Seewölfe - Piraten der Weltmeere 228

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Seewölfe - Piraten der Weltmeere 228
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Impressum

© 1976/2016 Pabel-Moewig Verlag KG,

Pabel ebook, Rastatt.

ISBN: 978-3-95439-564-4

Internet: www.vpm.de und E-Mail: info@vpm.de

Inhalt

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

1.

Das Deck der „Isabella VIII.“ sah grauenhaft aus. Ebenso grauenhaft verzerrt waren auch die Gesichter der Männer, die fassungslos auf ihre Kameraden blickten.

Was war geschehen?

Seit sie die Insel Tortuga verlassen hatten, befand sich ein neuer Mann an Bord. Pablo, so hieß der Neue, den sie aus den Klauen der karibischen Piraten befreit hatten, hatte ein ehrliches, offenes Gesicht und fügte sich schnell in die Mannschaft ein. Während er den meisten Seewölfen sympathisch war, lehnten ihn jedoch Batuti und der alte O’Flynn rigoros ab.

Alle beide konnten nicht begründen, was sie gegen Pablo hatten, aber sie mochten ihn nicht, und Old O’Flynn hatte sich zu der Bemerkung verstiegen, er würde dem Neuen am liebsten so lange in den Hintern treten, bis er hinter der Kimm verschwände.

Daß sie sich da den Teufel persönlich an Bord geholt hatten, ahnte zu diesem Zeitpunkt niemand, denn Pablo war von dem unumschränkten Herrscher von Tortuga mit allen Raffinessen an Bord der „Isabella“ eingeschleust worden.

Seine Aufgabe war denkbar einfach: Er sollte das Trinkwasser vergiften, die Seewölfe hilflos werden lassen, damit Don Bosco, wie der Herrscher von Tortuga hieß, das Schiff unbeschädigt übernehmen konnte.

In der letzten Nacht war es Pablo gelungen, das Wasser in dem Faß an Deck zu vergiften, und der erste Erfolg war eingetreten. Fünf Seewölfe und die Zwillinge hatte es bereits erwischt. Mit blauverfärbten Gesichtern lagen sie auf den Planken der Kuhl.

Pablo war der einzige, der nur markierte und so tat, als litte auch er unter heftigen Krämpfen und Schmerzen. Ab und zu blinzelte er aus halbgeschlossenen Augen zu den Männern, die das Unheimliche immer noch nicht begriffen.

Der Seewolf stand starr vor Schreck auf der Kuhl und sah dem Kutscher zu, der sich vergeblich bemühte, in die wie hingemähten Gestalten wieder Leben zu bringen.

Immer wieder flößte er ihnen Essig ein, aber es trat kein Erfolg ein, und so hob er entsagungsvoll und mit ratlosem Gesicht die schmalen Schultern.

„Ich weiß keinen Rat mehr, Sir“, sagte er müde, „es muß an den Lebensmitteln gelegen haben. Am Mehl, oder am Speck, oder auch an den Hühnereiern, die wir heute morgen gegessen haben.“

Philip Hasard Killigrew beugte sich wortlos zu seinen Söhnen hinunter, die stöhnend und mit blau verfärbten schwitzenden Gesichtern auf den Planken lagen.

Er konnte nicht helfen, niemand konnte es, denn wenn der Kutscher, der ein hervorragender Feldscher war, nichts tun konnte, dann vermochte es erst recht kein anderer.

Er stieß einen erbitterten Fluch aus.

„Wir alle haben von dem Zeug heute morgen gegessen“, sagte er, „und uns ist nichts passiert.“

„Bisher noch nicht, Sir“, sagte der Kutscher verbessernd. „Ich weiß nicht, woran das liegt, aber bei dem einen geht es schnell, und bei dem anderen dauert es länger. Essig hilft jedenfalls nicht“, setzte er resignierend hinzu.

Matt Davies, den Mann mit der Hakenprothese am rechten Arm hatte es als einen der ersten gefällt. Nicht weit von ihm lag der hünenhafte Schiffszimmermann Ferris Tucker hilflos wie ein Kind auf den Planken. Dann war der alte Segelmacher Will Thorne umgekippt, und als letzten hatte es den jungen Bill buchstäblich umgehauen.

Hasards Theorie hatten auch die anderen alle übernommen.

In Tortuga waren sie nur von einer Piratenmeute belauert worden, und keiner hatte sie angegriffen, selbst dann nicht, als sie aus dem Hafen segelten.

