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351.
Der »gute Mensch«. Oder: die Hemiplegie der Tugend. – Für jede starke und Natur gebliebene Art Mensch gehört Liebe und Haß, Dankbarkeit und Rache, Güte und Zorn, Ja-thun und Nein-thun zu einander. Man ist gut, um den Preis, daß man auch böse zu sein weiß; man ist böse, weil man sonst nicht gut zu sein verstünde. Woher nun jene Erkrankung und ideologische Unnatur, welche diese Doppelheit ablehnt, – welche als das Höhere lehrt, nur halbseitig tüchtig zu sein? Woher die Hemiplegie der Tugend, die Erfindung des guten Menschen? … Die Forderung geht dahin, daß der Mensch sich an jenen Instinkten verschneide, mit denen er feind sein kann, schaden kann, zürnen kann, Rache heischen kann … Diese Unnatur entspricht dann jener dualistischen Conception eines bloß guten und eines bloß bösen Wesens (Gott, Geist, Mensch), in ersterem alle positiven, in letzterem alle negativen Kräfte, Absichten, Zustände summirend. – Eine solche Werthungsweise glaubt sich damit »idealistisch«; sie zweifelt nicht daran, eine höchste Wünschbarkeit in der Conception »des Guten« angesetzt zu haben. Geht sie auf ihren Gipfel, so denkt sie sich einen Zustand aus, wo alles Böse annullirt ist und wo in Wahrheit nur die guten Wesen übriggeblieben sind. Sie hält es also nicht einmal für ausgemacht, daß jener Gegensatz von Gut und Böse sich gegenseitig bedinge; umgekehrt, Letzteres soll verschwinden und Ersteres soll übrig bleiben, das Eine hat ein Recht zu sein, das Andere sollte gar nicht da sein … Was wünscht da eigentlich?
Man hat sich zu allen Zeiten und sonderlich zu den christlichen Zeiten viel Mühe gegeben, den Menschen auf diese halbseitige Tüchtigkeit, auf den »Guten« zu reduciren: noch heute fehlt es nicht an kirchlich Verbildeten und Geschwächten, denen diese Absicht mit der »Vermenschlichung« überhaupt oder mit dem »Willen Gottes« oder mit dem »Heil der Seele« zusammenfällt. Hier wird als wesentliche Forderung gestellt, daß der Mensch nichts Böses thue, daß er unter keinen Umstanden schade, schaden wolle. Als Weg dazu gilt: die Verschneidung aller Möglichkeit zur Feindschaft, die Aushängung aller Instinkte des Ressentiments, der »Frieden der Seele« als chronisches Übel.
Diese Denkweise, mit der ein bestimmter Typus Mensch gezüchtet wird, geht von einer absurden Voraussetzung aus: sie nimmt das Gute und das Böse als Realitäten, die mit sich im Widerspruch sind ( nicht als complementäre Werthbegriffe, was die Wahrheit wäre),sie räth die Partei des Guten zu nehmen, sie verlangt, daß der Gute dem Bösen bis in die letzte Wurzel entsagt und widerstrebt, – sie verneint thatsächlich damit das Leben, welches in allen seinen Instinkten sowohl das Ja wie das Nein hat. Nicht daß sie dies begriffe: sie träumt umgekehrt davon, zur Ganzheit, zur Einheit, zur Stärke des Lebens zurückzukehren: sie denk es sich als Zustand der Erlösung, wenn endlich der eignen innern Anarchie, der Unruhe zwischen jenen entgegengesetzten Werth-Antrieben ein Ende gemacht wird. – Vielleicht gab es bisher keine gefährlichere Ideologie, keinen größeren Unfug in psychologicis, als diesen Willen zum Guten: man zog den widerlichsten Typus, den unfreien Menschen groß, den Mucker; man lehrte, eben nur als Mucker sei man auf dem rechten Wege zur Gottheit, nur ein Mucker-Wandel sei ein göttlicher Wandel.
