Read the book: «Mord im Hause des Herrn», page 4

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An diesem Abend fand das Dorf keine Ruhe.

Jedermann schien auf den Beinen zu sein oder zu telefonieren. Keiner wollte nach dieser grausigen Entdeckung in der Kirche mit sich, seinen eigenen Gespenstern oder seinen Mutmaßungen alleine sein.

Auch am Stammtisch im Kro wurde heftig diskutiert. »In meiner Kirche – so ein Verbrechen in meiner Gemeinde!«, jammerte Pfarrer Landulf aufs Neue. »Ein Fremder sucht des Nachts Schutz und Zuspruch in meiner Kirche und wird dort ermordet! Was für eine ungeheuerliche Vorstellung!«

»Tragisch wäre das schon. Aber viel schlimmer finde ich, dass die Polizei offensichtlich der Meinung ist, dass der Täter aus dem Ort stammt«, warf Bjarne ein und verteilte eine neue Runde Kurze an seine Gäste. »Der Inspektor, der heute Morgen hier war, hat im Grunde nur danach gefragt, wer hier im Ort wusste, wie schwer dieses Glaskreuz war und ob es hier einen Rollstuhlfahrer gibt. Also vermuten sie eine Verbindung zum Ort.«

Protestgemurmel füllte den Raum und mischte sich mit den Rauch- und Alkoholschwaden zu einem unguten Gebräu.

»Also jetzt mal ehrlich – warum sollte wohl einer aus dem Dorf einen Fremden in der Kirche erschlagen? Das ist doch völlig blödsinnig«, stellte Knut Rasmusson fest, der mit seiner Familie einen kleinen Öko-Bauernhof am Rand des Ortes betrieb.

»Vielleicht war er ja gar nicht so fremd«, mischte sich der Elektriker ein und warf einen vorsichtigen Seitenblick auf den riesigen Knut, der bei Widerspruch schon mal leicht die Geduld verlieren konnte und die Situation dann handgreiflich klärte. »Zumindest wäre es doch eine unglaubliche Anhäufung von Zufällen, wenn mehrere Fremde nachts zufällig zur Kirche gegangen und dort zufällig auf einen Mann getroffen wären, gegen den sie zufällig einen gewaltigen Groll hegten und ihn anschließend flugs ermordeten.«

Das allgemeine Gemurmel flackerte erneut auf und steigerte sich zu einer Art Bärenbrummen.

»Wenn jetzt Sommer wäre – na gut. Dann könnte man ja an irgendwelche durchgeknallten Touristen denken, die ihre privaten Rechnungen bei uns in der Kirche begleichen. Wenn die Sommergäste einfallen und sich hier niederlassen wie Schwärme von Fliegen auf frischem Aas, dann könnte es ja vielleicht schon mal so ein unglückliches, zufälliges Zusammentreffen geben. Aber jetzt, mitten im Winter, kurz vor Weihnachten!«

Wilhelm Schneider wiegte nachdenklich seinen großen, nahezu quadratischen Kopf, der auf einem so dünnen Hals saß, dass man ständig fürchten musste, er könne abbrechen wie eine reife Frucht vom Stiel.

»Vielleicht haben die sich ja auch in der Kirche verabredet. Irgendwelche Geschäfte – vielleicht Drogendealer?«

Knut wollte augenscheinlich lieber niemanden aus dem Dorf in die schauerliche Angelegenheit verwickelt sehen.

»Ach, du meinst das internationale Drogenkartell hat sich die Weltkarte vorgenommen, und weil ihnen Holm sofort ins Auge stach, haben sie prompt beschlossen, ihre Geschäfte bei uns zu erledigen?«

Wilhelm Schneider senkte seine Stimme auf Drogenbossniveau, lehnte sich lasziv auf seinem Stuhl zurück, verschränkte die Arme und setzte eine Gangstermiene auf, die Robert de Niro auch nicht besser hingekriegt hätte.

»Fein, sagen sie, dieses Holm wird ja sicher auch eine Kirche haben. Dorthin locken wir unseren Lieblingsgegner und lassen ihn anschließend gepflegt dort ermorden, schließlich kommen für uns als Mitglieder der ehrenwerten Gesellschaft nur fromme Morde in Frage.«

Bjarne warf einen schnellen Seitenblick durch den wabernden Zigarettenqualm, um Schneiders Promillestand abzuchecken. Besser, er gab jetzt keine Kurzen mehr aus, beschloss er dann.

