Read the book: «Friedrich Wilhelm Nietzsche – Gesammelte Werke», page 66

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Wo­durch man alle wi­der sich hät­te. – Wenn jetzt je­mand zu sa­gen wag­te: "wer nicht für mich ist, der ist wi­der mich", so hät­te er so­fort alle wi­der sich. – Die­se Emp­fin­dung macht un­serm Zeit­al­ter Ehre.

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Sich des Reich­tums schä­men. – Un­se­re Zeit ver­trägt nur eine ein­zi­ge Gat­tung von Rei­chen, sol­che, wel­che sich ih­res Reich­tums schä­men. Hört man von je­man­dem "er ist sehr reich", so hat man da­bei so­fort eine ähn­li­che Emp­fin­dung wie beim An­blick ei­ner wi­der­lich an­schwel­len­den Krank­heit, ei­ner Fett- oder Was­ser­sucht: man muß sich ge­walt­sam sei­ner Hu­ma­ni­tät er­in­nern, um mit ei­nem sol­chen Rei­chen so ver­keh­ren zu kön­nen, daß er von un­serm Ekel­ge­füh­le nichts merkt. So­bald er aber gar sich et­was auf sei­nen Reich­tum zu­gu­te tut, so mischt sich zu un­serm Ge­füh­le die fast mit­lei­di­ge Ver­wun­de­rung über einen so ho­hen Grad der mensch­li­chen Un­ver­nunft: so daß man die Hän­de gen Him­mel er­he­ben und ru­fen möch­te "ar­mer Ent­stell­ter, Über­bür­de­ter, hun­dert­fach Ge­fes­sel­ter, dem jede Stun­de et­was Un­an­ge­neh­mes bringt o­der brin­gen kann, in des­sen Glie­dern je­des Er­eig­nis von zwan­zig Völ­kern nach­zuckt, wie magst du uns glau­ben ma­chen, daß du dich in dei­nem Zu­stan­de wohl­fühlst! Wenn du ir­gend­wo öf­fent­lich er­scheinst, so wis­sen wir, daß es eine Art Spieß­ru­ten­lau­fens ist, un­ter lau­ter Bli­cken, wel­che für dich nur kal­ten Haß oder Zu­dring­lich­keit oder schweig­sa­men Spott ha­ben. Dein Er­wer­ben mag leich­ter sein als das der an­de­ren: aber es ist ein über­flüs­si­ges Er­wer­ben, wel­ches we­nig Freu­de macht, und dein Be­wah­ren al­les Er­wor­be­nen ist je­den­falls jetzt ein müh­se­li­ge­res Ding als ir­gend ein müh­se­li­ges Er­wer­ben. Du lei­dest fort – wäh­ren­d, denn du ver­lierst fort­wäh­rend. Was nützt es dir, daß man dir im­mer neu­es künst­li­ches Blut zu­führt: des­halb tun doch die Schröpf­köp­fe nicht we­ni­ger weh, die auf dei­nem Na­cken sit­zen, be­stän­dig sit­zen!- Aber, um nicht un­bil­lig zu wer­den, es ist schwer, viel­leicht un­mög­lich für dich, nicht reich zu sein: du mußt be­wah­ren, mußt neu er­wer­ben, der ver­erb­te Hang dei­ner Na­tur ist das Joch über dir – aber des­halb täu­sche uns nicht und schä­me dich ehr­lich und sicht­lich des Jo­ches, das du trägst: da du ja im Grun­de dei­ner See­le müde und un­wil­lig bist, es zu tra­gen. Die­se Scham schän­det nicht."

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Aus­schwei­fung in der An­ma­ßung. – Es gibt so an­ma­ßen­de Men­schen, daß sie eine Grö­ße, wel­che sie öf­fent­lich be­wun­dern, nicht an­ders zu lo­ben wis­sen, als in­dem sie die­sel­be als Vor­stu­fe und Brücke, die zu ih­nen führt, dar­stel­len.