Aber ein Fühlungshalter, der stur auf ihrem Kurs blieb, war aufgetaucht, und er war immer noch zu sehen. Demnach hatten die Piraten etwas in die Lebensmittel geschmuggelt, das diese bestialischen Krämpfe erzeugte, einzig und allein aus dem Grund, um die „Isabella“ auf See in aller Ruhe ausplündern zu können.

„Al“, sagte der Seewolf zu dem Waffen- und Stückmeister Conroy, „sieh zu, daß wir gefechtsklar bleiben und alle Kanonen in einwandfreiem Zustand sind. Laß die Messingbecken aufstellen, die Kerle werden nicht mehr lange auf sich warten lassen.“

„Aye, Sir, alles veranlaßt, ich habe vorgesorgt. Ich fürchte nur, daß wir die Culverinen bald nicht mehr abfeuern können, wenn einer nach dem anderen umfällt.“

„Das befürchte ich allerdings auch.“

Hasard beugte sich über Ferris Tucker, dessen Gesicht schrecklich verzerrt war. Er betastete sein Gesicht, das sich kalt und heiß zugleich anfühlte. Dann zog er ihm das Augenlid hoch, aber er sah nur das Weiße darin. Der Augapfel hatte sich verschoben.

„Kannst du mich hören, Ferris?“ fragte er. „Verstehst du eins meiner Worte? Dann gib irgendein Zeichen!“

Ferris konnte ihn hören, das stand fest, vermutlich hörte und verstand er alles, was um ihn herum vorging, aber er war zu keiner Reaktion fähig. Er öffnete verzweifelt die Lippen, um etwas zu sagen, aber er brachte keinen Ton hervor. Sein Körper war gelähmt, verkrampft und teilweise bläulich angelaufen.

„Er versteht uns, Sir“, sagte der Kutscher erregt.

Hasard sah dem schmalbrüstigen Feldscher starr in die Augen. Dann fragte er leise: „Glaubst du, es ist ein tödliches Gift, Kutscher?“

Der Kutscher zuckte zusammen, als hätte ihn der Hieb einer Peitsche getroffen.

„Ich – ich will es nicht hoffen“, sagte er ebenso leise. „Es scheint sich um ein Gift zu handeln, das die Atemwege vorübergehend lähmt. Das kann ein paar Stunden anhalten, es kann aber natürlich auch sein, daß …“

Er sprach nicht weiter, und er brauchte auch nicht weiterzureden, denn der Seewolf kannte seine Gedanken. Hasards Magen krampfte sich zusammen, wenn er an seine beiden Söhne und die anderen Männer dachte.

Er schwor in diesen Minuten niemandem Rache, er dachte einfach nicht daran, vorerst hoffte er nur, daß es alle unbeschadet überlebten.

Dann ging er zu Will Thorne, dessen Körper die gleichen Symptome aufwies, und schließlich zu Bill, der verkrümmt auf den Planken lag.

„Sollen wir sie nach unten bringen, Kutscher?“

„Nein“, sagte der Feldscher entschieden. „Ich würde sie an Deck lassen, Sir. Hier ist frische Luft, und gerade die haben sie bitter nötig. Unten ist es zu stickig bei dieser Hitze.“

Der Seewolf ging auch zu Pablo und betastete ihn. Dabei traf er auf ein eigenartiges Phänomen.

Pablo zuckte zwar auch und hatte sich verkrampft, aber bei ihm war die Blauverfärbung nicht eingetreten, und als er sein Augenlid anhob, war auch teilweise die Pupille zu sehen. Und noch etwas erstaunte ihn: Pablos Körper fühlte sich eigentlich ganz normal an. Da gab es keinen Wechsel von heiß auf kalt.

„Sieh dir das mal an, Kutscher“, sagte er. „Und dann erkläre mir, was du davon hältst!“

Der Kutscher war zunächst ratlos. Dann aber nickte er.

„Du selbst, Sir, hast ihm gleich literweise Essig eingeflößt, noch bevor das Gift richtig zu wirken begann. Daran scheint es zu liegen. Ich habe jedenfalls keine andere Erklärung.“

Hasard versuchte Pablo auf die Beine zu helfen, doch das gelang ihm nicht. Der Neue fiel immer wieder um, aber er öffnete ein paarmal den Mund und setzte zum Sprechen an.

„Merkwürdig bleibt es doch“, sagte der Seewolf und kriegte ganz schmale Augen. „Ausgerechnet er“, setzte er leise und nachdenklich hinzu.

