Read the book: «Seewölfe - Piraten der Weltmeere 243»
Impressum
© 1976/2016 Pabel-Moewig Verlag KG,
Pabel ebook, Rastatt.
ISBN: 978-3-95439-579-8
Internet: www.vpm.de und E-Mail: info@vpm.de
Inhalt
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
1.
Die Nacht war hereingebrochen und hatte ihren grauschwarzen Schleier über die zerklüftete Felsenlandschaft des Taurus ausgebreitet. Nur selten tauchte der Mond zwischen den vorüberziehenden Wolken auf und warf sein fahles Licht über die wilde, bizarre Landschaft, die sich an der türkischen Südküste, zwischen dem Golf von Antalya und Adana, entlangzog.
Man schrieb das Jahr des Herrn 1591.
Schon vor Wochen hatte der Winter damit begonnen, den Spätsommer zu verdrängen. Öfter als sonst waren peitschende Regengüsse niedergegangen, als wollten sie die schroffen Berggipfel freispülen vom Staub der vergangenen Jahrhunderte. Auch jetzt, in der Mitte des Monats Dezember, wehte eine frische Brise aus westlicher Richtung und ließ die wenigen Menschen, die dieses unwirtliche Gebiet bewohnten, frösteln. Trotzdem war das Klima der Wintermonate als mild zu bezeichnen, wie meist in den Küstengegenden des Mittelmeeres.
Sobocan zuckte unwillkürlich zusammen, als die nächtliche Stille urplötzlich von erregtem Stimmengewirr unterbrochen wurde.
Zunächst hatte es den Anschein, als würden sich die Männerstimmen nähern, doch niemand erschien an der rohgezimmerten Holztür des Verlieses, in das man ihn – die Hände und Füße mit derben Stricken zusammengebunden – eingesperrt hatte.
Es war fast völlig dunkel in dem muffig riechenden Gewölbe. Nur der trübe Schein des Mondes fiel hoch oben durch eine winzige Maueröffnung und zeichnete gelbliche Muster auf die verwitterten Steinquadern.
Der Geruch von Feuchtigkeit überlagerte den Raum, und der junge, etwa fünfundzwanzigjährige Mann mit den dunklen Haaren und dem markanten, sonnengebräunten Gesicht, hatte das Gefühl, für alle Ewigkeiten in eine finstere Grabkammer verbannt worden zu sein.
Sobocan, der junge Türke, war ein drahtiger Bursche. Seine Kleidung war teilweise zerfetzt. Von seinen nackten Füßen ausgehend, kroch langsam eine feuchte Kälte über seinen Körper. Sein Rücken brannte wie Feuer. Die Neunschwänzige Katze, die gestern an Bord der „El Jawhara“ zwanzigmal auf seine braune Haut geklatscht war, hatte blutige Spuren hinterlassen.
Angestrengt lauschte Sobocan in die Nacht.
Das Stimmengewirr hatte sich gesteigert und ging nun in einen eigentümlichen, monotonen Gesang über. Er konnte sich lebhaft vorstellen, was da draußen auf dem Innenhof der ehemaligen Seldschuken-Festung geschah. Irgendwo, ganz tief in seinem Inneren, ahnte er, was das für ihn zu bedeuten hatte.
Unwillkürlich glitten seine Blicke über die schroffen Mauern seines Gefängnisses, und immer wieder blieben sie auf dem kleinen Lichtfleck haften, den der Mond hereinwarf. Aber die Maueröffnung, die einer Schießscharte glich, war zu klein. Kein menschlicher Körper, und sei er noch so dünn und mager, würde sich jemals durch diesen schmalen Schlitz zwängen können. Der einzige Weg in die Freiheit lag dort hinter den dicken Holzbohlen der Tür. Und diese war verriegelt und höchstwahrscheinlich bewacht.
Ein bisher unbekanntes Gefühl der Ohnmacht überfiel Sobocan. Wie sollte es ihm jemals gelingen, diese Tür zu öffnen? Selbst wenn ihm das gelang, würden ihm blanke Krummsäbel und scharfe Dolche den Weg in die Freiheit versperren – oder ihn sogar in jenes Paradies befördern, das Allah seinem Propheten Mohammed offenbart hatte.
Sobocan nagte zweifelnd an seiner Unterlippe.