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Auf dem Bo­den der Schmach. – Wer den Men­schen eine Vor­stel­lung neh­men will, tut sich ge­wöhn­lich nicht ge­nug da­mit, sie zu wi­der­le­gen und den un­lo­gi­schen Wurm, der in ihr sitzt, her­aus­zu­zie­hen: viel­mehr wirft er, nach­dem der Wurm ge­tö­tet ist, die gan­ze Frucht auch noch in den Kot, um sie den Men­schen un­an­sehn­lich zu ma­chen und Ekel vor ihr ein­zu­flö­ßen. So glaubt er das Mit­tel ge­fun­den zu ha­ben, die bei wi­der­leg­ten Vor­stel­lun­gen so ge­wöhn­li­che "Wie­der­au­fer­ste­hung am drit­ten Tage" un­mög­lich zu ma­chen. – Er irrt sich, denn ge­ra­de auf dem Bo­den der Schmach, in­mit­ten des Un­fla­tes, treibt der Frucht­kern der Vor­stel­lung schnell neue Kei­me. – Also: ja nicht ver­höh­nen, be­schmut­zen, was man end­gül­tig be­sei­ti­gen will, son­dern es ach­tungs­voll auf Eis le­gen, im­mer und im­mer wie­der, in An­be­tracht, daß Vor­stel­lun­gen ein sehr zä­hes Le­ben ha­ben. Hier muß man nach der Ma­xi­me han­deln: "Eine Wi­der­le­gung ist kei­ne Wi­der­le­gung."

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Los der Mora­li­tät. – Da die Ge­bun­den­heit der Geis­ter ab­nimmt, ist si­cher­lich die Mora­li­tät (die ver­erb­te, über­lie­fer­te, in­stinkt­haf­te Hand­lungs­wei­se nach mo­ra­li­schen Ge­füh­len) eben­falls in Ab­nah­me: nicht aber die ein­zel­nen Tu­gen­den, Mä­ßig­keit, Ge­rech­tig­keit, See­len­ru­he, – denn die größ­te Frei­heit des be­wuß­ten Geis­tes führt ein­mal schon un­will­kür­lich zu ih­nen hin und rät sie so­dann auch als nütz­lich an.

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Der Fa­na­ti­ker des Miß­trau­ens und sei­ne Bürg­schaft. – Der Al­te: Du willst das Un­ge­heu­re wa­gen und die Men­schen im Gro­ßen be­leh­ren? Wo ist dei­ne Bürg­schaft? – Pyr­rhon: Hier ist sie: ich will die Men­schen vor mir sel­ber war­nen, ich will alle Feh­ler mei­ner Na­tur öf­fent­lich be­ken­nen und mei­ne Übe­rei­lun­gen, Wi­der­sprü­che und Dumm­hei­ten vor al­ler Au­gen bloß­stel­len. Hört nicht auf mich, will ich ih­nen sa­gen, bis ich nicht eu­rem Ge­rings­ten gleich ge­wor­den bin, und noch ge­rin­ger bin, als er; sträubt euch ge­gen die Wahr­heit, so lan­ge ihr nur könnt, aus Ekel vor dem, der ihr Für­spre­cher ist. Ich wer­de euer Ver­füh­rer und Be­trü­ger sein, wenn ihr noch den min­des­ten Glanz von Acht­bar­keit und Wür­de an mir wahr­nehmt. – Der Al­te: Du ver­sprichst zu­viel, du kannst die­se Last nicht tra­gen – Pyr­rhon – So will ich auch dies den Men­schen sa­gen, daß ich zu schwach bin und nicht hal­ten kann, was ich ver­spre­che. Je grö­ßer mei­ne Un­wür­dig­keit, um so mehr wer­den sie der Wahr­heit miß­trau­en, wenn sie durch mei­nen Mund geht. – Der Al­te: Willst du denn der Leh­rer des Miß­trau­ens ge­gen die Wahr­heit sein? – Pyr­rhon: Des Miß­trau­ens, wie es noch nie in der Welt war, des Miß­trau­ens ge­gen Al­les und Je­des. Es ist der ein­zi­ge Weg zur Wahr­heit. Das rech­te Auge darf dem lin­ken nicht trau­en, und Licht wird eine Zeit­lang Fins­ter­nis hei­ßen müs­sen: dies ist der Weg, den ihr ge­hen müßt. Glaubt nicht, daß er euch zu Frucht­bäu­men und schö­nen Wei­den füh­re. Klei­ne har­te Kör­ner wer­det ihr auf ihm fin­den, – das sind die Wahr­hei­ten: Jahr­zehn­te­lang wer­det ihr die Lü­gen hän­de­voll ver­schlin­gen müs­sen, um nicht Hun­gers zu ster­ben, ob ihr schon wis­set, daß es