Und dann fiel in die der Theatereinlage folgende Ruhe plötzlich ein Satz wie ein Trompetenstoß vor Jericho:

»Vielleicht ist das ja ein göttliches Zeichen. Eine Strafe für die Sünder!«

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Er saß oben im Baum vor dem Haus und wartete auf sie.

Er hatte Angst.

Mehr als je zuvor in seinem Leben.

Schniefend zog er die Nase hoch und wischte mit dem Ärmel schmierige Reste von der Oberlippe. Sie sollten ihn nicht weinen sehen. Die Freude würde er ihnen nicht machen. Er würde sie auch nicht um Gnade anbetteln. Diesmal nicht, nie mehr.

Von seinem Platz im Baum aus konnte er in sein Zimmer hineinsehen. Wie gerne läge er jetzt in seinem Bett mit einem spannenden Buch oder einer Hörspielcassette, den Kater auf dem Bauch.

Er seufzte.

Es hatte keinen Sinn.

Sie würden mit Sicherheit kommen – da könnte auch das Bett keinen Schutz bieten. Morgen war wieder Schule, und schließlich konnte er sich nicht auf Dauer vor ihnen verkriechen.

Das wollte er auch gar nicht – er war nicht feige!

Diesmal konnte es kein Pardon geben – das war klar. Noch nie zuvor waren der Dicke, der Dünne und der Kurze so gedemütigt worden, und nie zuvor hatte er sie so wütend gesehen.

Er war zu weit gegangen – das war unverzeihlich. Deshalb wusste er auch so sicher, dass sie kommen würden, und zwar noch heute. Die Sache duldete aus ihrer Sicht keinen Aufschub. Und da war es besser, im Baum auf sie zu warten, denn von seinem Ast aus würde er sie frühzeitig kommen sehen, schon lange bevor sie das Haus erreicht hatten.

Er fror.

Trotz der sommerlichen Hitze, die nun schon seit mehr als zwei Wochen über dem Land lag. Seine Hände und Füße waren so kalt, er spürte sie kaum noch.

Eine halbe Stunde später entdeckte er drei Punkte am Horizont. Zitternd beobachtete er, wie bedrohlich schnell sie näher kamen. Natürlich, sie kamen auf den Rädern her. So konnten sie auch danach schnell wieder verschwinden. Unbemerkt, ungesehen. Hier draußen wohnte außer ihm und seiner Mutter niemand mehr.

Wie würde ihre Rache wohl diesmal aussehen? Kamen sie vielleicht sogar mit der Absicht, ihn zu töten?

Ach Quatsch, versuchte er sich zu beruhigen, Kinder brachten doch keinen um – jedenfalls nicht in Schweden, und nicht wegen so was!

Kindersoldaten vielleicht – aber das war weit weg, in einer anderen Welt, im Krieg.

In den Nachrichten.

Nicht hier.

Nicht aus diesem Grund.

****

Als sie sich zur Verteilung der neuen Aufgaben im Besprechungsraum trafen, lag gespannte Erwartung über der kleinen Gruppe. Ab sofort konnte es richtig losgehen.

Sie hatten einen Namen und schon bald würde sich im Umfeld des Toten ein Motiv finden lassen und damit dann auch der oder die Mörder.

Sven Lundquist spürte die Aufbruchstimmung im Team und genoss diesen energiegeladenen Zustand. Er wusste aus Erfahrung, wie schnell Ermittlungen ins Stocken geraten konnten, Spuren ins Nichts führen. Dann breitete sich oft genug Agonie aus, das Schlimmste, was während einer Ermittlung passieren konnte.

»Guten Morgen«, begrüßte er die Runde und gab dann das Wort an Knyst weiter, der eine Menge bunter Zettel in der Hand hielt, die er nach und nach an die Pinnwand heften wollte, während er die neuen Informationen aus Dänemark an das Team weitergab.