Und selbst hier noch behält das Leben Recht, – das Leben, welches das Ja nicht vom Nein zu trennen weiß – : was hilft es, mit allen Kräften den Krieg für böse zu halten, nicht schaden, nicht Nein thun zu wollen! man führt doch Krieg! man kann gar nicht anders! Der gute Mensch, der dem Bösen entsagt hat, behaftet, wie es ihm wünschbar scheint, mit jener Hemiplegie der Tugend, hört durchaus nicht auf, Krieg zu führen, Feinde zu haben, Nein zu sagen, Nein zu thun. Der Christ zum Beispiel haßt die »Sünde«! – und was ist ihm nicht alles »Sünde«! Gerade durch jenen Glauben an einen Moral-Gegensatz von Gut und Böse ist ihm die Welt vom Hassenswerthen, vom Ewig-zu-Bekämpfenden übervoll geworden. »Der Gute« steht sich wie umringt vom Bösen und unter dem beständigen Ansturm des Bösen, er verfeinert sein Auge, er entdeckt unter all seinem Tichten und Trachten noch das Böse: und so endet er, wie es folgerichtig ist, damit, die Natur für böse, den Menschen für verderbt, das Gutsein als Gnade (das heißt als menschenunmöglich) zu verstehen. In summa: er verneint das Leben, er begreift, wie das Gute als oberster Werth das Leben verurtheilt … Damit sollte seine Ideologie von Gut und Böse ihm als widerlegt gelten. Aber eine Krankheit widerlegt man nicht. Und so concipirt er ein anderes Leben! …
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352.
In den Begriff der Macht, sei es eines Gottes, sei es eines Menschen, ist immer zugleich die Fähigkeit zu nützen und die Fähigkeit zu schaden eingerechnet. So bei den Arabern; so bei den Hebräern. So bei allen stark gerathenen Rassen.
Es ist ein verhängnißvoller Schritt, wenn man dualistisch die Kraft zum Einen von der zum Andern trennt … Damit wird die Moral zur Giftmischerin des Lebens …
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353.
Zur Kritik des guten Menschen. – Rechtschaffenheit, Würde, Pflichtgefühl, Gerechtigkeit, Menschlichkeit, Ehrlichkeit, Geradheit, gutes Gewissen, – sind wirklich mit diesen wohlklingenden Worten Eigenschaften um ihrer selbst willen bejaht und gutgeheißen? oder sind hier an sich werthindifferente Eigenschaften und Zustände nur unter irgendwelchen Gesichtspunkt gerückt, wo sie Werth bekommen? Liegt der Werth dieser Eigenschaften in ihnen oder in dem Nutzen, Vortheil, der aus ihnen folgt (zu folgen scheint, zu folgen erwartet wird)?
Ich meine hier natürlich nicht einen Gegensatz von ego und alter in der Beurtheilung: die Frage ist, ob die Folgen es sind, sei es für den Träger dieser Eigenschaften, sei es für die Umgebung, Gesellschaft, »Menschheit«, derentwegen diese Eigenschaften Werth haben sollen: oder ob sie an sich selbst Werth haben … Anders gefragt: ist es die Nützlichkeit, welche die entgegengesetzten Eigenschaften verurtheilen, bekämpfen, verneinen heißt (– Unzuverlässigkeit, Falschheit, Verschrobenheit, Selbst-Ungewißheit, Unmenschlichkeit –)? Ist das Wesen solcher Eigenschaften oder nur die Consequenz solcher Eigenschaften verurtheilt? – Anders gefragt: wäre es wünschbar, daß Menschen dieser zweiten Eigenschaften nicht existiren? – Das wird jedenfalls geglaubt … Aber hier steckt der Irrthum, die Kurzsichtigkeit, die Bornirtheit des Winkel-Egoismus.
Anders ausgedrückt: wäre es wünschbar, Zustände zu schaffen, in denen der ganze Vortheil auf Seiten der Rechtschaffenen ist, – sodaß die entgegengesetzten Naturen und Instinkte entmuthigt würden und langsam ausstürben?
