meine Rationalität (oder, wenn das klarer ist, die Gebote der Rationalität, wenn ich sie auf mich selber anwende) auf eine Art und Weise erleben, die das genaue Gegenteil zu unserem Untergrundmenschen ist – also nicht als unpersönliche Stimme, die mir fremdartige Befehle aufzwingt, sondern als genau das, was am wahrhaftigsten und authentischsten für mich spricht. Durch den Gehorsam gegenüber den Forderungen der Vernunft, wie sie auch aussehen mögen, bin ich nur dann frei, wenn die Vernunft und ich ein und dasselbe sind. Dann ist es offensichtlich unmöglich, dass sie mich unterdrückt.

Andererseits werden all meine Abweichungen vom Kurs der Vernunft nur unter der Bedingung durch mich erduldete Zwänge sein, dass das, was sie auslöst, irgendwie etwas anderes ist als ich. Alles, was mit der Vernunft nicht im Einklang ist, das gegen sie wettert, muss von mir abgespalten sein, muss etwas sein, das mir im Weg steht und mit dem ich konfrontiert bin. Dann werde ich in all den Fällen, in denen etwas anderes als die Vernunft sich durchsetzt, das Opfer sein.

These: Jede

Freiheitsdefinition zieht eine

bestimmte

Erfahrungsqualität nach sich

Die gegenseitige Abhängigkeit zwischen diesem Konzept der Freiheit und dieser strukturellen Aufteilung der Erfahrung ist eine einfache logische Verbindung. Sie wäre sogar dann stichhaltig, wenn niemand jemals diese Idee der Freiheit vertreten hätte. Und sie allein ist für unsere Unternehmung entscheidend. Die Tatsache, dass alle möglichen Variationen dieser Sichtweise in der Geschichte der Philosophie eine Rolle gespielt haben (und man könnte neben Platon, Rousseau, Kant oder Hegel noch andere nennen), und dass sie darüber hinaus einer Bedeutung von Freiheit entspricht, die in der Alltagserfahrung und -sprache häufig auftaucht, macht dieses Beispiel enorm interessant. Aber die sich entwickelnde Hauptargumentation hängt nicht von diesem Punkt ab. Sie befasst sich nur mit dieser Sichtweise als einem allgemeinen Typus. Natürlich erscheint diese Sichtweise in den verschiedenen historischen Philosophien nicht in solch simplen, holzschnittartigen Grundzügen. Aber die Details, wie Platon oder Rousseau („volonté générale“) oder Hegel die Grundzüge dieses „Modells“ gestalteten und modifizierten, wie auf seinem Schachbrettmuster die Kontroversen zwischen „positiver“ und „negativer“ Freiheit, zwischen Freiheit und Willkür ausgetragen wurden, werden wir diskutieren, wenn wir darauf vorbereitet sind. An diese Stelle möchte ich nur ein Beispiel anführen, um anzudeuten, wie viel Erklärungspotential in diesem von uns postulierten Muster steckt.

Beispiel Platon

Betrachten wir Platons bekannte Hierarchie der menschlichen Fähigkeiten, in der der Vernunft der höchste Platz zugewiesen wird, weil sie den Menschen über den Rest der Natur hinaushebt und nur ihr umfassender Gebrauch den Menschen wirklich menschlich macht. Hier ist die Vernunft die Quintessenz des Menschlichen; die Emotionen und der Körper gehören definitiv zu einer niedrigeren Ebene. Diese Einstellung gegenüber der Vernunft entspricht ganz klar der Grundannahme, die wir hinter der allgemeinen Auffassung von Freiheit, wie sie in Sokrates’ Paradoxon steckt, selbst schon entdeckt haben. Das könnte man einerseits als eine Art Bestätigung betrachten. Wir argumentierten, dass eine bestimmte Auffassung von der Freiheit eine gewisse Art und Weise voraussetze, wie man die Vernunft erlebt, und nun stellt sich heraus, dass Platon, der bezüglich der Freiheit dieser Auffassung war, auch die entsprechenden Ansichten über die Vernunft vertrat. Es ist ein wenig, als hätten wir eine Vorhersage gemacht, die sich jetzt bewahrheitet. Aber wir könnten es auch als eine Erklärung betrachten, die uns ein tieferes Verständnis Platons liefert. Wir können jetzt sehen, wie zwei scheinbar getrennte Teile seines Denkens zusammenpassen. Dass der Vernunft die Spitzenposition in der Hierarchie der Bestandteile des Menschen zugewiesen wird, steht nun im Zusammenhang mit der These, dass der Mensch nie frei ist, wenn er bewusst eine böse oder irrationale Tat begeht. Diese beiden Behauptungen können nun als Ausdruck ein und derselben grundlegenden Sichtweise betrachtet werden.