Lü­gen sind. Jene Kör­ner aber wer­den ge­sä­et und ein­ge­gra­ben, und viel­leicht, viel­leicht gibt es ein­mal einen Tag der Ern­te: nie­mand darf ihn ver­spre­chen, er sei denn ein Fa­na­ti­ker. – Der Al­te: Freund, Freund! Auch dei­ne Wor­te sind die des Fa­na­ti­kers! – Pyr­rhon: Du hast recht! ich will ge­gen alle Wor­te miß­trau­isch sein. – Der Al­te: Dann wirst du schwei­gen müs­sen. – Pyr­rhon: Ich wer­de den Men­schen sa­gen, daß ich schwei­gen muß und daß sie mei­nem Schwei­gen miß­trau­en sol­len. – Der Al­te: Du trittst also von dei­nem Un­ter­neh­men zu­rück? – Pyr­rhon: Viel­mehr- du hast mir eben das Tor ge­zeigt, durch wel­ches ich ge­hen muß. – Der Al­te: Ich weiß nicht – : ver­ste­hen wir uns jetzt noch völ­lig? – Pyr­rhon: Wahr­schein­lich nicht. – Der Al­te: Wenn du dich nur sel­ber völ­lig ver­stehst! – Pyr­rhon dreht sich um und lacht. – Der Al­te: Ach Freund! Schwei­gen und La­chen – ist das jetzt dei­ne gan­ze Phi­lo­so­phie? – Pyr­rhon: Es wäre nicht die schlech­tes­te.-

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Eu­ro­päi­sche Bü­cher. – Man ist beim Le­sen von Mon­taig­ne, La Ro­che­fou­cauld, La Bruy­ere, Fon­te­nel­le (na­ment­lich der dia­lo­gues des morts), Vau­ve­n­ar­gues, Cham­fort dem Al­ter­tum nä­her als bei ir­gend wel­cher Grup­pe von sechs Au­to­ren an­de­rer Völ­ker. Durch jene Sechs ist der Geist der letz­ten Jahr­hun­der­te der al­ten Zeit­rech­nung wie­der er­stan­den – sie zu­sam­men bil­den ein wich­ti­ges Glied in der großen noch fort­lau­fen­den Ket­te der Re­naissance. Ihre Bü­cher er­he­ben sich über den Wech­sel des na­tio­na­len Ge­schmacks und der phi­lo­so­phi­schen Fär­bun­gen, in de­nen für ge­wöhn­lich jetzt je­des Buch schil­lert und schil­lern muß, um be­rühmt zu wer­den: sie ent­hal­ten mehr wirk­li­che Ge­dan­ken als alle Bü­cher deut­scher Phi­lo­so­phen zu­sam­men­ge­nom­men: Ge­dan­ken von der Art, wel­che Ge­dan­ken macht, und die – ich bin in Ver­le­gen­heit zu Ende zu de­fi­nie­ren; ge­nug, daß es mir Au­to­ren zu sein schei­nen, wel­che we­der für Kin­der noch für Schwär­mer ge­schrie­ben ha­ben, we­der für Jung­frau­en noch für Chris­ten, we­der für Deut­sche noch für – ich bin wie­der in Ver­le­gen­heit, mei­ne Lis­te zu schlie­ßen. – Um aber ein deut­li­ches Lob zu sa­gen: sie wä­ren, grie­chisch ge­schrie­ben, auch von Grie­chen ver­stan­den wor­den. Wie­viel hät­te da­ge­gen selbst ein Pla­to von den Schrif­ten un­se­rer bes­ten deut­schen Den­ker, zum Bei­spiel Goe­thes und Scho­pen­hau­ers, über­haupt ver­ste­hen kön­nen, von dem Wi­der­wil­len zu schwei­gen, wel­chen ihre Schreibart ihm er­regt ha­ben wür­de, näm­lich das Dunkle, Über­trie­be­ne und ge­le­gent­lich wie­der Klap­per­dür­re, – Feh­ler, an de­nen die Ge­nann­ten noch am we­nigs­ten von den deut­schen Den­kern und doch noch all­zu­viel lei­den (Goe­the, als Den­ker, hat die Wol­ke lie­ber um­armt, als bil­lig ist, und Scho­pen­hau­er wan­delt nicht un­ge­straft fast fort­wäh­rend un­ter Gleich­nis­sen der Din­ge statt un­ter den Din­gen sel­ber). – Da­ge­gen, wel­che Hel­lig­keit und zier­li­che Be­stimmt­heit bei je­nen Fran­zo­sen! Die­se Kunst hät­ten auch die fei­noh­rigs­ten Grie­chen gut­hei­ßen müs­sen, und ei­nes wür­den sie so­gar be­wun­dert und an­ge­be­tet ha­ben, den fran­zö­si­schen Witz des Aus­drucks: so et­was lieb­ten sie sehr, ohne ge­ra­de dar­in be­son­ders stark zu sein.