Dies ist im Grunde eine Frage des Geschmacks und der Ästhetik: wäre es wünschbar, daß die »achtbarste«, d. h. langweiligste Species Mensch übrig bliebe? die Rechtwinkligen, die Tugendhaften, die Biedermänner, die Braven, die Geraden, die »Hornochsen«?
Denkt man sich die ungeheure Überfülle der »Anderen« weg: so hat sogar der Rechtschaffene nicht einmal mehr ein Recht auf Existenz: er ist nicht mehr nöthig, – und hier begreift man, daß nur die grobe Nützlichkeit eine solche unausstehliche Tugend zu Ehren gebracht hat.
Die Wünschbarkeit liegt vielleicht gerade auf der umgekehrten Seite: Zustände schaffen, bei denen der »rechtschaffene Mensch« in die bescheidne Stellung eines »nützlichen Werkzeugs« herabgedrückt wird – als das »ideale Heerdenthier«, bestenfalls Heerden-Hirt: kurz, bei denen er nicht mehr in die obere Ordnung zu stehen kommt: welche andere Eigenschaften verlangt.
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354.
Der »gute Mensch« als Tyrann. – Die Menschheit hat immer denselben Fehler wiederholt: daß sie aus einem Mittel zum Leben einen Maaßstab des Lebens gemacht hat; daß sie – statt in der höchsten Steigerung des Lebens selbst, im Problem des Wachsthums und der Erschöpfung, das Maaß zu finden – die Mittel zu einem ganz bestimmten Leben zum Ausschluß aller anderen Formen des Lebens, kurz zur Kritik und Selektion des Lebens benutzt hat. D. h. der Mensch liebt endlich die Mittel um ihrer selbst willen und vergißt sie als Mittel: sodaß sie jetzt als Ziele ihm in’s Bewußtsein treten, als Maaßstäbe von Zielen … d. h. eine bestimmte Species Mensch behandelt ihre Existenzbedingungen als gesetzlich aufzuerlegende Bedingungen, als »Wahrheit«, »Gut«, »Vollkommen«: sie tyrannisirt … Es ist eine Form des Glaubens, des Instinkts, daß eine Art Mensch nicht die Bedingtheit ihrer eignen Art, ihre Relativität im Vergleich zu anderen einsieht. Wenigstens scheint es zu Ende zu sein mit einer Art Mensch (Volk, Rasse), wenn sie tolerant wird, gleiche Rechte zugesteht und nicht mehr daran denkt, Herr sein zu wollen –
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355.
»Die guten Leute sind alle schwach: sie sind gut, weil sie nicht stark genug sind, böse zu sein« sagte du Latuka-Häuptling Comorro zu Baker. »Für schwache Herzen giebt es kein Unglück« sagt man im Russischen.
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356.
Bescheiden, fleißig, wohlwollend, mäßig: so wollt ihr den Menschen? den guten Menschen? Aber mich dünkt das nur der ideale Sklave, der Sklave der Zukunft.
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357.
Die Metamorphosen der Sklaverei; ihre Verkleidung unter religiöse Mäntel; ihre Verklärung durch die Moral.
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358.
Der ideale Sklave (der »gute Mensch«). – Wer sich nicht als »Zweck« ansetzen kann, noch überhaupt von sich aus Zwecke ansetzen kann, der giebt der Moral der Entselbstung die Ehre – instinktiv. Zu ihr überredet ihn Alles: seine Klugheit, seine Erfahrung, seine Eitelkeit. Und auch der Glaube ist eine Entselbstung.
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Atavismus: wonnevolles Gefühl, einmal unbedingt gehorchen zu können.
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Fleiß, Bescheidenheit, Wohlwollen, Mäßigkeit sind ebenso viele Verhinderungen der souveränen Gesinnung, der großen Erfindsamkeit, der heroischen Zielesetzung, des vornehmen Für-sich-seins.