Um den springenden Punkt an der Sache noch zu betonen und zu erhärten, könnten wir ein einfaches Diagramm zu Hilfe nehmen. Der Kern der Argumentation war bis jetzt die These, dass man die Vernunft als sein wahrstes und intimstes Selbst erleben muss, wenn alle rationalen Handlungen frei sein sollen, und dass im Umkehrschluss alle anderen Elemente einer Person, wie etwa Wünsche, Körperliches oder Leidenschaften, als „fernstehend“ erlebt werden müssen, wenn alle durch sie ausgelösten Handlungen als erzwungen gelten sollen.

Wir können das mit zwei konzentrischen Kreisen darstellen (siehe Diagramm). Zunächst könnten wir einfach sagen, dass dies das Selbstbild, oder besser die Identifikation repräsentiert, die durch diese Auffassung von der Freiheit – von uns bis Platon zurückverfolgt – vorausgesetzt wird.


Ein drittes Konzept der Freiheit: Aristoteles

Aber es wartet noch ein drittes Konzept der Freiheit auf uns. Es hat etwas Schlichtes, Hausbackenes. Es besteht aus einem einfachen Stoff ohne schillernde Reflexe und ist für starke Beanspruchung gedacht. Wie die anderen beiden stellt es einen allgemeinen Typus dar, der in einer Vielzahl von Varianten auftritt, die die Umrisse dieses Prototyps bestimmen. Fundamental zieht es die Grenze zwischen dem Freien und dem Erzwungenen da, wo es auf plumpe Weise offensichtlich scheint: Man wird gezwungen, wenn buchstäblich außerhalb der eigenen Person stehende Kräfte eine Handlung veranlassen; man ist frei, wenn das nicht der Fall ist, wenn das, was man tut, von einem selbst kontrolliert oder veranlasst wird. Natürlich ist auch diese holzschnittartige Vorstellung von der Freiheit wieder unzählige Male anzutreffen. Wie ein Hackbeil durchtrennt sie die Gelenke von praktischen, alltäglichen Entscheidungen, ihre Grundzüge werden vor Gericht zur juristischen Beurteilung von Schuld und Unschuld herangezogen, und natürlich könnte man demzufolge ohne Ende literarische und philosophische Belege finden, die sich damit beschäftigen. Einer der ersten und aufschlussreichsten findet sich allerdings bei Aristoteles.

Aristoteles’

Definition

In seiner Nikomachischen Ethik, im zweiten Absatz des dritten Buches, definiert Aristoteles das „Erzwungene“ als „dasjenige, dessen bewegendes Prinzip außerhalb liegt und ein Prinzip ist, zu dem nichts von der Person, die handelt oder die Leidenschaft erlebt, beigetragen wird“. Und er wiederholt dies weitere zwei Absätze später: „Welche Handlungen wollen wir erzwungen nennen? Wir antworten, dass dies ohne Einschränkung Handlungen dann sind, wenn die Ursache in den äußeren Umständen liegt und der Handelnde nicht mitwirkt.“ Wir stehen, in anderen Worten, nur dann unter Zwang, wenn „das bewegende Prinzip“ einer Handlung sich physisch oder im wortwörtlichen Sinne außerhalb von uns befindet, und wir sind frei, wenn dieses bewegende Prinzip von uns selbst beigesteuert worden ist.8

Vergleich mit

den anderen

Konzepten

Vergleichen wir das mit den beiden anderen Auffassungen von der Freiheit. Für die erste ist die Freiheit einer Handlung bereits zunichte, wenn diese durch auch nur irgendetwas bedingt ist. Diese Auffassung stellt die höchsten Ansprüche, hinter die man deshalb auch am ehesten zurückfällt. Um wirklich zweckfrei zu sein, muss sich eine Handlung sozusagen aus heiterem Himmel materialisieren; schon bloße Rationalität disqualifiziert sie, und deshalb muss auch sie durchkreuzt werden. Das „platonische“ Konzept war einen Grad weniger extrem: Wenn ein Wunsch oder eine Leidenschaft oder irgendeine andere Kraft die eigenen Handlungen kontrollierte, dann war das „Tyrannei“. Nur die Vernunft war ausgenommen, und wir stellten fest, dass das nur möglich war, weil die Vernunft als das authentischste Selbst angesehen wurde. Unser drittes Beispiel, die „aristotelische“ Auffassung (ich verwende diese Bezeichnung nur der bequemen Einordnung halber; sie ist nicht die einzige Auffassung, die sich bei Aristoteles findet, genauso wenig wie die eben diskutierte immer von Platon vertreten wurde), ist noch einmal und gleich um einige Grade großzügiger. Laut ihrer Interpretation kann das „bewegende Prinzip“ einer Handlung nicht nur in der Vernunft liegen, sondern in allem, was dem Handelnden zuzurechnen ist, und solange dies der Fall ist, wird die Handlung immer noch frei sein. Sie ist so lange nicht „erzwungen“, wie das bewegende Prinzip im wörtlichen Sinne nicht außerhalb der Person des Handelnden liegt.

