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1. Prolog
2. Donnerstag, 2. Mai: Ubaldos Problem
3. Donnerstag, 2. Mai: Nette Idee
4. Freitag, 3. Mai: Hühnertraum
5. Freitag, 3. Mai: Fiese Erpressung
6. Sonntag, 5. Mai: Gottesdienst
7. Montag, 6. Mai: Gerüchteküche
8. Montag, 6. Mai: Rosa Schwein und dunkle Planung
9. Montag, 6. Mai: Erste Feriengäste
10. Dienstag, 7. Mai: Haushalterische Verwunderung
11. Dienstag, 7. Mai: Übungsstehlen
12. Dienstag, 7. Mai: Überraschendes Kaffeetrinken
13. Dienstag, 7. Mai: Kneipenabend
14. Mittwoch, 8. Mai: Neuer Plan
15. Donnerstag, 9. Mai: Huhnfangversuch
16. Donnerstag, 9. Mai: Mysteriöser Frisörbesuch
17. Donnerstag, 9. Mai: Zeitungskauf
18. Donnerstag, 9. Mai: Gefährliche Ahnungen
19. Donnerstag, 9. Mai: Rollstuhlchance
20. Donnerstag, 9. Mai: Warnung
21. Freitag, 10. Mai: Kaltes Erwachen
22. Freitag, 10. Mai: Inquisition
23. Freitag, 10. Mai: Besuchsverkehr
24. Freitag, 10. Mai: Umfall in der Kneipe
25. Samstag, 11. Mai: Streit im Pfarrhaus
26. Samstag, 11. Mai: Treppenfall
27. Samstag, 11. Mai: Hoffnungsfall
28. Sonntag, 12. Mai: Kommando Rosa
29. Montag, 13. Mai: Wandlung
30. Montag, 13. Mai: Fragwürdiger Brief
31. Montag, 13. Mai: Aufklärung
32. Dienstag, 14. Mai: Glockenklang
33. Freitag, 17. Mai: Beerdigungen
34. Eine Woche später
Impressum neobooks

Friedlinde Aden
Schwebendes Unheil
Kriminelles aus Kleinlago
Selbstverlag
Ähnlichkeiten mit lebenden, verstorbenen, bekannten und unbekannten Personen sind rein zufällig und aufgrund des Romans unerlässlich.
2. Auflage
ISBN 978-3-9820800-5-5
© 2020 Selbstverlag Friedlinde Aden
Hafenstraße 19 a, 22880 Wedel, f.aden@gmx.de Text: Friedlinde Aden, Wedel Lektorat: Silke Weißenburg Umschlaggestaltung: Friedlinde Aden Umschlagmotiv: © Friedlinde Aden Satz: Friedlinde Aden
In Erinnerung an meinen Vater
Die Irdischen Emilio Horatio Müller, Pfarrer Ubaldo Ohnesorg, Friedhofsgärtner Rosa Fröhlich, Inhaberin des Lebensmittelgeschäftes Lorenzo Fröhlich, Polizist, verwandt mit Rosa Felipe auf dem Hofe, Bauer, Ehemann von Marina Marina auf dem Hofe, Frau von Felipe, Ex-Frau von Ubaldo Leonardo, eigentlich Erich Schöneich, Frisör Grappa, genannt der alte Grappa, Kneipenwirt, Vater von Pedro Pedro, Bäcker, Organist Berta, genannt die alte Berta, Einwohnerin Frau von Ruppin, Einwohnerin, besitzt Ferienhäuser Georg, weißer Pudel, Hund von Frau von Ruppin Frau Tasche, Einwohnerin, wohnt über der Bäckerei Valenzia Hoffmeister, Haushälterin des Pfarrers, wohnt im Nachbarort Isolde von Haubenstein,Feriengast, Ehefrau von Hubertus Hubertus von Haubenstein, Feriengast Rahtol, Feriengast, Kriminalschriftsteller
Die Überirdischen Emilio Engel Ubaldo Engel Rosa Engel Lorenzo Engel Felipe Engel Leonardo Engel Grappa Engel Berta Engel Isolde Engel Hubertus Engel Herr Gott Der vom heißen Ofen Georg Engel
1. Prolog
Das hatte er nicht erwartet: Von oben kamen ihm mit großem Gepolter ein Körper und ein Stuhl entgegen.
Und er hatte doch nur „hallo“ gerufen.