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Mo­de und mo­dern. – Über­all, wo noch die Un­wis­sen­heit, die Un­rein­lich­keit, der Aber­glau­be im Schwan­ge sind, wo der Ver­kehr lahm, die Land­wirt­schaft arm­se­lig, die Pries­ter­schaft mäch­tig ist, da fin­den sich auch noch die Na­tio­naItrach­ten. Da­ge­gen herrscht die Mo­de, wo die An­zei­chen des Ent­ge­gen­ge­setz­ten sich fin­den. Die Mode ist also ne­ben den Tu­gen­den des jet­zi­gen Eu­ro­pa zu fin­den: soll­te sie wirk­lich de­ren Schat­ten­sei­te sein? – Zu­nächst sagt die männ­li­che Be­klei­dung, wel­che mo­disch und nicht mehr na­tio­nal ist, von dem, der sie trägt, aus, daß der Eu­ro­pä­er nicht als Ein­zel­ner noch als Stan­des- und Volks­ge­nos­se auf­fal­len will, daß er sich eine ab­sicht­li­che Dämp­fung die­ser Ar­ten von Ei­tel­keit zum Ge­setz ge­macht hat: dann, daß er ar­beit­sam ist und nicht viel Zeit zum An­klei­den und Sich-put­zen hat, auch al­les Kost­ba­re und Üp­pi­ge in Stoff und Fal­ten­wurf im Wi­der­spruch mit sei­ner Ar­beit fin­det; end­lich, daß er durch sei­ne Tracht auf die ge­lehr­te­ren und geis­ti­ge­ren Be­ru­fe als die hin­weist, wel­chen er als eu­ro­päi­scher Mensch am nächs­ten steht oder ste­hen möch­te: wäh­rend durch die noch vor­han­de­nen Na­tio­nal­trach­ten der Räu­ber, der Hirt oder der Sol­dat als die wünsch­bars­ten und ton­an­ge­ben­den Le­bens­stel­lun­gen hin­durch­schim­mern. In­ner­halb die­ses Ge­samt-Cha­rak­ters der männ­li­chen Mode gibt es dann jene klei­nen Schwan­kun­gen, wel­che die Ei­tel­keit der jun­gen Män­ner, der Stut­zer und Nichts­tu­er der großen Städ­te her­vor­bringt, also de­rer, wel­che als eu­ro­päi­sche Men­schen noch nicht reif ge­wor­den sin­d. – Die eu­ro­päi­schen Frau­en sind dies noch viel we­ni­ger, wes­halb die Schwan­kun­gen bei ih­nen viel grö­ßer sind: sie wol­len auch das Na­tio­na­le nicht und has­sen es, als Deut­sche, Fran­zo­sen, Rus­sen an der Klei­dung er­kannt zu wer­den, aber als ein­zel­ne wol­len sie sehr gern auf­fal­len; eben­so soll nie­mand schon durch ihre Be­klei­dung im Zwei­fel ge­las­sen wer­den, daß sie zu ei­ner an­ge­se­he­ne­ren Klas­se der Ge­sell­schaft (zur "gu­ten" oder "ho­hen" oder "großen" Welt) ge­hö­ren, und zwar wün­schen sie nach die­ser Sei­te hin ge­ra­de um so mehr vor­ein­zu­neh­men, als sie nicht oder kaum zu je­ner Klas­se ge­hö­ren. Vor al­lem aber will die jun­ge Frau nichts tra­gen, was die et­was äl­te­re trägt, weil sie durch den Ver­dacht ei­nes hö­he­ren Le­bensal­ters im Prei­se zu fal­len glaubt: die äl­te­re wie­der­um möch­te durch ju­gend­li­che­re Tracht so lan­ge täu­schen, als es ir­gend an­geht, – aus wel­chem Wett­be­werb sich zeit­wei­lig im­mer Mo­den er­ge­ben