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Es handelt sich nicht um ein Vorangehn (– damit ist man bestenfalls Hirt, d. h. oberster Nothbedarf der Heerde), sondern um ein Für-sich-gehen-lönnen, um ein Anders-sein-können.
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359.
Man muß zusammenrechnen, was Alles sich gehäuft hatte, als Folge der höchsten moralischen Idealität: wie sich fast alle sonstigen Werthe um das Ideal krystallisirt hatten. Das beweist, daß es am längsten, am stärksten begehrt worden ist, – daß es nicht erreicht worden ist: sonst würde es enttäuscht haben (resp. eine mäßigere Werthung nach sich gezogen haben).
Der Heilige als die mächtigste Species Mensch –: diese Idee hat den Werth der moralischen Vollkommenheit so hoch gehoben. Man muß die gesammte Erkenntniß sich bemüht denken, zu beweisen, daß der moralischste Mensch der mächtigste, göttlichste ist. – Die Überwältigung der Sinne, der Begierden – Alles erregte Furcht, – das Widernatürliche erschien als das Übernatürliche, Jenseitige …
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360.
Franz von Assisi: verliebt, populär, Poet, kämpft gegen die Rangordnung der Seelen zu Gunsten der Niedersten. Leugnung der Seelenhierarchie – »vor Gott Alle gleich«.
Die volksthümlichen Ideale: der gute Mensch, der Selbstlose, der Heilige, der Weise, der Gerechte. Oh Marc Aurel!
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361.
Ich habe dem bleichsüchtigen Christen-Ideale den Krieg erklärt (sammt Dem, was ihm nahe verwandt ist), nicht in der Absicht, es zu vernichten, sondern nur um seiner Tyrannei ein Ende zu setzen und Platz frei zu bekommen für neue Ideale, für robustere Ideale … Die Fortdauer des christlichen Ideals gehört zu den wünschenswerthesten Dingen, die es giebt: und schon um der Ideale willen, die neben ihm und vielleicht über ihm sich geltend machen wollen, – sie müssen Gegner, starke Gegner haben, um stark zu werden. – So brauchen wir Immoralisten die Macht der Moral: unser Selbsterhaltungstrieb will, daß unsre Gegner bei Kräften bleiben, – er will nur Herr über sie werden.
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362.
Egoismus und sein Problem! Die christliche Verdüsterung in Larochefoucauld, welcher ihn überall herauszog und damit den Werth der Dinge und Tugenden vermindert glaubte! Dem entgegen suchte ich zunächst zu beweisen, daß es gar nichts Anderes geben könne als Egoismus, – daß den Menschen, bei denen das ego schwach und dünn wird, auch die Kraft der großen Liebe schwach wird, – daß die Liebendsten vor Allem es aus Stärke ihres ego sind, – daß Liebe ein Ausdruck von Egoismus ist u.s.w. Die falsche Werthschätzung zielt in Wahrheit auf das Interesse 1) Derer, denen genützt, geholfen wird, der Heerde; 2) enthält sie einen pessimistischen Argwohn gegen den Grund des Lebens; 3) möchte sie die prachtvollsten und wohlgerathensten Menschen verneinen; Furcht; 4) will sie den Unterliegenden zum Rechte verhelfen gegen die Sieger; 5) bringt sie eine universale Unehrlichkeit mit sich, und gerade bei den werthvollsten Menschen.
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363.
Der Mensch ist ein mittelmäßiger Egoist: auch der Klügste nimmt seine Gewohnheit wichtiger, als seinen Vortheil.
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364.
Egoismus! Aber noch Niemand hat gefragt: was für ein ego? Sondern Jeder setzt unwillkürlich das ego jedem ego gleich. Das sind die Consequenzen der Sklaven-Theorie vom suffrage universel und der »Gleichheit«.
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365.
Die Handlung eines höheren Menschen ist unbeschreiblich vielfach in ihrer Motivirung: mit irgend einem solchen Wort wie »Mitleid« ist gar nichts gesagt. Das Wesentlichste ist das Gefühl »wer bin ich? wer ist der Andere im Verhältniß zu mir?« – Werthurtheile fortwährend thätig.