2. Donnerstag, 2. Mai: Ubaldos Problem
Ein blauer Sommerhimmel stand wie festgenagelt über dem Friedhof. Es war zwölf Uhr mittags. Grässlich übereifrige Sonnenstrahlen brachten die wenigen sauberen Marmorgrabsteine zum Funkeln. Ihr Licht blendete seine Augen, bah. Bienen summten laut um die betäubend riechenden Lavendelblüten herum. In den hohen Grasbüscheln der ungepflegten Gräber übten die Grashüpfer Hochsprungwettkampf, und die Vögel zwitscherten lärmend, als hätten sie nichts anderes zu tun, als zu tratschen.
Seit Wochen kein neuer Toter, verdammt.
Der Friedhofsgärtner Ubaldo Ohnesorg schlurfte, missmutig vor sich hin brummelnd, mit hängendem Kopf und fettigen Haaren zwischen den Gräbern herum. Er stolperte in seinen ausgetretenen Schuhen über einen Grabstein, gab ihm mit dem rechten Fuß einen kurzen Tritt, versank mit dem linken fast in einem Maulwurfshügel und hockte sich, nachdem er sich sein Knie an ihr gestoßen hatte, schimpfend auf eine kleine Bank.
Mit seinen faltigen Händen fuhr Ubaldo über die abblätternden Farbplacken auf dem Holz. Sechzig Jahre war er jetzt, fühlte sich aber mindestens wie siebzig. Mit einem gelb-fleckigen Taschentuch wischte er sich immer wieder den Schweiß von der Stirn. Er hatte Sorgen, oh ja, dem Namen zum Trotz hatte er sogar große Sorgen: Es starb keiner mehr. Und wenn das so weiterginge, dann käme nicht genug Geld rein und der Friedhof würde geschlossen. Die meisten Angehörigen pflegten ihre Gräber sowieso schon selber, die anderen ließen sie verkommen. Man sah ja, zu was dieses Gräberfeld wurde: zu einem von allerlei Getier und Unkraut besetzten Platz. Er liebte Tiere, aber nur, wenn sie sich am ihnen zustehenden Ort aufhielten. Und hier hatte Ruhe zu herrschen. Totenstille sozusagen. Nicht so ein Gezirpe und Gezwitschere.
Ubaldo stützte seinen Kopf in die Hände. Friedhofsschließung. Das wär´s mit seinem Job, er müsste in Rente gehen. Schon jetzt hing er in seiner freien Zeit tatenlos herum. Dann könnte er sich gleich sein eigenes Grab schaufeln. Denn mit dem Minijob als Küster der hiesigen Kleinkirche käme er nicht weit. Deprimiert starrte Ubaldo auf den Grabstein vor sich.
„Johannes“ stand darauf, Geburts- und Todestag. Der war definitiv zu jung zum Sterben. Aber warum rannte er immer, ohne zu gucken, über die Straße? Der Pfarrer hatte bei der Grabrede vermutet, er sei vor sich selber weggelaufen. Der hatte ständig so nervige Allerweltswahrheiten auf der Zunge. Pah, als ob man das könnte, da wär er ja schon zehnmal vor sich selber weggelaufen, so wie seine Alte, die Marina.
Hatte er laut gesprochen? Er schaute sich kurz verstohlen um. Aber es war wieder mal niemand außer ihm auf dem Friedhof.
Johannes, ein schöner Name. Dagegen Ubaldo! Seine Eltern hätten ihn doch Vincenzo nennen können oder Lorenzo, wie der junge Dorfpolizist hieß – aber nein, Ubaldo. Das klang so gewalttätig. Ach, das Leben war ungerecht.
Verdrossen ließ er seinen Blick über das Gräberfeld schweifen. Hin zu dem steinernen Tor, das den Eingang bildete. Davor stand der Löwe, der alles bewachte. Gestiftet von der alten Berta. Bald hätte auch er nichts mehr zu tun. Und die Palme auf der anderen Eingangsseite müsste sehen, wo sie ihr Wasser her bekäme. Denn für umsonst würde er hier sicher nicht arbeiten, es gab schon so kaum Geld für seinen Job.
Da kam ganz langsam auf sanften Erinnerungsfüßen von hinten ein Gedanke an Ubaldo herangeschlichen: In der Kneipe hatte er vor kurzem gehört, dass sogar die Pfarrei bedroht sei. Weil es nicht mehr genügend Kirchgänger gäbe. Dann hätte doch der Pfarrer ein ähnliches Problem wie er. Ob er ihn mal ansprechen sollte? Zusammen würden sie bestimmt einen Weg finden, raus aus ihren Sorgen. Er hatte auch schon so eine Idee.
Mit einem Ruck erhob Ubaldo sich und schlug mit neuem Mut den Weg über die Straße direkt zum Pfarrhaus ein.