müs­sen, bei de­nen das ei­gent­lich Ju­gend­li­che ganz un­zwei­deu­tig und un­nach­ahm­lich sicht­bar wird. Hat der Er­fin­dungs­geist der jun­gen Künst­le­rin­nen in sol­chen Bloß­stel­lun­gen der Ju­gend eine Zeit­lang ge­schwelgt, oder um die gan­ze Wahr­heit zu sa­gen – hat man wie­der ein­mal den Er­fin­dungs­geist äl­te­rer hö­fi­scher Kul­tu­ren, so­wie den der noch be­ste­hen­den Na­tio­nen, und über­haupt den gan­zen ko­stü­mier­ten Erd­kreis zu Rate ge­zo­gen und etwa die Spa­nier, die Tür­ken und Alt­grie­chen zur Ins­ze­nie­rung des schö­nen Flei­sches zu­sam­men­ge­kop­pelt: so ent­deckt man end­lich im­mer wie­der, daß man sich doch nicht zum Bes­ten auf sei­nen Vor­teil ver­stan­den habe; daß, um auf die Män­ner Wir­kung zu ma­chen, das Ver­steck­spie­len mit dem schö­nen Lei­be glück­li­cher sei, als die nack­te und halb­nack­te Ehr­lich­keit; und nun dreht sich das Rad des Ge­schmackes und der Ei­tel­keit ein­mal wie­der in ent­ge­gen­ge­setz­ter Rich­tung: die et­was äl­te­ren jun­gen Frau­en fin­den, daß ihr Reich ge­kom­men sei, und der Wett­kampf der lieb­lichs­ten und ab­sur­des­ten Ge­schöp­fe tobt wie­der von neu­em. Je mehr aber die Frau­en in­ner­lich zu­neh­men und nicht mehr un­ter sich, wie bis­her, den un­rei­fen Al­ter­sklas­sen den Vor­rang zu­ge­ste­hen, um so ge­rin­ger wer­den die­se Schwan­kun­gen ih­rer Tracht, um so ein­fa­cher ihr Putz: über wel­chen man bil­li­ger­wei­se nicht nach an­ti­ken Mus­tern das Ur­teil spre­chen darf, also nicht nach dem Maß­sta­be der Ge­wan­dung süd­län­di­scher See-An­woh­ne­rin­nen, son­dern in Berück­sich­ti­gung der kli­ma­ti­schen Be­din­gun­gen der mitt­le­ren und nörd­li­chen Ge­gen­den Eu­ro­pas, de­rer näm­lich, in wel­chen jetzt der geist- und for­mer­fin­den­de Ge­ni­us Eu­ro­pas sei­ne liebs­te Hei­mat hat. – Im gan­zen wird also ge­ra­de nicht das Wech­seln­de das cha­rak­te­ris­ti­sche Zei­chen der Mo­de und des Mo­der­nen sein, denn ge­ra­de der Wech­sel ist et­was Rück­stän­di­ges und be­zeich­net die noch un­ge­reif­ten männ­li­chen und weib­li­chen Eu­ro­pä­er: son­dern die Ab­leh­nung der na­tio­na­len, stän­di­schen und in­di­vi­du­el­len Ei­tel­keit. Dement­spre­chend ist es zu lo­ben, weil es kraft- und zeiter­spa­rend ist, wenn ein­zel­ne Städ­te und Ge­gen­den Eu­ro­pas für alle üb­ri­gen in Sa­chen der Klei­dung den­ken und er­fin­den, in An­be­tracht des­sen, daß der For­men­sinn nicht je­der­mann ge­schenkt zu sein pflegt; auch ist es wirk­lich kein all­zu hoch­flie­gen­der Ehr­geiz, wenn zum Bei­spiel Pa­ris, so lan­ge jene Schwan­kun­gen noch be­ste­hen, es in An­spruch nimmt, der al­lei­ni­ge Er­fin­der und Neue­rer in die­sem Rei­che zu sein. Will ein Deut­scher, aus Haß ge­gen