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366.
Daß sich die Geschichte sämmtlicher Phänomene der Moralität dermaaßen vereinfachen lasse, wie es Schopenhauer glaubte – nämlich so, daß als Wurzel jeder bisherigen moralischen Regung das Mitleiden wieder zu finden sei – zu diesem Grade von Widersinn und Naivetät konnte nur ein Denker kommen, der von allem historischen Instinkte entblößt war und in der wunderlichsten Weise selbst jener starken Schulung zur Historie, wie sie die Deutschen von Herder bis Hegel durchgemacht haben, entschlüpft war.
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367.
Mein »Mitleid«. – Dies ist ein Gefühl, für das mir kein Name genügt: ich empfinde es, wo ich eine Verschwendung kostbarer Fähigkeiten sehe, z. B. beim Anblicke Luthers: welche Kraft und was für abgeschmackte Hinterwäldler-Probleme! (zu einer Zeit, wo in Frankreich schon die tapfere und frohmüthige Skepsis eines Montaigne möglich war!) Oder wo ich, durch die Einwirkung eines Blödsinns von Zufälligkeit, Jemanden hinter Dem zurückbleiben sehe, was aus ihm hätte werden können. Oder gar bei einem Gedanken an das Loos der Menschheit, wie wenn ich, mit Angst und Verachtung, der europäischen Politik von heute einmal zuschaue, welche, unter allen Umständen, auch an dem Gewebe aller Menschen-Zukunft arbeitet. Ja, was könnte aus »dem Menschen« werden, wenn – –! Dies ist meine Art »Mitleid«; ob es schon keinen Leidenden giebt, mit dem ich da litte.
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368.
Das Mitleid eine Verschwendung der Gefühle, ein der moralischen Gesundheit schädlicher Parasit, »es kann unmöglich Pflicht sein, die Uebel in der Welt zu vermehren«. Wenn man bloß aus Mitleid wohlthut, so thut man eigentlich sich selbst wohl und nicht dem Andern. Mitleid beruht nicht auf Maximen, sondern auf Affekten; es ist pathologisch. Das fremde Leiden steckt uns an, Mitleid ist eine Ansteckung.
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369.
Es giebt gar keinen Egoismus, der bei sich stehen bliebe und nicht übergriffe, – es giebt folglich jenen »erlaubten«, »moralisch indifferenten« Egoismus gar nicht, von dem ihr redet.
»Man fördert sein Ich stets auf Kosten des Andern«; »Leben lebt immer auf Unkosten andern Lebens« – wer das nicht begreift, hat bei sich auch nicht den ersten Schritt zur Redlichkeit gethan.
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370.
Das »Subjekt« ist nur eine Fiktion: es giebt das ego gar nicht, von dem geredet wird, wenn man den Egoismus tadelt.
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371.
Das »Ich« – welches mit der einheitlichen Verwaltung unsres Wesens nicht eins ist! – ist ja nur eine begriffliche Synthesis – also giebt es gar kein Handeln aus »Egoismus«.
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372.
Da jeder Trieb unintelligent ist, so ist »Nützlichkeit« gar kein Gesichtspunkt für ihn. Jeder Trieb, indem er thätig ist, opfert Kraft und andere Triebe: er wird endlich gehemmt; sonst würde er Alles zu Grunde richten, durch Verschwendung. Also: das »Unegoistische«, Aufopfernde, Unkluge ist nichts Besonderes – es ist allen Trieben gemeinsam –, sie denken nicht an den Nutzen des ganzen ego ( weil sie nicht denken!), sie handeln wider unseren Nutzen, gegen das ego: und oft für das ego – unschuldig in Beidem!
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373.
Ursprung der Moral-Werthe. – Der Egoismus ist so viel werth, als Der physiologisch werth ist, der ihn hat.