Lorenzo Engel: Chef, schau dir den mal an! Der heckt doch etwas aus.
Herr Gott: Im Augenblick sehe ich nichts Gefährliches.
Lorenzo Engel: Chef, du bist wirklich zu vertrauensselig. Ich sage vorsichtshalber Ubaldo Engel Bescheid.
3. Donnerstag, 2. Mai: Nette Idee
„Ha, Ubaldo!“ Mit freudigem Schwung öffnete Pfarrer Müller die Haustür. Endlich eine Abwechslung in seinem einsamen Dasein. „Verflucht heiß heute!“
Er war ein Mann mit dickem Bauch und deutlichen Worten, auch auf der Kanzel, sprach genau so wie die Leute im Dorf. Sein weißer Wuschelkopf rief bei den vorwiegend weiblichen Besuchern des Gottesdienstes, wenn denn welche kamen, so etwas wie einen Beschützerinstinkt hervor. Obwohl er mit seinen einhundertachtzig Zentimetern doch dem Kindesalter schon entwachsen war. Und gerne selbst eine von ihnen beschützt hätte.
„Das is wohl wahr. Tach, Herr Pfarrer, jo, ich dacht“, er stockte, „jo ich dacht, ich kann mal einfach so vorbeischauen. Bei der Hitze is Arbeiten ja nich möglich.“
„Immer reinspaziert in die gute Stube.“
Durch den schmalen Flur folgte Ubaldo Pfarrer Müller in das große, helle Arbeitszimmer.
An der Tür blieb er verdutzt stehen. Er war schon öfter hier gewesen, aber so eine Unordnung hatte er noch nie erlebt! Der wuchtige runde Holztisch in der Zimmermitte war unter Papierbergen versteckt. Auf dem Arbeitstisch zwischen den beiden Fenstern, deren Augen zum Pfarrgarten hinausgingen, lagen Stifte und Akten wild durcheinander. Selbst der gemütliche Ohrensessel, der daneben seinen Platz beanspruchte, wurde von Aktenordner okkupiert. Und der Boden erst! Ubaldo suchte verzweifelt eine freie Stelle, auf die er seine Füße setzen konnte. Dazu der ganze Staub, den die Luftbewegung bei ihrem Eintritt von den Akten geblasen hatte und der wie Puderzucker in den Sonnenstrahlen tanzte. Der Friedhofsgärtner unterdrückte einen Niesanfall.
„Ja, ja, sieht furchtbar aus.“ Pfarrer Müller hob resigniert die Hände. „Ich bereite mich auf den Auszug vor.“
Erschrocken riss Ubaldo seine Augen auf. „Is denn schon was beschlossen?“
„Na ja, nein, eigentlich nicht, aber wenn am nächsten Sonntag wieder nur drei Menschen in der Kirche sitzen und keine Kollekte hereinkommt, wird es langsam eng für mich. Außerdem“, Pfarrer Müller seufzte tief, „es ist erneut jemand ausgetreten. Ich weiß nicht, was ich noch alles predigen soll, damit sie bleiben.“ Er zeigte auf den Besucherstuhl am Tisch. „Wirf die Sachen einfach auf den Boden.“ Mit einer energischen Handbewegung räumte er seinen eigenen Platz auf der gegenüber liegenden Seite frei und plumpste auf den Stuhl.
„Immer nur Trauungen und Taufen mit fröhlichen Gesichtern, und keine Tränen mehr bei Beerdigungen, da ist was aus dem Lot.“ Erschrocken schlug er sich mit der Hand auf den Mund „Entschuldige, Ubaldo, vergiss, was ich gesagt habe. Freude ist doch etwas Schönes.“ Er lächelte gequält. Im Grunde genommen war er froh über die freudigen Ereignisse aus dem Nachbarort, der auch zu seiner Gemeinde gehörte. Hier im Dorf gab es dafür kaum Kandidaten, seine Versetzung wäre sonst das nächste, allerdings weniger freudige Ereignis.
„Nein, nein, da ham sie schon Recht.“ Der Friedhofsgärtner stand weiter unschlüssig an der Tür. Er trat von einem Fuß auf den anderen. Sollte er jetzt loslegen? „Also, ich kann das verstehen, vollkommen, jo vollkommen. Also ...“
Pfarrer Müller wachte aus seinem Selbstmitleid auf und warf einen gezielten Blick auf seinen Gast. Irgendetwas stimmte mit Ubaldo nicht. „Setzt dich erst einmal hin, und dann heraus mit der Sprache, wo drückt denn der Schuh?“ Er schob ein paar Papiere zur Seite und legte seine Hände wie zum Gebet vor sich auf die Tischplatte. Hochkonzentriert, als wolle er eine Beichte abnehmen.