Dann drehte er sich um und blickte achteraus.

Am hellblauen Himmel stand keine einzige Wolke. Der weiße Fetzen, der wie ein kleines Wölkchen aussah, war nichts anderes als die Segel des Fühlungshalters, der wie Pech in ihrem Kielwasser hing und sich nicht abschütteln ließ. Immer noch verschwand er hin und wieder hinter der Kimm, aber nach kurzer Zeit tauchte er beharrlich wieder auf.

Hasard glaubte, daß hinter dem schnellen Fühlungshalter noch ein weiterer lauerte, um über die „Isabella“ herfallen zu können, wenn es soweit war.

Aber wie sollten die Kerle das eigentlich feststellen, überlegte er. Dazu mußten sie schon aufsegeln, oder aber die „Isabella“ würde früher oder später aus dem Kurs laufen, wenn es niemanden gab, der das Ruder bediente.

Eine verteufelte Situation, eine absolut hilflose Lage, in der sie nichts, aber auch gar nichts tun konnten, denn das Gift hatte anscheinend schon jeder im Körper.

Als er sich wieder abwandte, sah er gerade noch, wie sich der Decksälteste Smoky zusammenkrümmte und auf die Knie fiel. Noch bevor er sich der Länge nach ausstreckte, war schon der Kutscher bei ihm und goß ihm Essig in den Hals.

Wenn es bei Pablo geholfen hatte, dachte er, oder seine Lage wenigstens gebessert hatte, dann mußte es auch bei Smoky helfen, gerade in dem Augenblick, als er zusammenbrach.

 

Aber es half bei Smoky nicht, und das stimmte auch den Kutscher sehr nachdenklich.

Auf der Karavelle, die weit hinter der „Isabella“ segelte, war der Teufel los.

Rum wurde getrunken, ein paar Weiber kreischten, die schon leicht angetrunken waren, und nur sehr wenige waren noch nüchtern.

Der schwarzhaarige Pirat, von seinen Kumpanen auch der Wilde Saufbold genannt, war in den Fockmast aufgeentert und hatte lange Zeit durch das Spektiv geblickt.

Erfahren hatte er aber so gut wie nichts, und als er wieder an Deck stand, ließ er sich seine Enttäuschung nicht anmerken.

Er ging nach achtern, wo der glatzköpfige Nuno am Ruder stand. Der Schlagmann, der sonst immer auf der Galeere Dienst tat, sah immer noch mitgenommen aus. Dort, wo ihn Carberrys schwere Fäuste getroffen hatten, schillerten farbige Beulen, und um seinen dicken Hals lief eine dunkelrote Linie, als sei er stranguliert worden.

Er trug wieder seine kurzen, bis knapp an die Knie reichenden Leinenhosen und hatte seine mächtigen Säulenbeine auf die Planken gestemmt. Seine Schweinsäuglein waren fast zugeschwollen, und selbst Don Bosco fand ihn zum Fürchten. Diese schweren Treffer von dem Profos der „Isabella“ hatte er mittlerweile wieder verdaut, und nur die Beulen und Blutergüsse kündeten noch davon.

Der Herrscher von Tortuga hatte es Nuno immer noch nicht ganz verziehen, daß er so fürchterliche Prügel bezogen hatte. Er selbst war bei der Schlägerei in der Hafenkneipe nicht dabei gewesen, aber seine Kumpane hatten ihm von dem harten Kampf berichtet.

„Tut sich schon was?“ fragte Nuno lauernd.

Don Bosco schob die schwarzhaarige, glutäugige Conchita unwillig beiseite, die sich im näherte und ungeniert ihre schlanken Arme um seinen Hals legte.

„Das geht nicht von einer Stunde zur anderen“, sagte Don Bosco. „Noch segelt der Kahn ganz normal, und von einem Signal ist bisher nichts zu sehen.“

„Ob Pablo es überhaupt geschafft hat, das Wasser zu vergiften?“

„Selbstverständlich“, erwiderte der schwarzhaarige Pirat überzeugt. „Ich bin auch sicher, daß die ersten Kerle bereits besinnungslos herumliegen. Aber es braucht eben seine Zeit.“

Sein Blick ging zur Kimm, wo die Beute als feiner Strich zu erkennen war. Er nickte grinsend, dann begann er plötzlich schallend zu lachen, bis Nuno ihn verständnislos anblickte.