Jeder Einzelne ist die ganze Linie der Entwicklung noch (und nicht nur, wie ihn die Moral auffaßt, Etwas, das mit der Geburt beginnt). Stellt er das Aufsteigen der Linie Mensch dar, so ist sein Werth in der That außerordentlich; und die Sorge um Erhaltung und Begünstigung seines Wachsthums darf extrem sein. (Es ist die Sorge um die in ihm verheißene Zukunft, welche dem wohlgerathnen Einzelnen ein so außerordentliches Recht auf Egoismus giebt.) Stellt er die absteigende Linie dar, den Verfall, die chronische Erkrankung, so kommt ihm wenig Werth zu: und die erste Billigkeit ist, daß er so wenig wie möglich Platz, Kraft und Sonnenschein den Wohlgerathnen wegnimmt. In diesem Falle hat die Gesellschaft die Niederhaltung des Egoismus (– der mitunter absurd, krankhaft, aufrührerisch sich äußert –) zur Aufgabe: handle es sich nun um Einzelne oder um ganze verkommende, verkümmernde Volks-Schichten. Eine Lehre und Religion der »Liebe«, der Niederhaltung der Selbstbejahung, des Duldens, Tragens, Helfens, der Gegenseitigkeit in That und Wort kann innerhalb solcher Schichten vom höchsten Werthe sein, selbst mit den Augen der Herrschenden gesehn: denn sie hält die Gefühle der Rivalität, des Ressentiments, des Neides nieder, die allzu natürlichen Gefühle der Schlechtweggekommenen, sie vergöttlicht ihnen selbst unter dem Ideal der Demuth und des Gehorsams das Sklave-sein, das Beherrschtwerden, das Armsein, das Kranksein, das Unten-stehn. Hieraus ergiebt sich, warum die herrschenden Classen (oder Rassen) und Einzelnen jederzeit den Cultus der Selbstlosigkeit, das Evangelium der Niedrigen, den »Gott am Kreuze« aufrecht erhalten haben.
Das Übergewicht einer altruistischen Werthungsweise ist die Folge eines Instinktes für Mißrathen-sein. Das Werthurtheil auf unterstem Grunde sagt hier: »ich bin nicht viel werth«: ein bloß physiologisches Werthurtheil; noch deutlicher: das Gefühl der Ohnmacht, der Mangel der großen bejahenden Gefühle der Macht (in Muskeln, Nerven, Bewegungscentren). Dies Werthurtheil übersetzt sich, je nach der Cultur dieser Schichten, in ein moralisches oder religiöses Urtheil (– die Vorherrschaft religiöser oder moralischer Urtheile ist immer ein Zeichen niedriger Cultur –): es sucht sich zu begründen, aus Sphären, woher ihnen der Begriff »Werth« überhaupt bekannt ist. Die Auslegung, mit der der christliche Sünder sich zu verstehen glaubt, ist ein Versuch, den Mangel an Macht und Selbstgewißheit berechtigt zu finden: er will lieber sich schuldig finden, als umsonst sich schlecht fühlen: an sich ist es ein Symptom von Verfall, Interpretationen dieser Art überhaupt zu brauchen. In andern Fällen sucht der Schlechtweggekommene den Grund dafür nicht in seiner »Schuld« (wie der Christ), sondern in der Gesellschaft: der Socialist, der Anarchist, der Nihilist, – indem sie ihr Dasein als Etwas empfinden, an dem Jemand schuld sein soll, sind sie damit immer noch die Nächstverwandten des Christen, der auch das Sich-schlecht-Befinden und Mißrathen besser zu ertragen glaubt, wenn er Jemanden gefunden hat, den er dafür verantwortlich machen kann. Der Instinkt der Rache und des Ressentiments erscheint hier in beiden Fällen als Mittel, es auszuhallen, als Instinkt der Selbsterhaltung: ebenso wie die Bevorzugung der altruistischen Theorie und Praxis. Der Haß gegen den Egoismus, sei es gegen den eignen (wie beim Christen), sei es gegen den fremden (wie beim Socialisten), ergiebt sich dergestalt als ein Werthurtheil unter der Vorherrschaft der Rache; andrerseits als eine Klugheit der Selbsterhaltung Leidender durch Steigerung ihrer Gegenseitigkeits- und Solidaritätsgefühle … Zuletzt ist, wie schon angedeutet, auch jene Entladung des Ressentiments im Richten, Verwerfen, Bestrafen des Egoismus (des eignen oder eines fremden)noch ein Instinkt der Selbsterhaltung bei Schlechtweggekommenen. In summa: der Cultus des Altruismus ist eine specifische Form des Egoismus, die unter bestimmten physiologischen Voraussetzungen regelmäßig auftritt.