»Unser Mordopfer heißt also tatsächlich Gunnar Thaisen. Die Autovermietung hat eine Kopie von Führerschein und Ausweis gemacht. Das Foto stimmt mit dem überein, das wir den Kollegen gestern gefaxt haben. Inzwischen besitzen wir auch schon ein paar Informationen über diesen Gunnar Thaisen. Er war vierundvierzig Jahre alt, lebte in Skagen, Jütland, verheiratet, drei Kinder. Sie sind fünf und drei Jahre alt, das jüngste gerade drei Monate.«

Knyst räusperte sich und ordnete etwas fahrig die Zettel in seiner Hand.

»Gunnar Thaisen besaß eine Computerfirma in Kopenhagen mit Filialen in Skagen und Randers. Die Kollegen konnten bisher seine Frau noch nicht erreichen, und wir haben gestern auch nur die Bitte um Rückruf auf dem Anrufbeantworter hinterlassen können. Im Moment checken die Kollegen gerade seine Büroräume in Skagen. Vielleicht hatte er irgendwelche Schwierigkeiten mit Kunden oder der Konkurrenz.«

Lars pinnte einige Zettel an die Wand. »Mafiastrukturen in der Computerszene?«, fragte Ole.

»Na, ja. Warum eigentlich nicht? Irgendwie scheint dieses Virus ja alle Geschäftsbereiche zu erreichen. Vielleicht gab es illegale Preisabsprachen oder so was. Preisdumping für Großkunden vielleicht? Wie groß ist denn diese Firma überhaupt?«

»Das wissen wir noch nicht. Es ist auch nicht ganz klar, was dort eigentlich hauptsächlich verkauft wird: Hardware oder Service – oder beides. Die Kollegen sind aber im Moment dran und werden uns umgehend informieren.«

»Soll das heißen, dass wir hier rumsitzen müssen und warten?«, moserte Britta.

»Nein, müssen wir nicht«, sagte Lundquist. »Ich habe hier aktuelle Berichte der Spurensicherung und der Rechtsmedizin. Während wir warten, bringe ich uns auf den neuesten Stand.«

Er stand auf und zeigte auf eine der Aufnahmen. »Hier, das ist der Weg vom Tor zum Portal der Kirche.

Wäre hier ein so schwerer Mann im Rollstuhl entlanggefahren, hätte er tiefe Spuren in den Kies gewühlt. Es sind aber keine zu sehen.«

»Klar sind da welche. Das sehe ich doch mit bloßem Auge von meinem Platz aus«, protestierte Britta.

»Stimmt«, bestätigte Lundquist unbeirrt. »Die sind aber nicht tief genug und viel zu schmal. Wahrscheinlich stammen sie von diesem Trolley, den Hanne immer mit in die Kirche bringt. Spuren von einem Rollstuhl gibt es nicht.«

»Er brauchte ja auch keinen. Vielleicht hat er ihn leer zur Kirche geschoben«, überlegte Bernt.

»Unwahrscheinlich. Dann hätte er sich zumindest aufgestützt und zwangsläufig Spuren hinterlassen, immerhin wog Gunnar Thaisen 135 Kilo. Er könnte ihn natürlich auch getragen haben. Fragt sich nur, wozu trägt jemand einen Rollstuhl in eine Kirche?«

»Dann haben seine Mörder vielleicht schon zu diesem Zeitpunkt gewusst, dass er laufen kann, und haben ihn gezwungen, in die Kirche zu gehen«, meinte Bernt.

»Oder es waren genug Leute an dem Mord beteiligt, um die Leiche in die Kirche zu tragen«, gab Lundquist zu bedenken.

»Haben wir denn inzwischen den Rollstuhl gefunden?«, fragte Ole.

»Ja«, bestätigte Lundquist. »Er lehnte zusammengeklappt an einem Regal im Gang gegenüber der Reihe, in der der Tote saß. Vielleicht sollten wir ja glauben, das Opfer sei zum Beten ausgestiegen und habe sich in die Bank gesetzt. Hanne hatte während ihrer Reinigungsarbeiten eine Tür im Regal geöffnet, weil sie alle Gesangbücher auf Beschädigungen überprüfen wollte – und dahinter verschwand der Rollstuhl. Der Täter hatte also nicht versucht, ihn wegzuschaffen oder zu zerstören.«

»Was sollte diese Scharade denn überhaupt?«, fragte Britta spitz.