„Die haben eine harte Nuß zu knacken“, sagte er laut, „und sie werden lange herumrätseln, was da wohl passiert ist. Wenn sie es merken, ist es zu spät.“

Er wartete Nunos Antwort nicht ab, sondern drehte sich wieder um und blickte achteraus, wo die Galeere heransegelte. Von der „Isabella“ aus konnte man sie nicht sehen.

Don Bosco lehnte sich aus Schanzkleid, ließ sich von der sanften Dünung wiegen und dachte, über seinen Plan nach, den er in Gedanken noch verfeinern wollte. Er war nicht der Mann, der das Fell des Bären verkaufte, wenn er diesen Bären noch gar nicht gesehen hatte. Er rechnete sich nur kühl und präzise seine Chancen aus.

Rein kämpferisch, das war seine erste Chance gewesen, gelangt er an die Seewölfe nicht heran, obwohl er zahlenmäßig weit überlegen war. Die „Isabella“ zu entern, das schied also aus. Die Seewölfe würden ihr Schiff mit dem letzten Lebensfunken verteidigen, und es niemals aufgeben, solange einer von ihnen lebte.

Folglich würden Mannschaft und Schiff zum Teufel gehen, und damit waren die vermuteten Schätze an Bord ebenfalls weg. Don Bosco wollte aber noch weitaus mehr. Auf der Schlangen-Insel sollten, den Gerüchten nach, unermeßliche Schätze lagern, die die Seewölfe im Lauf ihrer zahlreichen Kaperfahrten zusammengetragen hatten. Dazu brauchte er die Mannschaft lebend, sonst war dieser Traum ausgeträumt.

Verlief die Sache mit dem eingeschmuggelten Pablo gut, und daran zweifelte er nicht, dann hatte er alles das, was er wollte: die „Isabella“ selbst, die Bordschätze und die sagenhafte Beute von der Schlangen-Insel.

Sogar ein allerletzter Triumph blieb ihm noch: Er würde es sein, der diese harten Kerle besiegt hatte, der mit der Legende der Unsterblichen aufräumte, der den Seewolf und seine Crew an die Ketten der Galeere gebracht hatte und sie nun bis in alle Ewigkeit rudern lassen würde.

Diese Tatsache mußten sämtliche karibischen Piraten dann anerkennen, und damit wuchs seine Macht.

Anfälle von Größenwahn waren ihm fremd, vielleicht hatte er deshalb so lange überlebt und sich behaupten können.

Er gab einem seiner Kerle einen schnellen Wink. Obwohl der Mann leicht angetrunken war, blieb er sofort achtungsvoll stehen.

„Laß ein Segel wegnehmen, damit wir etwas achteraus bleiben, und bring mir das Spektiv.“

„Sofort, Don Bosco.“

Der schwarzhaarige, überaus stark tätowierte Pirat hatte die Hände lässig auf den Handlauf des Schanzkleides gestützt und sah zu, wie eins der Segel geborgen wurde. Das setzte die Fahrt der Karavelle nur unmerklich herab, aber es gab doch weniger Vortrieb, und schon bald würde die voraussegelnde „Isabella“ wieder unter der Kim verschwunden sein.

Don Bosco blickte ihr nach und zog das Spektiv so weit auseinander, daß er gerade noch die Segel seiner Beute undeutlich erkennen konnte.

Noch ist sie nicht sturmreif, überlegte er, aber Pablo würde das schon schaffen. Auf den Mann konnte er sich grundsätzlich verlassen. Sehr lange würde es nicht mehr dauern.

Er versuchte, sich in die Lage des Seewolfs zu versetzen, aber das gelang ihm nur sehr schlecht, denn der Mann paßte in keine Schablone und handelte mitunter völlig anders, als man von ihm erwartete.

Logisch mußte aber folgendes sein, dachte Don Bosco: Fielen immer mehr der Seewölfe dem Gift zum Opfer, dann bestand die Mannschaft schließlich nur noch aus drei oder vier Leuten. Die ahnten mit Sicherheit, daß ihnen jemand auf den Fersen war. Segeln ließ sich das Schiff aber mit ein oder zwei Mann nicht mehr, folglich würde man schon vorher die Segelfläche verkleinern und darauf warten, daß man dem Gegner die Zähne zeigen konnte. Dann würden auch die letzten umfallen, weil jeder von ihnen schließlich einmal zum Wasserfaß mußte, um zu trinken, und damit war die Festung sturmreif.