„Jo, äh“, Ubaldo kippte die Akten von dem Besucherstuhl und nahm Platz, „das is das Problem, es gibt zu wenig Leute, die sterben.“ Jetzt hatte er es klar ausgesprochen.
„Ja, und? Daran können wir doch nichts ändern. Es sei denn, wir bringen eigenhändig welche um, damit wir sie anschließend beerdigen können.“ Der Pfarrer hielt inne und lachte kurz darauf schallend los. Dann erschrak er, als er Ubaldos zusammengekniffenen Mund sah. Er stoppte sein Lachen wie einen Zug durch eine Notbremsung. „Ubaldo? Warum sagst du nichts?“
„Jo, also, ihre Idee ...“
„Was meinst du, Ubaldo?“ Pfarrer Emilio Horatio Müller beugte sich wie in Zeitlupe auf seinem Stuhl nach vorne. Er rutschte so weit, dass sein Sitzmöbel bedenklich ins Kippen geriet. Zum Glück war da die Tischkante, die seinen Bauch und den Rest vor dem Fall bewahrte. „Du meinst ...?“
Ubaldo brauchte jetzt dringend einen guten Grund für sein Vorhaben.
„Jo, wie soll ich sagen, das wär doch zum Beispiel für viele Alte hier im Ort eine, na ja ... Hilfe.“ So viele Alte hatten sie nicht, aber egal. „Ich mein, die, die seit langem sterben wollen und nich können. Und für die, die immer etwas Schlimmes anstellen.“ Ups, diesen Gedanken sollte er schleunigst in eine dunkle Ecke verbannen, müsste er sich dann nicht selber umbringen?
„Ich dacht so“, fuhr Ubaldo schnell fort, „damit retten wir Friedhof und Pfarrei.“ Jetzt war es raus.
Entsetzt starrte der Pfarrer seinen Friedhofsgärtner an. Der meinte es ernst! Mit einem lauten Knall holte der pfarramtliche Stuhl alle wieder auf den Boden der Tatsachen.
„Ubaldo, Ubaldo, ...“ Einen Moment lang herrschte Stille. Nur die Vögel schwatzten unbekümmert draußen weiter, als hätte sich nichts in der Welt geändert. Pfarrer Müller drehte langsam seinen Kopf zu dem kleinen Holzkreuz, das an der Wand zwischen den beiden Fenstern hing.
„Ich glaube nicht, dass er da“, energisch deutete er mit seinem dicken Zeigefinger auf das Kreuz, „dass er damit einverstanden wäre.“
Mit verschwörerischer Miene beugte der Friedhofsgärtner sich zum Pfarrer hin.
„Aber dann würden wir ihm doch Arbeit abnehmen.“ Ubaldos Stimme war in ein Flüstern übergangen. „Und Entscheidungen, das is doch so schwierig, immer entscheiden. Ich hab damals, als das mit meiner Alten, ich mein mit meiner Marina anstand und der anderen, da hab ich mich nicht entschieden, denn das wär unheimlich schwer gewesen ...“
„Ja, ja, die Frauen.“ Emilio Horatio Müller schüttelte nachdenklich seinen Kopf. Mit Wehmut erinnerte er sich an den Moment in seiner Vergangenheit, an dem er aus heutiger Sicht den falschen Weg eingeschlagen hatte. „Trotzdem, was du gesagt hast, dürfen wir nicht einmal denken.“ Er hob seine Nase und schnupperte. Was war das für ein eigenartiger Geruch?
Ubaldo ließ seine Schultern sinken und sackte in sich zusammen. „Ne, ne, Herr Pfarrer, war nur ein Witz.“
„Na, da bin ich aber froh. Einen kleinen Schluck auf diesen Scherz?“ Pfarrer Müller hatte sich erleichtert seufzend erhoben und wandte sich zum Bücherschrank.
„Also, nichts für ungut, ich will dann ma wieder. Bisschen Unkraut zupfen, manche Gräber sehen ja grausig aus, so was von grausig.“ Ubaldo schob seinen Stuhl zurück und stand langsam auf. Das war gründlich schief gegangen.