»Das wissen wir noch nicht«, antwortete Lundquist ruhig. »Vielleicht finden wir ja den Täter, wenn wir den Sinn dieser Täuschung rauskriegen. Doch wenn seine Mörder nur das Auto und den Rollstuhl gesehen haben, mussten sie ihn ja zwangsläufig für ein wehrloses Opfer halten. Ließen sie ihn jedoch in die Kirche gehen, wussten sie um seine Wehrhaftigkeit. Da liegt der entscheidende Unterschied.« Lundquist starrte auf die Bilder aus der Kirche, als könne er so den Fotos etwas entlocken, das er zuvor übersehen hatte.

»Er war groß, schwer und gut durchtrainiert. Einer allein wäre wohl kaum mit ihm fertig geworden. Es sei denn, er hätte einen gleichwertigen Partner gefunden«, meinte Ole und warf einen wohlmeinenden Blick auf Lars, »so einen wie dich, vielleicht.«

Es klopfte.

Ein atemloser Polizist mit hochrotem Kopf reichte eine Akte herein.

»Das kam gerade aus Dänemark. Ist bestimmt wichtig.« Lars nahm ihm die Akte ab, nickte ihm zu und blätterte in den Papieren.

»Er hat doch mehrere Schläge ins Genick bekommen, nicht? Vielleicht war das der anfängliche Versuch, ihn außer Gefecht zu setzen – vielleicht war der Mord ja gar nicht geplant, sondern ein Unfall?«, spekulierte Britta.

»Gunnar Thaisen war Schwede!«, unterbrach Lars überrascht. »Ich habe gestern in den Unterlagen der Einwohnermeldebehörde einen Hinweis darauf gefunden, dass er vor mehr als dreißig Jahren nach Dänemark ausgewandert ist. Alle wichtigen Angaben waren verschlüsselt, als gäbe es da etwas geheim zu halten. Also habe ich vermutet, er sei wegen irgendwelcher Schwierigkeiten ausgewandert und Däne geworden. Ist er aber nicht. Er hat nie die dänische Staatsangehörigkeit beantragt, sondern blieb zeit seines kurzen Lebens Schwede.«

»Also – nur damit ich jetzt nichts durcheinander bringe: Ein körperlich relativ gesunder und durchtrainierter dänischer Schwede färbt sich die Haare kupferrot, mietet ein für Behinderte umgerüstetes Auto in Dänemark, reist damit nach Schweden, gibt sich als Rollstuhlfahrer aus, um sich bei einem Zusammenreffen mit wer weiß wem, in der Kirche von Holm umbringen zu lassen? Ja? So etwa?«

Wikström sah die anderen in gespielter Verzweiflung an.

»Klingt irgendwie konstruiert, stimmt«, gab Örneberg zu.

Das Telefon schrillte.

Lundquist nahm ab.

»Sven Lundquist.«

»Aha! Da habe ich ja gleich den Richtigen! Was fällt eigentlich der schwedischen Polizei ein, meine Firma durchsuchen zu lassen und meine Familie so zu erschrecken?«

Der Anrufer schrie so laut, dass alle Anwesenden ihn problemlos verstehen konnten.

»Ich dachte, Schweden sei ein Rechtsstaat! Aber nun sehe ich, wie weit der Arm der staatlichen Repression reichen kann – sogar über Landesgrenzen hinweg!«

»Mit wem spreche ich denn eigentlich?«, fragte Lundquist in eine Atempause hinein.

»Na, wie viele unterjocht ihr denn noch gerade durch eure globalisierten Handlanger der Staatsgewalt? Habt ihr bei der Masse womöglich den Überblick verloren? Ich bin Gunnar Thaisen!«

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Die drei Radfahrer am Horizont waren nun schon gut zu sehen.

Je näher sie kamen, desto deutlicher wurde auch ihre Wut sichtbar. Sie traten mit großer Kraft in die Pedale, und ihm schien, als flögen sie förmlich heran.