Was aber, wenn sie merkten, daß mit dem Wasser etwas nicht stimmte?

Nun, das mußte er der Initiative Pablos überlassen, und darüber wollte Don Bosco im Augenblick noch nicht nachdenken.

Er blickte weiter dem Schiff nach, das jetzt schnell kleiner wurde und nach einer Weile unter der Kimm verschwand.

„Warte, Seewolf“, murmelte er leise vor sich hin. „Du entgehst mir nicht, noch keiner hat das bis jetzt geschafft. Und ich wette, daß auf deinem Schiff schon jetzt das Grauen umgeht.“

2.

Don Boscos letzte Worte entsprachen absolut der Wahrheit, denn das Grauen ging wirklich um an Bord der „Isabella“, und es nahm immer krassere Formen an.

Der Schimpanse Arwenack begann zu toben und angsterfüllt zu kreischen und zu keckem. Er wußte nicht, was hier vorging, aber in seiner langjährigen Gewöhnung an die Männer spürte er, daß hier etwas Schreckliches passierte, und das versetzte ihn in helle Aufregung, die wiederum auf den Papagei übergriff, der in immer kürzeren Abständen dicht über das Deck strich und dabei mißtönende Laute ausstieß.

„Was hat der Affe eigentlich heute gefressen?“ fragte der Kutscher, der sich die allergrößte Mühe gab, um herauszufinden, woran es lag, daß einer nach dem anderen umfiel. Seiner Ansicht nach hing das nur mit den verdorbenen Lebensmitteln zusammen, und es galt jetzt, herauszufinden, was denn nun eigentlich verdorben oder vergiftet war.

„Ich weiß es nicht“ sagte der Profos, „aber von deinem dicken Pappzeug hat er bestimmt nichts gefressen, der hält sich doch am liebsten an Früchte.“

Der Kutscher überhörte „das dicke Pappzeug“, geflissentlich, und Ed hatte es auch ganz sicher nicht verächtlich gemeint, denn jetzt war keine Zeit für dumme oder spitze Bemerkungen.

Der Profos beobachtete den Schimpansen unbehaglich aus schmalen Augen, als sich Arwenack immer verrückter benahm.

„Der Affe hat Angst, weiter nichts“, sagte Ben Brighton in die Stille hinein. Er hatte seinen Platz auf dem Achterdeck unter diesen Umständen jetzt ebenfalls verlassen und sah, von Grauen geschüttelt, auf die herumliegenden Männer.

„Ich glaube auch nicht, daß er vergiftet ist“, meinte der Kutscher, der immer noch ratlos und verzweifelt wirkte, weil er keine Mittel hatte, um hier helfend eingreifend zu können.

„Daß mir keiner in die Kombüse geht und Proviant stibitzt“, sagte der Kutscher. „Alles, was wir in Tortuga an Bord genommen haben, kann Gift enthalten. Ich werde den ganzen Krempel nachher über Bord werfen, obwohl es jetzt ja leider dazu schon zu spät ist. Gibt es einen unter euch, der heute noch nichts gegessen hat?“ fragte er gleich darauf. „Wir müssen dieser Ursache auf den Grund gehen, sonst gibt es keine Hilfe.“

Es stellte sich heraus, daß einige zwar nur ein wenig, die meisten aber ziemlich viel gegessen hatten. Aber es gab keinen, der auf das morgendliche Frühstück verzichtet hatte.

Immer verzweifelter sann der Kutscher nach einem Ausweg, aber es gab weit und breit keine Hilfe.

Unterstützung würden sie erst auf der Schlangen-Insel erhalten, vielleicht durch die Schlangenpriesterin Arkana, aber bis dorthin war es noch ein weiter Weg, und es war mehr als fraglich, ob sie die Insel unter den gegebenen Umständen überhaupt erreichen würden.

„Gott steh uns bei“, murmelte der alte O’Flynn. „Wenn alle gegessen haben, blüht uns das gleiche Schicksal. Aber warum, zum Teufel, dauert es bei dem einen so lange und bei dem anderen geht es so schnell?“

Der Kutscher versuchte, es ihm zu erklären und sagte, das hätte ganz natürliche Ursachen.