„Tu das. Aber nicht zu lange bei dieser Hitze. Sonst bekommst du noch einen Hitzschlag und andere ...“, Pfarrer Müller steckte schon wieder ein Lachen im Hals, „andere nette Ideen. Und um dein Problem, ich meine unsere Probleme, kümmern wir uns morgen. Laut Wetterbericht wird es dann ein bisschen kühler sein. Komm doch am Nachmittag zum Kaffeetrinken zu mir.“
„Danke, Herr Pfarrer und tschüs.“ Ubaldo trottete zur Tür hinaus.
„Bis morgen.“ Pfarrer Müller schloss kopfschüttelnd mit einem Lächeln im Gesicht die Haustür. Wer den Friedhofsgärtner auf diese verrückten Gedanken gebracht hatte? Das roch im übertragenen Sinne schwefel-teuflisch. Auf jeden Fall würde es ein unterhaltsamer Nachmittag werden. Nur ernst nehmen, das durfte er Ubaldo nicht.
Emilio Engel: Unfassbar, auf was für Ideen der kommt!
Ubaldo Engel: Solange es nur Ideen sind, kann er denken, was er will.
Emilio Engel: Aber schau mal den an hinter dem heißen Ofen, wie der grinst! Vielleicht musst du aufpassen.
4. Freitag, 3. Mai: Hühnertraum
Ubaldo hatte einen riesigen hölzernen Eierlöffel in der Hand. Mit ihm schlug er auf das weiße Huhn ein, das zu seinen Füßen saß. Warum rannte es denn nicht weg? Er schlug so lange, bis Eidotter zwischen den Federn herauslief und sich auf dem Fußboden sammelte. Die flüssige Masse stieg geisterhaft in die Luft und verwandelte sich in ein Huhn, ein gelbes diesmal, das laut gackerte und davonrannte. Es gackerte und gackerte und gackerte, und Ubaldo hob verzweifelt seine Hände, um sich die Ohren zuzuhalten -
Da wachte er auf. Draußen vor seinem Fenster gackerte ein Huhn.
Die blöden Viecher von der alten Berta, fluchte er laut. Sie hatten ihn schon so oft geweckt, obwohl er doch gern lange schlief. Er ballte vor Wut seine Hände zu Fäusten. Am liebsten hätte er sie ...
Morden mit Eierlöffel, ging das überhaupt? Wie würde der Pfarrer seinen Traum deuten? War das nicht eine Zustimmung von weiter oben zu seinen Plänen? Ubaldo verzog seinen Mund zu einem hämischen Grinsen. Sein Leben würde sich bald ändern, davon war er überzeugt.
Mit diesen Gedanken schwang er seine Beine aus dem empört knatschenden Bett. Erst mal frühstücken. Dann Kontrollgang über den Friedhof wie jeden Tag und sich über die unbelegten Gräber ärgern. Wie jeden Tag.
Ubaldo Engel: Chef, wer hat ihm denn diesen Traum eingegeben? Chef?
Lorenzo Engel: Schau doch mal dahinten, er ist schon bei dem vom heißen Ofen und hält ihm eine Standpredigt.
5. Freitag, 3. Mai: Fiese Erpressung
Punkt drei Uhr am Freitagnachmittag stand Ubaldo vor der Tür des Pfarrhauses. Er hatte, quasi als Bestechung, drei Stück Kuchen bei Pedro in der Bäckerei gekauft, einen Käsekuchen für sich und zwei Kirschstreusel mit Sahne für den Pfarrer. Den aß der so gerne, er war geradezu süchtig danach. Siegesgewiss trug Ubaldo das Kuchentablett auf seiner linken Hand, mit der rechten drückte er energisch auf den Klingelknopf. Nichts rührte sich. Er klingelte ein zweites Mal, etwas länger. Keine Reaktion. Ungeduldig lief er vor der Tür hin und her. Hatte der Pfarrer die Verabredung vergessen? Die Sonne brannte wieder heiß vom Himmel, obwohl der Wetterbericht Kühle angekündigt hatte, kein Verlass mehr auf nichts. Sicher floss die Sahne schon nach allen Kuchenseiten weg. Endlich!
„Hallo, Ubaldo, ich sehe, auch du hast an unser leibliches Wohl gedacht.“ Pfarrer Müller strahlte und nahm ihm das Kuchenpaket ab. Für ihn schien es keine Probleme mehr zu geben. „Na, dann komm mal rein. Ich habe nur rasch den Tisch zu Ende gedeckt.“ An seinem Gastgeber vorbei steuerte Ubaldo die Küche an. Es duftete nach frisch gemahlenen Kaffeebohnen.