Vielleicht war es doch ein Fehler gewesen. Er hätte ja auch einfach so weitermachen können wie bisher. Wenn es nicht so ein traumhafter Sommer gewesen wäre – bei Dauerregen hätte es ihm bestimmt nicht so viel ausgemacht. Bei anderen Gelegenheiten hatte er auch schon mal Fehler eingearbeitet – und jedes Mal war er von ihnen dafür bestraft worden. Er argumentierte sonst immer mit der Glaubwürdigkeit. Wenn immer alle drei alle Aufgaben richtig hatten, wäre das viel zu auffällig und die Lehrer kämen ihnen mit Sicherheit bald auf die Schliche. Das sahen der Dicke, der Dünne und der Lange zwar jedes Mal ein, aber es änderte nichts daran, dass sie ihn für jeden einzelnen der eingeschleusten Fehler bestraften.

Ihm blieb ohnehin keine Wahl, er musste Fehler einbauen, schon um sich einen Rest Würde zu bewahren. Vielleicht auch ein bisschen Triumph, denn allein waren sie wegen ihrer Trägheit nicht in der Lage, die Fehler zu entdecken: Sie waren ihm ausgeliefert.

Die Prügel dafür steckte er inzwischen schon fast mit Stolz ein.

Doch diesmal würde es anders sein, das war ihm klar. Anfangs hatten sie die Hausaufgaben einfach bei ihm abgeschrieben. Jeden Nachmittag holte jemand vom Trio die von ihm bearbeiteten Aufgaben am vereinbarten Platz ab, um sie anschließend, nachdem sie die Hausaufgaben übertragen hatten, wieder in den toten Briefkasten in der alten Linde zu legen, damit er auf dem Schulweg seine Hefte und Ordner wieder in seine Mappe stecken konnte. So blieb ihre Verbindung unentdeckt. In der Schule sprachen sie so gut wie kein Wort miteinander, damit die Lehrer nicht auf die Idee kamen, dass er ihnen bei den Hausaufgaben geholfen hatte.

Helfen! Sie hatten ihn dazu gezwungen! Erst versuchten sie es mit Prügel. Als das nicht fruchtete, gossen sie Gift in den Goldfischteich seiner Mutter. Die Fische starben einen qualvollen Erstickungstod. Aber er willigte erst ein, nachdem sie versucht hatten, seinen geliebten Kater zu vergiften.

Der Tierarzt war über das Ausmaß der Quälereien schockiert gewesen. Er meinte, das ginge weit über das hinaus, was er je an Tierquälerei gesehen habe. Zwar konnte er den Kater retten, aber Kamikatze war seitdem ein anderer. Seit dieser Zeit ließ er ihn nicht mehr vor die Tür, doch Kamikatze wollte ohnehin nicht mehr raus. Aus dem mutigen und furchtbaren Herrscher über das Revier und alle darin lebenden Artgenossen, Insekten und Mäuse war ein schreckhaftes Häufchen Fell geworden.

Und er war schuld.

Hätte er früher eingewilligt, wäre der Kater verschont geblieben – Kamikatze war zum Opfer seines Stolzes geworden.

Das musste er sich eingestehen.

An diesem Punkt war er bereit, ihren Forderungen nachzugeben.

Mit einem nervösen Blick durch sein Zimmerfenster vergewisserte er sich, dass Kamikatze für die drei Rächer unerreichbar in dem Regal über seinem Bett lag.

Ihn würden sie diesmal jedenfalls nicht kriegen.

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»Ich muss unbedingt mit dir reden«, drängte die leise Stimme am Telefon.

»Ich wüsste nicht, worüber wir uns zu unterhalten hätten.«

»Zum Beispiel über dein Alibi für die Mordnacht. Die Polizei wird danach fragen. Hast du denn eines?«, säuselte es süß in sein Ohr und er bekam eine Gänsehaut.

»Ich brauche keins.«

»Wie kannst du dir so sicher sein? Sie werden alle überprüfen, und du hast keins.«

»Woher willst du das denn so genau wissen? In mein Schlafzimmer kann niemand gucken«, höhnte er.

»Ach, in deinem Schlafzimmer warst du ja auch gar nicht, nicht wahr? Ich weiß schließlich genau, dass du in der Nacht oben in der Kirche warst«, flüsterte die Stimme.

Wie kam er da nur wieder raus?