Das „aristotelische“ Lebensgefühl: Kein Teil des Selbst wird als fremd erlebt

Wenn wir nun zum dritten Mal unsere spezielle Frage nach der Erfahrung stellen, auf deren Basis diese neue Bedeutung von Freiheit formuliert wird, dann ist die Antwort wieder so offensichtlich wie zuvor. Wenn der Untergrundmensch sich seine Freiheit nur erhalten konnte, indem er gegen die Vernunft verstieß, und wenn das so war, weil er die Vernunft als etwas erlebte, das die Gesellschaft ihm aufzwang, so dass sogar sein eigenes rationales Denken eigenlich nicht ihm gehörte, sondern nur das Ausmaß bezeichnete, in dem er schon entmachtet worden war; wenn nach der „platonischen“ Auffassung Rationalität das genaue Gegenteil darstellt, die Garantie der Freiheit, weil rationales Denken nun als die einzige Veranlagung erlebt wird, die wirklich das Selbst ist – dann impliziert die „aristotelische“ Auffassung ganz klar, dass kein Teil des handelnden Subjekts als „fremd“ erlebt wird, als lediglich zu einem geringeren Grad Teil des Selbst und zu dem, was man „wirklich“ ist, in einer gewissen Distanz stehend. Nur wenn alle Teile des eigenen Selbst als gleichberechtigt akzeptiert werden, können die aus der eigenen Person entspringenden Handlungen frei sein und nur die, deren bewegendes Prinzip außerhalb liegt, als erzwungen gelten.

Und wiederum stellen wir fest, dass Aristoteles tatsächlich dieser Ansicht war. Im ersten Teil des dritten Buches der Nikomachischen Ethik sagt er: „Die irrationalen Leidenschaften gelten als nicht weniger menschlich als die Vernunft, und die dem Zorn oder den Begierden entspringenden Handlungen sind deshalb die Handlungen der ganzen Person.“

Aristoteles als Gegenpol zu Platon

Diese Aussage bestreitet rundweg Platons Herabsetzung der irrationalen Leidenschaften, Emotionen und Begierden. Sie attackiert Platons Hierarchie der menschlichen Anlagen, die der Vernunft Priorität einräumte und die Leidenschaften auf einen niedrigeren Platz verwies. Fast klingt es sogar wie eine direkte Antwort auf Platon. Es ist, als hätte Aristoteles einen gravierenden Unterschied zwischen seiner Position und der seines Lehrers herausgestrichen. Zu sagen, dass „die irrationalen Leidenschaften nicht weniger menschlich sind als die Vernunft“, schafft eine Gleichberechtigung, die in den Ohren, die Platon gehört hatten, wie Blasphemie geklungen haben muss. Denn Platon hatte die Vernunft „göttlich“ genannt, und sogar die irrationalen Leidenschaften auf Augenhöhe mit ihr zu stellen bedeutete, dass Schweine und Reine nun gemeinsame Sache machten.