„Andere Richtung, wir sitzen heute im Arbeitszimmer. Da ist es gemütlicher.“
Wieso das denn, bei der Unordnung? An der Tür des Kaffeezimmers blieb Ubaldo stehen und ließ seine Augen durch den Raum schweifen: Alles sah wieder so aus wie früher, keine herumliegenden Akten, Papiere oder Stifte. Den Tisch dominierte eine Tortenplatte mit fünf Stück Kirschstreuselkuchen, daneben eine Glasschüssel mit Sahne für mindestens vier Personen, zwei Teller, zwei Kaffeebecher und eine riesige Kaffeekanne.
Pfarrer Müller hatte Ubaldos suchenden Blick bemerkt. „Tja, ich habe alles wieder in den Schrank geräumt, war noch ein bisschen früh für Resignation. Setz dich doch.“ Er öffnete das Gastgeschenk, leckte sich über die Lippen und stellte das Papptablett neben den anderen Kuchen. „Lang zu und lass es dir schmecken.“
Nachdem sie eine Weile wortlos vor sich hin genossen hatten, schaute der Pfarrer Ubaldo an.
„Also“, er legte seine Kuchengabel auf den Teller, „ich habe über deinen Vorschlag nachgedacht.“ Ein leichtes Lächeln überzog sein Gesicht.
Ubaldo hielt mitten im Kauen inne und blickte erstaunt auf. Hatte er schon gewonnen?
Aus den Tiefen der Wohnung kam eine Fliege und summte über der Schlagsahne hin und her. Sie sah keine Möglichkeit, draußen für Essen zu sorgen, da die Fenster geschlossen waren. Deshalb erlaubte sie sich eine Verköstigung der Sahne, hob aber schnell wieder ab, um nicht doch in Todesgefahr zu kommen, sie nahm eine sich aufbauende Spannung in der Luft wahr.
„Deiner Meinung nach würden wir mit dem Bösen etwas Gutes tun“, fuhr der Pfarrer fort. Er drehte vorsichtshalber seinen Kopf leicht zum Holzkreuz: Wenn Er mit diesen spielerischen Gedanken nicht einverstanden war, dann sollte es jetzt runterfallen. Nichts geschah.
Herr Gott: Verflixt, glaubt der denn, dass wir hier oben hexen können?
„Ich verstehe deine Idee.“ Pfarrer Müller nickte mehrmals bedächtig mit dem Kopf. Auch ihm war ein Kandidat für dieses Spiel eingefallen: der Frisör Leonardo. Im letzten Monat hatte er ihm trotz seines Protestes die Haare zu kurz geschnitten und diese Frisur auch noch schick gefunden – was für ein eingebildeter Kerl!
„Jo?“, fragte Ubaldo ungeduldig nach. Wieso kam der Pfarrer nicht endlich auf den Punkt?
„Lass uns mal mit deiner Idee spielen. An wen hast du denn da gedacht? Wer benötigt unsere H-i-l-f-e?“ Seine Gedanken an Leonardo schubste er rasch in die hinterste Ecke seines Gedächtnisses und stach stattdessen seine Gabel in das Reststück vom zweiten Kirschstreuselkuchen. Mal sehen, wer so in Ubaldos Kopf herumspukte.
„Jo, ich hab da so einige“, antwortete Ubaldo hastig, die Worte quollen aus ihm raus, wie Lava bei einem Vulkanausbruch, „zuallererst die alte Berta. Von der hab ich sogar heut morgen geträumt. Also nich direkt von ihr, sondern von ihrem Huhn. Und dann hat es wirklich gegackert, wieder mal draußen vor meinem Fenster, gack, gack, gack.“ Er fuchtelte wütend mit seiner Gabel in der Luft herum, ein Klacks Sahne landete gegenüber mitten auf dem aufgespießten Backwerk.
„So, so, dann müssten wir doch das Huhn, du weißt schon, was ich meine.“ Pfarrer Müller führte Kuchen und Sahne zum Mund. Dabei schaute er verträumt in den Raum. Hühnersuppe! Das Kuchenstück schmeckte jetzt nach Huhn.
„Aber das arme Tier kann ja nich dafür, dass es immer bei mir im Hof rumläuft“, Ubaldo ließ seine Gabel auf den Teller fallen, dass es nur so klirrte, „wenn die alte Berta nich endlich mal den Zaun flickt. Seit Wochen geht das so, immer dieses Gack, Gack, Gack direkt vor meinem Schlafzimmerfenster.“ Er atmete heftig ein und aus. Allein der Gedanke an das Huhn brachte ihn in Wallung. Und dieser abweisende Blick der Alten, wenn er sie auf das Problem ansprach.