»Ich glaube nicht an Gott. Ich geh da noch nicht mal am Tage hin. Was sollte ich da ausgerechnet in der Nacht.«

»Mag schon sein. Aber ich habe dein Motorrad gehört und euch in der Kirche verschwinden sehen.«

»Was soll das? Mit wem spreche ich da eigentlich?«

»Unwichtig. Wenn du nicht mit mir reden willst, dann suche ich mir eben einen anderen Gesprächspartner mit mehr Interesse für meine Geschichte. Und ich werde einen finden, verlass dich drauf!«

Plötzlich war alle Sanftheit in der Stimme verschwunden. »Drohst du mir mit der Polizei? Jemand, der nicht einmal seinen Namen nennt!«

»Noch kannst du dein Schicksal abwenden.« Sprach er da mit einem Mann oder einer Frau? Verdammt, was, wenn man ihn wirklich gesehen hatte? Die Stimme war schwer einzuordnen. Vielleicht hatte er aber einfach auch schon ein bisschen zu viel getrunken. In diesem Zustand war es manchmal ziemlich schwierig, etwas auseinanderzuhalten.

Als er seine Aufmerksamkeit wieder auf das Telefonat lenken wollte, stellte er fest, dass der beunruhigende Anrufer aufgelegt hatte.

Auch gut, dachte er benebelt, damit hatte sich das eben erledigt.

Doch das war nur einer von vielen fatalen Irrtümern in diesem Mordfall.

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»Wie?«, fragte Lundquist überrumpelt. »Was soll das heißen?«

»Na, was soll das wohl heißen? Das kann ja wohl nicht so schwer zu begreifen sein. Ich bin Gunnar Thaisen! Und wie du sicher hören kannst, bin ich sehr lebendig und überaus wütend! Sind bei euch eigentlich alle so unglaublich fähig wie du?«

»Wir haben hier einen Toten, der unter dem Namen Gunnar Thaisen einen Wagen in Dänemark gemietet hat. Er konnte einen gültigen Führerschein und einen Ausweis vorlegen.«

»Na prima! Ich gratuliere! Und deshalb durchwühlt jetzt die dänische Polizei meine Firma und erzählt meiner Frau, ich sei ermordet worden! Es mag ja noch andere Gunnar Thaisens in Dänemark geben. So selten ist der Name ja wohl nicht.«

»Aber die werden wohl nicht alle unter deiner Adresse gemeldet sein, oder?«

»Meine Güte! Meine Adresse steht im Telefonbuch und im Internet auf der Website meiner Firma. Nichts leichter als das, die herauszufinden und sich gefälschte Papiere zu besorgen!«

»Sind die Kollegen noch bei dir? Gut, dann lass mich doch mal mit einem von ihnen sprechen.«

Lundquist deckte die Muschel mit der Hand ab, während er wartete.

»Dieser Gunnar Thaisen ist jedenfalls tatsächlich außerordentlich lebendig und stinksauer!«

Als sich einer der dänischen Ermittler meldete, besprachen sie, wie nun vorzugehen sei.

Gunnar Thaisen könne sich ausweisen, erfuhr Lundquist von seinem dänischen Kollegen, er sei Rollstuhlfahrer, habe auch einen Behindertenausweis und müsse sich kein Auto mieten, er fahre einen speziell für seine Bedürfnisse umgerüsteten knallroten Volvo S60 Cabrio.

»Aha. Gut. Dann müssen wir davon ausgehen, dass sein Name von dem Toten aus der Kirche nur benutzt wurde. Checkt vorsichtshalber noch sein Alibi für die Tatnacht – tja, tut uns aufrichtig leid.«

Ole kratzte sich nachdenklich am Kinn.

»Okay, er hat Recht. Es ist sicher kein Problem, seine Adresse rauszufinden: Er steht mit Anschrift im Telefonbuch und auf der Website seiner Firma. Trotzdem wurde der Name ja wohl nicht wahllos herausgepickt. Schließlich hat der Mörder ja auch gewusst, dass Gunnar Thaisen im Rollstuhl sitzt und vielleicht sogar, wie er aussieht. Er war also gut informiert und vorbereitet.«

Britta sah ihn missbilligend an.

Das raue Rascheln der Bartstoppeln, das entstand, wenn die Finger darüberfuhren, verursachte ihr ein unangenehmes Prickeln mit Gänsehaut vom Nacken abwärts.

Sie schüttelte sich.