Wenn der Socialist mit einer schönen Entrüstung »Gerechtigkeit«, »Recht«, »gleiche Rechte« verlangt, so steht er nur unter dem Druck seiner ungenügenden Cultur, welche nicht zu begreifen weiß, warum er leidet: andrerseits macht er sich ein Vergnügen damit; – befände er sich besser, so würde er sich hüten, so zu schreien: er fände dann anderswo sein Vergnügen. Dasselbe gilt vom Christen: die »Welt« wird von ihm verurtheilt, verleumdet, verflucht, – er nimmt sich selbst nicht aus. Aber das ist kein Grund, sein Geschrei ernst zu nehmen. In beiden Fällen sind wir immer noch unter Kranken, denen es wohlthut, zu schreien, denen die Verleumdung eine Erleichterung ist.
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374.
Jede Gesellschaft hat die Tendenz, ihre Gegner bis zur Caricatur – zum Mindesten in ihrer Vorstellung – herunterzubringen und gleichsam auszuhungern. Eine solche Caricatur ist z. B. unser »Verbrecher«. Inmitten der römisch-aristokratischen Ordnung der Werthe war der Jude zur Caricatur reducirt. Unter Künstlern wird der »Biedermann und bourgeois« zur Caricatur; unter Frommen der Gottlose; unter Aristokraten der Volksmann. Unter Immoralisten wird es der Moralist: Plato zum Beispiel wird bei mir zur Caricatur.
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375.
Alle die Triebe und Mächte, welche von der Moral gelobt werden, ergeben sich mir als essentiell gleich mit den von ihr verleumdeten und abgelehnten: z. B. Gerechtigkeit als Wille zur Macht, Wille zur Wahrheit als Mittel des Willens zur Macht.
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376.
Die Verinnerlichung des Menschen. Die Verinnerlichung entsteht, indem mächtige Triebe, denen mit Einrichtung des Friedens und der Gesellschaft die Entladung nach Nutzen versagt wird, sich nach Innen zu schadlos zu halten suchen, im Bunde mit der Imagination. Das Bedürfniß nach Feindschaft, Grausamkeit, Rache, Gewaltsamkeit wendet sich zurück, »tritt zurück«; im Erkennen-wollen ist Habsucht und Erobern; im Künstler tritt die zurückgetretene Verstellungs- und Lügenkraft auf; die Triebe werden zu Dämonen umgeschaffen, mit denen es Kampf giebt u. s. w.
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377.
Die Falschheit. – Jeder souveräne Instinkt hat die anderen zu seinen Wertzeugen, Hofstaat, Schmeichlern: er läßt sich nie bei seinem häßlichen Namen nennen: und er duldet keine anderen Lobsprüche, bei denen er nicht indirekt mit gelobt wird. Um jeden souveränen Instinkt herum krystallisirt sich alles Loben und Tadeln überhaupt zu einer festen Ordnung und Etiquette. – Dies die Eine Ursache der Falschheit.
Jeder nach Herrschaft strebende, aber unter einem Joch befindliche Instinkt braucht für sich, zur Unterstützung seines Selbstgefühls, zur Stärkung, alle schönen Namen und anerkannten Werthe: sodaß er sich hervorwagt zumeist unter dem Namen des von ihm bekämpften »Herren«, von dem er frei werden will (z. B. unter der Herrschaft christlicher Werthe die fleischliche Begierde oder die Machtbegierde). – Dies die andere Ursache der Falschheit.