Freiheitsdefinition und Lebensgefühl hängenzusammen

Auch das stellt wieder eine Art Bestätigung dar. Wie im Falle Platons schlossen wir von uns aus, dass eine bestimmte Theorie der Freiheit ein Konzept oder eine Art und Weise nach sich zieht, wie man das Selbst erlebt, und nun stellen wir fest, dass Aristoteles tatsächlich der entsprechenden Ansicht war. Wir argumentierten, dass seine Auffassung von der Freiheit das gleichberechtigte Akzeptieren aller Wesenselemente eines Menschen erfordere, und jetzt stellt sich heraus, dass er tatsächlich diese Einstellung vertrat. Aber der wichtige Punkt ist wiederum, dass dies eine logische Verbindung illustriert, die sogar dann existieren würde, wenn sie Aristoteles entgangen wäre. Die Idee, dass wir nur von äußeren Kräften gezwungen werden können, aber frei sind, wenn das bewegende Prinzip in uns liegt, impliziert von vornherein, dass die Leidenschaften und Begierden nicht in irgendeine äußere Sphäre verbannt werden, von wo aus sie uns überrennen. Warum sollten sie immer die Rolle feindlicher Kräfte spielen, und warum sollten wir (die wir plötzlich nur noch aus lauteren Motiven und hehren Absichten bestehen) nur die unschuldigen Opfer einer fremden Macht sein? Diese Ansicht macht es somit nötig, dass die Vernunft degradiert wird, dass ihr hegemonialer Anspruch als ein snobistisches Vorurteil verworfen wird. Nur eine Einstellung verträgt sich mit dieser Idee der Freiheit: nämlich, dass alles an uns gleichermaßen menschlich ist. Wir sind nicht nur unsere Vernunft, sondern der ganze Rest gehört ebenfalls zu uns und hat den gleichen Status. Wir sind alle unsere Bestandteile, und keines davon sind weniger wir als ein anderes. Es gibt keine Abstufung. Es erinnert an Sartres Satz „Du bist die Gesamtheit deiner Handlungen“, nur dass diese Einstellung weiter geht. Warum die Handlungen herausgreifen? Wir sind genauso unsere Selbsttäuschungen, Ängste, Hoffnungen, unser Zögern, unsere Gefühle, unser Körper. Wir können keines davon abschreiben.

Der „richtige“

Freiheitsbegriff?

Sich selbst auf diese Weise zu verstehen erscheint so natürlich, so attraktiv und irgendwie so goldrichtig („natürlich sind wir unser gesamtes Selbst, es ist einfach Selbstbetrug oder Neurose, anderer Auffassung zu sein“), dass man versucht ist, in voreiliger Erleichterung den Schluss zu ziehen, dies sei die „korrekte“ Einstellung gegenüber der eigenen Erfahrung und die damit zusammenhängende Auffassung von der Freiheit sei „wahr“ und zeige uns, was Freiheit „wirklich“ bedeutet.

Schwächen des „aristotelischen“ Modells

Nur um anzudeuten, wie weit wir davon noch entfernt sind (wir müssen noch eine ganze Abstraktionsstufe höher klettern), sollten wir die Kehrseite dieser Auffassung betrachten. Denn sie steht tatsächlich in scharfem Gegensatz zum gesunden Menschenverstand. Letztendlich bestreitet sie das Phänomen der Zwanghaftigkeit, nicht nur im technischen, also etwa Freudschen Sinne, sondern auch im ganz gewöhnlichen und altmodischen Sinne. Gemäß dieser Position kann man sich niemals auf die Entschuldigung „Ich kann nichts dafür“ berufen, wenn eine Handlung „innerhalb der Person entsprang“. Die Kehrseite von dem, was zunächst lediglich wie eine willkommene Demokratisierung der Wesenselemente des Menschen aussah, ist die, dass wir nun zu allen unseren Handlungen ein und dieselbe Beziehung haben, dass wir für alle gleichermaßen verantwortlich sind. Und diese Zunahme an Schuld ist zumindest ein Nachteil oder eine Schwierigkeit, der sich stellen muss, wer dieser Auffassung zuneigt, und sie erhellt im Gegenzug die Motive, die den Alternativthesen zugrunde liegen.

Was Aristoteles angeht, so könnte man vermuten, dass die geschilderte Konsequenz ihm gar nicht recht war. Wahrscheinlich hielt er die Gleichheit der Wesenselemente des Menschen für eine ganz grundlegende und wichtige Dok­trin und betrachtete die Konsequenz daraus einfach als eine Art Preis, der zu zahlen war. Aber das wäre ein bequemer und untypischer Standpunkt gewesen. Stattdessen könnte man (das ist aber, bei allem Nachdruck, nur ein Vorschlag) die Nikomachische Ethik im Hinblick auf dieses Dilemma lesen. Das könnte Licht auf die komplexen Zuschreibungen und Einschränkungen werfen, die Aristoteles einführte; einige hatten das Ziel, die Totalität des Menschen zusammenzuhalten und die Gleichheit aller Wesenselemente zu erhalten und trotzdem das Gewicht dieser unerwünschten Konsequenz zu verringern.

Die wichtigste Einzelthese in Bezug auf diese Auffassung von der Freiheit lässt sich wieder in einem Diagramm darstellen. Dieses Mal ist der graue Teil (der Bereich der Identifikation oder Ort des „wahren Selbst“) größer und deckt sich eigentlich mit der ganzen Person. Unsere Behauptung ist wieder, dass dies das Selbstbild oder die Identifikation ist, die durch die aristotelische Auffassung von der Freiheit vorausgesetzt wird.