„Das ist wie beim Saufen“, sagte er, um es Old O’Flynn besser zu verdeutlichen. „Der eine säuft faßweise und bleibt stehen, der andere kippt nach der dritten Muck um, und an manchen Tagen hat man den Alkohol schneller im Blut als an anderen.“

„Das hilft uns alles nicht weiter“, sagte Carberry. „Wir stehen hier wie die Idioten hilflos vor unseren Kameraden, und hinter uns lauern ein paar Schweinehunde darauf, uns zu überfallen. Verdammt, mir wäre ein offener Kampf Mann gegen Mann lieber, als hier hilflos abgemurkst zu werden.“

„Noch ist es ja nicht soweit, Ed“, sagte der blonde Schwede Stenmark, „noch sind die anderen in Ordnung.“

„Wer weiß, wie lange noch“, knurrte Ed.

Der Profos ging zum Wasserfaß, schöpfte eine Kelle und trank sie leer. Dann schöpfte er noch zweimal hintereinander Wasser.

Der Durst machte sich bei dieser Hitze immer stärker bemerkbar, und niemand verfiel auf die Idee, daß mit dem Wasser etwas nicht stimmen könne.

Blacky trank, Stenmark, etwas später Bob Grey, dann Jeff Bowie und der schwarze Herkules Batuti.

Und alle fühlten sich nach dem Trunk erfrischt, weil das Wasser immer noch herrlich kühl war.

„Unser Fühlungshalter ist weg“, sagte Al Conroy. „Vielleicht haben wir uns nur geirrt, und sie wollten gar nichts von uns.“

Hasard fuhr herum und blickte achteraus. Von dem Segel war nichts mehr zu sehen, es war hinter der Kimm verschwunden.

„Weshalb meldet denn Luke, dieser Gammelstint, das nicht?“ fragte der Profos. „Der hat doch schließlich Ausguck.“

Wie auf ein Signal legten sie die Köpfe schief und blickten zum Großmars hoch.

Von Luke Morgan, dem jähzornigsten Mann an Bord, war nicht einmal der Kopf zu erkennen. Hinter der Segeltuchverkleidung schien niemand zu stehen.

„Luke!“ brüllte der Seewolf mit Donnerstimme.

Von oben erfolgte keine Antwort. Daß Luke auf Ausguckwache schlief, war ein Ding der Unmöglichkeit.

Die anderen sahen sich gehetzt an, und noch bevor einer reagierte, enterte der Seewolf blitzschnell in die Wanten des Großmastes auf, bis er den Ausguck erreichte.

Seine schlimme Vermutung fand er sofort darauf bestätigt, und ein Fluch löste sich von seinen Lippen.

Luke Morgan war zusammengebrochen und lag verkrümmt mit dem Gesicht hart an der Segeltuchverkleidung. Auch er hatte diese typische Blauverfärbung im Gesicht.

Hasard zögerte erst gar nicht. Er hob Luke Morgan auf, lud ihn sich über die Schulter und enterte schnell wieder ab. Die Last schien er gar nicht zu spüren.

An Deck starrte er in betroffene Gesichter. Alle scharten sich um Luke, der die gleichen Anzeichen aufwies wie die zusammengebrochenen Männer.

 

„Hölle und Teufel“, sagte der Profos schweratmend, „das geht ja alles wahnsinnig schnell. Das wird immer unheimlicher.“

Er warf einen Blick auf seinen Freund Tucker, aber an dessen Haltung hatte sich ebenfalls nichts geändert. Er lag wie ein Toter an Deck.

Carberry stiegen vor hilfloser Wut fast die Tränen in die Augen, und insgeheim betete der harte Mann, daß nur keiner aus der Crew an diesem hinterhältigen Anschlag sterben möge.

Er ballte die Hände zu Fäusten und schüttelte sie in ohnmächtigem Zorn.

„Eins schwöre ich hiermit“, sagte er gepreßt. „Sollte einer diesen Anschlag nicht überleben, ein einziger nur, dann hau ich auf Tortuga alles in Stücke, und wenn ich jeden dieser hinterhältigen Piraten eigenhändig umbringe.“

Sie alle wußten, daß es der Profos verdammt ernst meinte und er beileibe die Worte nicht nur so dahinsagte. Über Tortuga und das Piratengesindel würde eine Art Weltuntergang hereinbrechen.

Immer noch standen sie hilflos um ihre Kameraden herum. Dann bewegte sich Ben Brighton wieder bedrückt nach achtern. Vorher jedoch ging er noch einmal an das Wasserfaß, um seinen Durst zu löschen. Damit war auch sein Schicksal besiegelt.