In beiden Fällen herrscht vollkommene Naivetät: die Falschheit tritt nicht in’s Bewußtsein. Es ist ein Zeichen von gebrochenem Instinkt, wenn der Mensch das Treibende und dessen »Ausdruck« (»die Maske«) getrennt sieht – ein Zeichen von Selbstwiderspruch, und viel weniger siegreich. Die absolute Unschuld in der Gebärde, im Wort, im Affekt, das »gute Gewissen« in der Falschheit, die Sicherheit, mit der man nach den größten und prachtvollsten Worten und Stellungen faßt – Alles nothwendig zum Siege.
Im andern Falle: bei extremer Hellsichtigkeit bedarf es Genie des Schauspielers und ungeheure Zucht in der Selbstbeherrschung, um zu siegen. Deshalb sind Priester die geschicktesten bewußten Heuchler; sodann Fürsten, denen ihr Rang und ihre Abkunft eine Art von Schauspielerei großzüchtet. Drittens Gesellschafts-Menschen, Diplomaten. Viertens Frauen. Grundgedanke: Die Falschheit erscheint so tief, so allseitig, der Wille ist dergestalt gegen das direkte Sich-selbst-Erkennen und Bei-Namen-Nennen gerichtet, daß die Vermuthung sehr große Wahrscheinlichkeit hat: Wahrheit, Wille zur Wahrheit sei eigentlich etwas ganz Andres und auch nur eine Verkleidung. (Das Bedürfniß nach Glauben ist der größte Hemmschuh der Wahrhaftigkeit.)
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378.
»Du sollst nicht lügen«: man fordert Wahrhaftigkeit. Aber die Anerkennung des Thatsächlichen (das Sich-nicht-belügen-lassen) ist gerade bei den Lügnern am größten gewesen: sie erkannten eben auch das Unthatsächliche dieser populären »Wahrhaftigkeit«. Es wird beständig zu viel oder zu wenig gesagt: die Forderung sich zu entblößen mit jedem Worte, das man spricht, ist eine Naivetät.
Man sagt, was man denkt, man ist »wahrhaft« nur unter Voraussetzungen: nämlich unter der, verstanden zu werden ( inter pares), und zwar wohlwollend verstanden zu werden ( noch einmal inter pares). Gegen das Fremde verbirgt man sich: und wer Etwas erreichen will, sagt was er über sich gedacht haben will, nicht aber was er denkt. (»Der Mächtige lügt immer.«)
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379.
Die große nihilistische Falschmünzerei unter klugem Mißbrauch moralischer Werthe:
a) Liebe als Entpersönlichung; insgleichen Mitleid
b) Nur der entpersönlichte Intellekt (»der Philosoph«) erkennt die Wahrheit, »das wahre Sein und Wesen der Dinge«.
c) Das Genie, die großen Menschen sind groß, weil sie nicht sich selbst und ihre Sache suchen: der Werth des Menschen wächst im Verhältniß dazu, als er sich selbst verleugnet.
d) Die Kunst als Werk des »reinen willensfreien Subjekts«; Mißverständniß der »Objektivität«.
e) Glück als Zweck des Lebens; Tugend als Mittel zum Zweck.
Die pessimistische Verurtheilung des Lebens bei Schopenhauer ist eine moralische. Übertragung der Heerden-Maaßstäbe in’s Metaphysische.
Das »Individuum« sinnlos, folglich ihm einen Ursprung im »An-sich« gebend (und eine Bedeutung seines Daseins als »Verirrung«); Eltern nur als »Gelegenheitsursache«. – Es rächt sich, daß von der Wissenschaft das Individuum nicht begriffen war: es ist das ganze bisherige Leben in Einer Linie, und nicht dessen Resultat.
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380.
1. Die principielle Fälschung der Geschichte; damit sie den Beweis für die moralische Werthung abgibt:
a) Niedergang eines Volkes und die Corruption;
b) Aufschwung eines Volkes und die Tugend;