„Also, die Berta“, nahm Pfarrer Müller wieder den Gesprächsfaden auf, nachdem er geschluckt hatte.
„Und dann is da der alte Felipe auf dem Hof hinter dem Wald.“ Ubaldo ballte seine Hände zu Fäusten.
„Der dir deine Frau ... ausgespannt hat.“ Pfarrer Müller konnte sich ein Grinsen nicht verkneifen. Da kamen langsam die richtigen Beweggründe für das Vorhaben zutage. „So alt ist der doch noch gar nicht.“ Er legte die Gabel wieder auf dem Teller ab, lehnte sich auf dem Stuhl zurück und faltete die Hände über seinem Bauch zusammen. Mal sehen, wie Ubaldo seine Wahl begründen würde.
„Aber er is kein guter Mensch, ne, wirklich nich. Sein Hof is so sauber, da kann nich mal ne Kellerassel leben. Und damit auch kein Vogel oder wer auch immer Kellerasseln frisst. Ne, lebenswert is es da nich.“ Ubaldo hatte einen roten Kopf bekommen, so hatte er sich in Rage geredet. „Und meine Marina leidet auch darunter, ganz bestimmt.“ Er schwang seine rechte Faust in Richtung Pfarrer.
„Ja, ja.“ Die Stirn von Emilio Horatio Müller sah jetzt aus wie ein Faltengebirge. Das gefiel ihm alles langsam aber sicher immer weniger. Die Wut, die aus Ubaldos Augen aufblitzte, bereitete dem Pfarrer Sorgen. War es doch falsch gewesen, sich auf diese Spinnereien einzulassen?
„Und die Frau Tasche, diese olle Schabracke. Die hat ihren Mann auf nem andren Friedhof begraben lassen.“ Ubaldo schnaubte auf und ließ seine Fäuste auf den Tisch knallen.
„Na, na, na.“ Innerlich stimmte Pfarrer Müller dem Friedhofsgärtner zu, aber er verkniff es sich, dies offen zu sagen. Nur kein Öl ins Feuer der Ideen gießen!
„Is doch wahr.“ Ubaldo senkte kurz seinen Kopf, dann ruckte dieser wie von Fäden gezogen erneut nach oben. „Nu hab ich mich nackig gemacht, ich mein, so gedanklich. Nu sind sie dran.“ Er saß jetzt senkrecht auf seinem Stuhl, hatte seine Kuchengabel wieder in die Hand genommen und hielt sie wie ein Ausrufezeichen mit den Zinken nach oben in die Luft.
Warum nicht mitmachen, überlegte Pfarrer Müller? So gedanklich nur, wie ein Gesellschaftsspiel. Vielleicht würde er dadurch dazu beitragen, Ubaldos Wutmenge zu verkleinern. Er verfolgte mit seinen Augen eine schwarze Spinne, die gemächlich über den Boden kroch. Wenn man etwas ausspricht, hilft das oft. Das hatte ihm mal eine Therapeutin erzählt, zu der er gegangen war, nachdem ... Aber weg mit den Erinnerungen.
„Also ich hätte da“, er strich sich über sein Kinn, „den Frisör anzubieten. Da müsste dringend mal ein neuer rein in den Laden.“
„Warum? Der is doch auch noch nich so alt?“
„Vom Körper her nicht, aber im Geiste“, verteidigte der Pfarrer seinen Vorschlag, „schau dir nur mal meine kurzen Haare an!“ Er zog energisch einige in die Höhe. „So etwas als schick zu bezeichnen, das ist unerhört! Das sieht doch aus wie eine Lockenwiese!“ Emilio Horatio Müller schlug mit der Hand auf den Tisch und traf dabei den Tellerrand. Die Gabel flog durch die Luft. Sie blieb direkt neben der Spinne liegen, die daraufhin schnellstens Richtung Bücherschrank floh.
Ubaldo betrachtete zum ersten Mal den Kopf des Pfarrers haargenau. So schlecht fand er die Frisur gar nicht. Aber wenn der meinte ...
„Ach, und der alte Grappa, der ist beim Einschenken geizig.“
„Jo“, fiel ihm Ubaldo ins Wort, „die Krone des Biers geht immer nur knapp bis zum Rand.“
Emilio nickte eifrig. Das Spiel begann, ihm Spaß zu machen. Auch er hatte Wut in seinem dicken Bauch gesammelt. Sie prickelte jetzt wie Sekt in einer Flasche, kurz vor dem Ausbruch. Immer so nett zu sein, ein Leben lang, das war auf Dauer nicht auszuhalten. Vor Aufregung kippelte er mit dem Stuhl.