Hasard prüfte nach, ob die „Isabella“ so optimal wie nur möglich segelte, und ließ noch etwas nachbrassen. Mehr Tuch brachten sie nicht an die Rahen, denn von der Blinde bis zum Besan war alles gesetzt.

Jetzt hätte nur der Wind kräftiger wehen müssen.

Auf dem Achterdeck hielten sich jetzt Big Old Shane, Donegal Daniel O’Flynn junior, Ben Brighton und der Rudergänger Pete Ballie auf.

Die Männer starrten erschüttert zur Kuhl hinunter, auf der sich das ganze Drama zum größten Teil abspielte, auf der der Kutscher verzweifelt hin und her rannte und sich die anderen bemühten zu helfen, wo es gar nichts zu helfen gab. Die Ohnmacht jedes einzelnen trat immer deutlicher zutage, und so standen sie herum und wußten nicht, was sie unternehmen sollten, um ihre Kameraden aus ihrer totenähnlichen Starre zu erwecken.

„Kurswechsel, Pete“, befahl der Seewolf plötzlich. „Wir segeln so, daß wir den Wind voll achterlich kriegen. Vielleicht können wir den Fühlungshalter dadurch abschütteln, denn augenblicklich steht er hinter der Kimm.“

„Aye, aye, Sir“, sagte Pete müde.

„Profos! Klar zum Vierkantbrassen!“ rief der Seewolf. „Wir gehen platt vor den Wind!“

Carberry bestätigte umgehend. Er erfaßte sofort, was der Seewolf vorhatte. Wenigstens wollten sie den lausigen Piraten nicht gleich den Weg zur Schlangen-Insel zeigen.

Jeder Handgriff saß wie im Schlaf, die Rahen schwangen herum, bis sie vierkant standen und die „Isabella“ etwas später platt vor dem Wind lief.

„Wenn der Fühlungshalter vor einer Stunde nicht auftaucht“, rechnete Dan O’Flynn laut vor, „dann sind wir ihn los, dann segelt er auf dem alten Kurs weiter.“

„Davon bin ich noch nicht ganz überzeugt“, widersprach Ben. „Wir werden wohl schon zwei Stunden Vorsprung brauchen, denn wir bewegen uns ja nicht schneller von ihm fort. Aber das – verdammt“, unterbrach er sich. „Blacky hat es auch erwischt.“

Entsetzt und entnervt blickten sie Blacky an, der sich zusammenkrümmte. Carberry war mit einem Satz bei ihm, hielt ihn fest, winkte den Kutscher herbei, und der goß Blacky aus der Tonkruke wieder von dem Essigzeug in den Hals.

Der Profos schleppte ihn im Sturmschritt zum Schanzkleid, wo Blacky sich erbrach.

Danach sackte er endgültig zusammen.

„Die Essigbrühe hilft nicht“, sagte Ben tonlos. „Hier scheint überhaupt nichts mehr zu helfen, wir stehen der Tatsache ohnmächtig gegenüber.“

Der Seewolf kniff wieder die Augen zusammen. Sein Blick fiel auf den jetzt auf den Planken liegenden Blacky, dann wanderte er weiter zu Pablo.

Schien es nur so, oder hatte der Neue seine Stellung geändert? Hasard wollte das nicht beschwören, aber er glaubte, Pablo habe vorhin anders dagelegen.

Quatsch, dachte er ärgerlich. Seine Nerven spielten ihm einen Streich, und das war verständlich nach all der Aufregung, die innerhalb kürzester Zeit entstanden war.

Warum, zum Teufel, mißtraute er dem Neuen immer noch? Dem ging es doch auch nicht besser als all den anderen, und nur weil seine Symptome anders verliefen als bei den anderen, mußte er dem Mann doch nicht unbedingt mißtrauen.

Er warf einen verstohlenen Blick auf den alten O’Flynn, der Pablo nicht ausstehen konnte, und überlegte, welche Gedanken wohl im Schädel des Alten kreisen mochten, denn Donegal warf ebenfalls immer wieder einen giftigen Blick zu dem reglosen Mann.

Dann, wie aus heiterem Himmel, erwischte es nacheinander Stenmark, Bob Grey und Jeff Bowie. Während Jeff lautlos am Schanzkleid zusammenbrach, stieß der Schwede einen lauten Schrei aus, als hätte ihn die Klinge eines Messers getroffen.