»Ich frage mich, ob er dem echten Gunnar Thaisen wirklich sehr ähnlich sah. Immerhin hatte er sogar seine Haare gefärbt. Aber wollte er damit Ähnlichkeit erreichen oder nur sein eigentliches Aussehen verbergen? Können uns die Kollegen nicht ein Foto schicken?«

»Ja, können sie bestimmt. Ich werde sie anrufen. Wir müssen auch wissen, wie groß und schwer der echte Gunnar ist. Was soll die ganze Tarnung, wenn es dann an der Statur scheitert. Und wer sollte eigentlich getäuscht werden? Jemand, der Gunnar kannte? Dann müsste die Verwandlung tatsächlich nahezu perfekt gewesen sein. Und wozu?«

»Vielleicht eine Erbschaftsangelegenheit.«

Ole hatte ein Blatt vor sich hingelegt und begann wahllos Linien zu ziehen, die sich willkürlich kreuzten.

»Oder es ging um eine Frau«, mutmaßte Britta und lächelte süßlich.

»Britta, solltest du tatsächlich eine gut verborgene romantische Ader haben? Warum ist uns das bloß nie aufgefallen?«, stichelte Bernt.

»Wieso reagiert Ihr denn immer so ekelhaft, wenn die Liebe ins Spiel kommt, Meister Bernt? Habt Ihr vielleicht ein Problem mit der Romantik?«, konterte sie.

Lundquist trat ungerührt an die Pinnwand, um die allgemeine Konzentration wieder auf den Fall zu lenken.

»Was haben wir an konkreten Fakten?«, fragte er rhetorisch und begann aufzuzählen: »a) der Tote in der Kirche wurde nicht vom Kreuz erschlagen; b) wir wissen nicht, wo der Mord passiert ist; c) der Tote benutzte Rollstuhl und Wagen nur zur Tarnung; d) Name, Adresse waren korrekt angegeben, sind aber nicht seine Daten; e) offensichtlich hat er Gunnar Thaisen vorher ausspioniert; f) mehrere Täter haben den Mord gemeinschaftlich begangen oder zumindest zu vertuschen versucht, denn das Kreuz kann einer allein nicht bewegen.«

Während er sprach, schrieb er einige Stichworte auf Zettel und pinnte sie an die Wand.

»Es muss irgendeine Verbindung von Thaisen zu Holm geben«, meinte Bernt, »sonst macht doch die ganze Maskerade keinen Sinn. Und dass die Kirche nur durch Zufall als Ort für den Mord ausgesucht worden sein soll, kann ich auch nicht glauben.«

»Vielleicht hat das Opfer seine Mörder ja schon lange vor der Tat getroffen«, spekulierte Britta. »Geschäfte, irgendwas. Sie waren unterwegs und haben sich gestritten.

Sie schlugen auf Pseudo-Gunnar ein, und plötzlich war er tot. Da kamen sie auf die Idee, die Leiche in der nächsten Kirche zu deponieren, an der sie vorbeikommen würden.«

»Gut. Nur kommt man an der Kirche in Holm eben nicht einfach so vorbei. Sie steht am Ende der Straße auf einem Hügel. Man muss schon gezielt zu ihr hinfahren wollen«, gab Bernt zu bedenken.

»Aber es gibt doch sicher ein Hinweisschild an der Straße? Dem können sie einfach nachgefahren sein, wie es die Touristen im Sommer doch auch machen!«, ließ Britta nicht locker.

»Ich finde das nicht abwegig«, schaltete sich Ole ein. »Sie haben sich getroffen und sind in Streit geraten. Vielleicht ging’s ja wirklich um eine schöne Frau«, sagte er und warf Britta, die pawlowartig die Augen verdrehte, einen stechenden Blick zu.