„Vorsicht, Herr Pfarrer!“, Ubaldo sprang auf, rannte um den Kaffeetisch herum und hielt die Lehne fest, „der Tisch hinter ihnen!“
„Ach, das vergesse ich immer, bin schon x-mal dagegen geknallt.“
Mit einem Rums stand Emilio mit seinem Stuhl wieder sicher auf dem Fußboden. Und verschloss seine eigene Wut-Sektflasche fest. Was war nur in ihn gefahren? Das entsprach so überhaupt nicht seinen moralischen Werten.
„Puh, ist so ein S-p-i-e-l anstrengend.“ Ein knapper Hinweis für Ubaldo. Pfarrer Müller neigte sich nach unten, hob seine Gabel vom Boden auf und nahm sich ein neues Stück Kirschstreuselkuchen. Dann schaufelte er einen hohen Berg Sahne darauf, als wolle er den Kuchen und alles Andere zudecken.
„Spiel?“, stutzte Ubaldo, „aber wir ham doch ein ernstes Problem.“
Der kauende Pfarrer schaute bestürzt hoch. Er schluckte schnell und wollte grade seinen Mund zu einer Antwort öffnen, da platzte sein Gegenüber heraus: „Mir is da noch jemand eingefallen! Die Rosa!“
„Rosa?“ Emilio Horatio Müller prustete beim Sprechen Krümel in Richtung Ubaldo und hätte sich an dem Rest fast verschluckt. Verflixt, der meinte es ernst. „Nein, auf gar keinen Fall!“ Energisch warf er seine Gabel auf die Sahne, die auf seinem Teller lag und jetzt die Verfolgung des geprusteten Kuchens aufnahm. Emilios Gesicht hatte die Farbe einer reifen Tomate angenommen. „Nein, und nochmals nein!“, donnerte seine Stimme.
Jo, feixte Ubaldo innerlich, also stimmte es, was man sich im Dorf so erzählte.
„Aber wieso nich?“, fragte er scheinheilig, „sie spielt immer zusammen mit Felipe und der alten Berta Tennis, da gehört sie sozusagen dazu zu unserer Liste. Außerdem is das doch kein Leben, so im Rollstuhl.“
„Nein und punktum.“ Heftig schlug Emilio mit seiner rechten Faust auf den Tisch, so dass der Kaffee in den Tassen hoch schwappte. „Und welche Liste?“ Er war jetzt eindeutig durcheinander, hatte sich erhoben und ließ seine Augen durch den Raum irren auf der Suche nach einem Stück Papier.
„Na, die Liste mit den Namen derer, die wir ...“ Ubaldo stockte, er wagte es nicht, das unheilvolle Wort auszusprechen, „na eben, denen wir helfen wollen.“
Emilio riss seine Augen auf, sein Gesicht glich einem Fragezeichen. „Ach so, ja, die Liste. Aber ...“, Verzweiflung zog seinen Brustkorb zusammen, was hatte er da nur angerichtet, „das war doch nur ein Spiel!“ Er nahm einen großen Schluck aus seiner Tasse, dann sank er auf seinen Stuhl zurück.
Ubaldo stöhnte. So kamen sie nicht weiter. In der Ferne hörte er ein Grummeln. Der Pfarrer hatte es ebenfalls mitbekommen und schaute in den Garten. Die Sonne war geflüchtet, dunkle Wolken zogen drohend rasch am Himmel heran. Ein böses Omen? Für einige Sekunden warteten beide schweigend auf das, was kommen würde. Dann riss ein heftiger Wind an den Zweigen des Apfelbaumes und es fing an, wie aus Eimern zu schütten. In dem Augenblick erschien ein spitzbübisches Lächeln auf Ubaldos Gesicht, ihm war eine Idee gekommen.
„Jo, nu, Herr Pfarrer, das wär doch mal ein Weg: Sie übernehm den Frisör und den alten Grappa und ich die alte Berta und Felipe. Um Frau Tasche kümmern wir uns zusammen. Dafür bleibt die kleine Rosa unbeschadet außen vor.“
Entsetzt hielt Emilio die Luft an und starrte auf seinen Gast. „Du hast nicht mehr alle Latten am Zaun!“ Wie kam er denn jetzt auf diesen Ausdruck? Gleichzeitig erinnerte er sich mit Schrecken daran, dass Ubaldo von Marina verlassen worden war, weil er sie geschlagen hatte. Zu was wäre er noch fähig? „Das ist Erpressung!“, stieß er hervor. Aus dem Spiel war blutiger Ernst geworden.
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