Bob Grey allerdings entdeckte etwas Erstaunliches als er zusammebrach. Er konnte das aber leider nicht mehr weitergeben, denn die Stimme versagte ihm den Dienst. Aber er wußte, daß er sich nicht geirrt hatte. Dicht vor Pablo brach er zusammen und sah genau in dessen Gesicht.

Dieses sonst ehrlich und offen wirkende Gesicht war jetzt zu einem hämischen Grinsen verzogen, zu einem schadenfrohen, teuflischen Feixen, und da wußte Bob schlagartig, daß sie allesamt einem satanischen Spiel zum Opfer gefallen waren.

Zu spät, sein Körper wurde steif, und ein heißer Fieberschauer jagte durch sein Blut.

„Hasard!“ schrie er, so laut er konnte, und er glaubte, diesen Ruf laut in seinen Ohren dröhnen zu hören.

Doch niemand reagierte darauf, keiner schien dieses laute Schreien nach dem Seewolf zu hören.

Danach fiel Bob Grey in einen bodenlosen Abgrund, aber er glaubte trotzdem, immer noch, viele Stimmen zu hören und Geräusche deutlich unterscheiden zu können. Er spürte auch noch, daß ihm etwas ekelhaft Saures in den Hals gegossen wurde, dann versank er in einer Art merkwürdiger Finsternis, die kein Ende hatte und auch keinen Anfang.

Es war unausweichlich, daß immer mehr Leute umfielen, sogar die Stärksten und Härtesten erwischte es schnell und unvorbereitet wie Blitze aus heiterem Himmel.

Als es den eisenharten Profos traf, zuckte der Seewolf zusammen. Eben noch sah er das narbige Gesicht vor sich, hörte die gemurmelten, hilflosen Flüche des riesigen Mannes und sah plötzlich, wie sich das Gesicht krampfartig verzerrte.

Im selben Augenblick preßte der Profos die Hand auf den Magen, riß den Mund auf und ging in die Knie.

Er versuchte, dagegen anzukämpfen, er unternahm alle Anstrengungen, schüttelte sogar noch die Hand des Kutschers ab, der ihm wieder auf die Beine helfen wollte, und versuchte es dann allein.

Er schaffte es nicht. Das einzige, was er in seiner grenzenlosen Wut hervorbrachte, waren harte Flüche und Verwünschungen, die ihm immer schwerer von den Lippen kamen. Dann krümmte er sich zusammen, streckte sich auf den Planken aus und lag still.

Hasard sah zu ihm hin und zitterte vor unterdrückter Wut. Die Angst um seine Leute fraß ihn bald auf, trieb ihn wütend, hilflos und ziellos von Backbord nach Steuerbord und zeigte ihm hart und deutlich die Grenzen seiner Macht.

Erneut wollte er zur Kuhl hinunter, doch da hielt ihn Dan O’Flynn am Arm fest und zeigte zur Kimm.

„Der Fühlungshalter, Sir“, sagte er nur.

Der Seewolf fuhr herum, Erbitterung in den eisblauen Augen. Er zitterte vor unterdrückter Wut und fühlte sich so hilflos wie nur selten in seinem Leben.

„Es hat keinen Zweck mehr“, sagte er, „wir werden uns stellen, denn wir können das Schiff ja kaum noch segeln. Aber diesen Halunken bescheren wir noch die Hölle auf Erden.“

Dan O’Flynn sah sich gehetzt um.

„Weißt du, wie viele noch auf den Beinen stehen, Sir? Wir sind nur noch sieben Mann. Sieben Mann!“ wiederholte er. „Und die verdammten Kerle werden vor ein oder zwei Stunden nicht heran sein. Das bedeutet, daß wir dann nur noch ein oder zwei Leute sind, wenn überhaupt noch jemand auf den Beinen steht.“

„Ja, das ist unausbleiblich, Dan. Wir versuchen es trotzdem. Zunächst spannen wir ein Sonnensegel über die Kuhlgräting, damit die Männer wenigstens im Schatten liegen und nicht dieser verdammten Hitze ausgesetzt sind. Danach nehmen wir die Segel weg.“

„Aber dann können wir nicht mehr manövrieren“, wandte Dan ein.

„Wir haben noch die Brandsätze. Selbst wenn wir vor dem Wind laufen, sind wir nicht so leicht anzugreifen, denn die überbrücken weitere Distanzen als die Culverinen. Los, beeilt euch!“

Batuti, Big Old Shane, Rasard selbst und der Kutscher brachten das Sonnensegel an und legten die bewußtlosen Kameraden in den kühlen Schatten.

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