»Das ist doch nicht dein Ernst!«

»Hast du nicht gerade eben auch von Liebe als Motiv gesprochen?«, verteidigte sich Ole patzig. »War doch deine eigene Idee!«

»Aber das habe ich nur ins Spiel gebracht, weil es das Lieblingsmotiv der versammelten Männlichkeit an diesem Tisch ist. Dieses Team ist manchmal so unglaublich testosteronlastig! Aber wenn du nur einen Augenblick ernsthaft darüber nachdenkst, musst du doch merken, dass Liebe oder Eifersucht als Motiv nicht tragen! Mein Gott, ehrenwerte Männer streiten um Frauen, erstechen Nebenbuhler, anschließend setzen sie sie im Kirchenschiff bei und bedecken ihre erkaltenden Körper als letzte Ehre mit einem Glaskreuz! Jagen wir hier denn ein Phantom der Oper, oder was?«, schäumte Britta auf. »Und nachdem sie den letalen Akt pietätvoll zelebriert hatten, haben sie nächtens das Gotteshaus in aller profanen Schnödigkeit einfach verlassen. Nicht wahr? So war es doch! So muss es doch gewesen sein! Ja, in der Oper, lieber Ole, aber nicht in der schnöden Aufführung, die man Realität nennt. Woher sollten sie denn wissen, frage ich dich, dass in der Kirche ein großes schweres Kreuz stand, das sich zur Vertuschung eines Mordes eignete, wenn sie gar nicht aus dem Ort waren?«

»Ist doch gar nicht gesagt, dass sie von dem Kreuz wussten«, antwortete Ole schwach; offensichtlich befand er sich schon auf dem geordneten Rückzug. »Vielleicht haben sie ja auch nur gedacht, in einer Kirche würde sich schon was Geeignetes finden.«

»Klar, das ist das erste, woran ich bei einer Kirche denke: Die ist voll mit Requisiten, die mir bei der Vertuschung eines Mordes behilflich sind! Mann, da hätten sie ja auch eine Orgelpfeife rausreißen und neben ihm drapieren können, damit wir Vollidioten von der Polizei denken, er wäre davon erschlagen worden.«

»Wie haben die sich eigentlich abgesetzt, frage ich mich – ohne Auto.«

»Divergierendes Denken ist nicht gerade eine deiner überragenden Fähigkeiten, nicht? Vielleicht fuhren sie ja nicht in einem, sondern in mehreren Autos«, spottete Britta weiter.

»Oder mit Motorrädern, wie? Vielleicht haben sie ja auch Fahrräder benutzt«, fuhr Bernt gereizt dazwischen.

Lundquist entfernte den Namen Gunnar Thaisen neben dem Foto des Opfers und pinnte ihn etwas abseits wieder an.

»Obwohl ich Oles Einwand verstehe, tendiere ich doch eher dazu, eine Verbindung zu Holm zu vermuten. Wenn der Saab von Helsigbor nach Helsingoer übergesetzt ist, kann sich vielleicht einer der Kontrolleure an ihn erinnern. Schließlich ist ja nicht gerade Hochsaison für die Fähre und der Wagen ist auffällig. Bernt, du fährst runter und klärst das. Nimm ein möglichst gutes Foto vom Opfer mit: Möglicherweise erinnert sich jemand an ihn. Ole, aus irgendeinem Grund ist Gunnar Thaisen damals mit seiner Familie ausgereist; er hat selbst den Namen geändert. Finde heraus, warum da so eine Geheimniskrämerei gemacht wird und wo er bis dahin gewohnt hatte, welche Schule er besucht hat, und so weiter. Du weißt schon. Die dänischen Kollegen sollen mal die Firma von Gunnar Thaisen checken. Droht vielleicht eine Insolvenz? – Lars, du hast ja schon Kontakt zu den Kollegen ... Die Tatsache, dass er nicht wirklich das Opfer war, muss nicht bedeuten, dass er mit der Sache gar nichts zu tun hat. Britta, du fährst nach Holm. Vielleicht hat das Mordopfer auf dem Weg dorthin in einem Kro etwas getrunken, um den Burger runterzuspülen. Ein Rollstuhlfahrer wird bemerkt. Frag auch die spielenden Kinder auf der Straße, die Rentner auf den Bänken – vielleicht ist jemandem das fremde Auto aufgefallen. Ich fahr mit Lars auch in unser idyllisches Dorf. Wir werden uns von dem einen oder anderen Klatsch und Tratsch erzählen lassen. Kontakt über Handy. Okay?«

Damit war die Runde beendet.

»Woher kriegt man eigentlich einen Rollstuhl, wenn man ihn nicht aus gesundheitlichen Gründen braucht?«, gähnte Britta im Gehen.