die­se An­sprü­che ei­ner fran­zö­si­schen Stadt, sich an­ders klei­den, zum Bei­spiel so wie Al­brecht Dü­rer sich trug, so möge er er­wä­gen, daß er dann ein Ko­stüm hat, wel­ches ehe­ma­li­ge Deut­sche tru­gen, wel­ches aber die Deut­schen eben­so­we­nig er­fun­den ha­ben, – es hat nie eine Tracht ge­ge­ben, wel­che den Deut­schen als Deut­schen be­zeich­ne­te; üb­ri­gens mag er zu­se­hen, wie er aus die­ser Tracht her­aus­schaut und ob etwa der ganz mo­der­ne Kopf nicht mit all sei­ner Li­ni­en- und Fält­chen­schrift, wel­che das neun­zehn­te Jahr­hun­dert hin­ein­grub, ge­gen eine Dü­re­ri­sche Be­klei­dung Ein­spra­che tut. – Hier, wo die Be­grif­fe "mo­dern" und "eu­ro­pä­isch" fast gleich ge­setzt sind, wird un­ter Eu­ro­pa viel mehr an Län­der­stre­cken ver­stan­den, als das geo­gra­phi­sche Eu­ro­pa, die klei­ne Halb­in­sel Asi­ens, um­faßt: na­ment­lich ge­hört Ame­ri­ka hin­zu, so­weit es eben das Toch­ter­land un­se­rer Kul­tur ist. An­de­rer­seits fällt nicht ein­mal ganz Eu­ro­pa un­ter den Kul­tur-Be­griff, "Eu­ro­pa"; son­dern nur alle jene Völ­ker und Völ­ker­tei­le, wel­che im Grie­chen-, Rö­mer-, Ju­den- und Chris­ten­tum ihre ge­mein­sa­me Ver­gan­gen­heit ha­ben.

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Die "deut­sche Tu­gend". – Es ist nicht zu leug­nen, daß vom Aus­gan­ge des vo­ri­gen Jahr­hun­derts an ein Strom mo­ra­li­scher Er­we­ckung durch Eu­ro­pa floß. Da­mals erst wur­de die Tu­gend wie­der be­redt; sie lern­te es, die un­ge­zwun­ge­nen Ge­bär­den der Er­he­bung, der Rüh­rung fin­den, sie schäm­te sich ih­rer sel­ber nicht mehr und er­sann Phi­lo­so­phien und Ge­dich­te zur ei­ge­nen Ver­herr­li­chung. Sucht man nach den Quel­len die­ses Stro­mes: so fin­det man ein­mal Rous­seau, aber den my­thi­schen Rous­seau, den man sich nach dem Ein­dru­cke sei­ner Schrif­ten – fast könn­te man wie­der sa­gen: sei­ner my­thisch aus­ge­leg­ten Schrif­ten – und nach den Fin­ger­zei­gen, die er sel­ber gab, er­dich­tet hat­te ( – er und sein Pub­li­kum ar­bei­te­ten be­stän­dig an die­ser Ide­al­fi­gur). Der an­de­re Ur­sprung liegt in je­ner Wie­der­au­fer­ste­hung des sto­isch-großen Rö­mer­tums, durch wel­che die Fran­zo­sen die Auf­ga­be der Re­naissance auf das wür­digs­te wei­ter­ge­führt ha­ben. Sie gin­gen von der Nach­schöp­fung an­ti­ker For­men mit herr­lichs­tem Ge­lin­gen zur Nach­schöp­fung an­ti­ker Cha­rak­tere über: so daß sie ein An­recht auf die al­ler­höchs­ten Ehren im­mer­dar be­hal­ten wer­den, als das Volk, wel­ches der neue­ren Mensch­heit bis­her die bes­ten Bü­cher und die bes­ten Men­schen ge­ge­ben hat. Wie die­se dop­pel­te Vor­bild­lich­keit, die des my­thi­schen Rous­seau und die je­nes wie­der­er­weck­ten Rö­mer­geis­tes, auf die schwä­che­ren Nach­barn wirk­te, sieht man na­ment­lich an Deutsch­land: wel­ches in­fol­ge sei­nes neu­en und ganz un­ge­wohn­ten Auf­schwun­ges zu Ernst und Grö­ße des Wol­lens und Sich – Be­herr­schens zu­letzt vor sei­ner ei­ge­nen neu­en Tu­gend in Stau­nen ge­riet und den Be­griff "deut­sche Tu­gend" in die Welt warf, wie als ob es nichts Ur­sprüng­li­che­res, Er­b­eig­ne­res ge­ben könn­te als die­se. Die ers­ten großen Män­ner, wel­che jene fran­zö­si­sche An­re­gung zur Grö­ße und Be­wußt­heit des sitt­li­chen Wol­lens auf sich über­lei­te­ten, wa­ren ehr­li­cher und ver­ga­ßen die Dank­bar­keit nicht. Der Mora­lis­mus Kants – wo­her kommt er? Er gibt es wie­der und wie­der zu ver­ste­hen: von Rous­seau und dem wie­der­er­weck­ten stoi­schen Rom. Der Mora­lis­mus Schil­lers: glei­che Quel­le, glei­che Ver­herr­li­chung der Quel­le. Der Mora­lis­mus Beetho­vens in Tö­nen: er ist das ewi­ge Lob­lied Rous­se­aus, der an­ti­ken Fran­zo­sen und Schil­lers. Erst "der deut­sche Jüng­ling" ver­gaß die Dank­bar­keit, in­zwi­schen hat­te man ja das Ohr nach den Pre­di­gern des Fran­zo­sen­has­ses hin­ge­wen­det: je­ner deut­sche Jüng­ling, der eine Zeit­lang mit mehr Be­wußt­heit als man bei an­dern Jüng­lin­gen für er­laubt hält, in den Vor­der­grund trat. Wenn er nach sei­ner Va­ter­schaft spür­te, so moch­te er mit Recht an die Nähe Schil­lers, Fich­tes und Schlei­er­ma­chers den­ken: aber sei­ne Groß­vä­ter hät­te er in Pa­ris, in Genf su­chen müs­sen, und es war sehr kurz­sich­tig zu glau­ben, was er glaub­te: daß die Tu­gend nicht äl­ter als drei­ßig Jah­re sei. Da­mals ge­wöhn­te man sich dar­an, zu ver­lan­gen, daß beim Wor­te "deutsch" auch noch so ne­ben­bei die Tu­gend mit­ver­stan­den wer­de: und bis auf den heu­ti­gen Tag hat man es noch nicht völ­lig ver­lernt. – Ne­ben­bei be­merkt, jene ge­nann­te mo­ra­li­sche Er­we­ckung hat für die Er­kennt­nis der mo­ra­li­schen Er­schei­nun­gen, wie sich fast er­ra­ten läßt, nur Nach­tei­le und rück­schrei­ten­de Be­we­gun­gen zur Fol­ge ge­habt. Was ist die gan­ze deut­sche Moral­phi­lo­so­phie, von Kant an ge­rech­net, mit al­len ih­ren fran­zö­si­schen, eng­li­schen und ita­lie­ni­schen Aus­läu­fern und Ne­ben­züg­lern? Ein halb­theo­lo­gi­sches At­ten­tat ge­gen Hel­ve­ti­us, ein Ab­wei­sen der lan­ge und müh­sam er­kämpf­ten Freibli­cke oder Fin­ger­zei­ge des rech­ten We­ges, wel­che er zu­letzt gut aus­ge­spro­chen und zu­sam­men­ge­bracht hat. Bis auf den heu­ti­gen Tag ist Hel­ve­ti­us in Deutsch­land der best­be­schimpf­te al­ler gu­ten Mora­lis­ten und gu­ten Men­schen.

Age restriction:
18+
Volume:
5253 p. 6 illustrations
ISBN:
9783962815295
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