Wäre es in diesem Paradies, von dem die Imame in den Moscheen immer wieder erzählten, nicht viel schöner und angenehmer als hier in diesem feuchten, muffigen Gemäuer, wo man ihn jederzeit herausholen konnte, um ihm mit einem Schwert den Kopf abzuschlagen?
Die Gedanken hinter Sobocans Stirn begannen sich zu jagen, bis er plötzlich wieder an Slobodanka, jenes hübsche, schlanke Geschöpf dachte, das er so sehr liebte. Die Ungewißheit darüber, ob er das Mädchen jemals wiedersehen würde, jagte ihm kalte Schauer über den zerschundenen Körper.
Nein, das Paradies, das der Prophet Mohammed verkündet hatte, war wohl doch nichts für ihn. Es war nichts Greifbares, und er fühlte sich unendlich weit davon entfernt. Und wenn es dem Willen Allahs entsprach, ihn zu einem zufriedenen und glücklichen Menschen zu machen, dann mußte er ihm die Möglichkeit verschaffen, auf dieser Erde zu bleiben – hier in dem wilden, gebirgigen Teil seiner Heimat, in dem die Felsen fast bis ins Wasser des Mittelmeeres ragten. Mit dieser Landschaft war er verwachsen. Hier war er Slobodanka zum erstenmal begegnet. Seitdem schlug sein Herz höher, wenn er an sie dachte.
Sobocan wälzte sich zur Seite. Das monotone, rhythmische Singen war lauter geworden. Das sich ständig wiederholende „Dhikr“ und das Hersagen der mystischen Formel „Yah Allah“ beschleunigten sich, und nackte Fußsohlen stampften dazu in gleichbleibendem Rhythmus auf den Lehmboden des Hofes.
Eine merkwürdige Erregung packte Sobocan. Sein Atem ging unwillkürlich rascher als sonst. Er fühlte, daß das Schicksal eine folgenschwere Entscheidung über ihn fällen würde, eine Entscheidung über Leben und Tod.
Das unruhige Flackern der Fakkeln tauchte den Innenhof der Ruine in ein gespenstisches Licht. Das blanke Metall der Dolche und Stichwaffen, die rundum an den Wänden hingen, glitzerte im Schein des Feuers, das in der Mitte des Hofes aufloderte und gleichzeitig einen betäubenden Duft verbreitete. Es war der Geruch von Weihrauchkörnern und Gewürzkräutern, der den Schauplatz des merkwürdigen Rituals überlagerte.
Eine Schar Derwische des Mewlewija-Ordens, eine mystisch-islamische Sekte von Bettelmönchen, hatte sich in lange, helle Gewänder gehüllt, die an den Hüften durch breite Ledergürtel zusammengehalten wurden. Dazu trugen sie hohe, kegelförmig zulaufende Hüte und bewegten sich in einem ekstatischen Wirbeltanz um das Feuer.
Der monotone Gesang der Derwische wurde plötzlich durch einige schrille Schreie unterbrochen, die ein einzelner Mann ausstieß. In seinen Augen lag ein fast überirdischer Glanz, als er seinen Wirbeltanz etwas verlangsamte. Sein Blick schien in unendliche Weiten gerichtet zu sein.
Der Mann stand einen Augenblick still, dann ging er mit langsamen Schritten zu einer Seitenmauer des Hofes hinüber und nahm einen langen Degen von der Wand. Damit ging er zum Feuer in der Mitte des mystischen Kreises, riß den Mund weit auf – und stieß sich langsam die Klinge der Waffe durch die rechte Wange, bis sie auf der linken Gesichtshälfte wieder heraustrat.
Der Derwisch, der sich im Zustand der Ekstase befand, zuckte nicht einmal zusammen. Kein Blutstropfen rann über sein bartloses Kinn. Er schien jenen Zustand erreicht zu haben, den alle Derwische durch ihre verschiedenartigen Rituale anstreben, nämlich die Begegnung und das Einssein mit Allah. So sollte auch der Stich mit dem Degen veranschaulichen, daß in einer solchen tranceartigen Verzückung alles Körperliche bedeutungslos wurde.
Als die anderen Derwische sahen, was geschah, steigerten sie ihren Gesang, der schließlich in heulende Klagetöne umschlug. Auch sie wollten so rasch wie möglich diesen Zustand erreichen, um – wie sie glaubten – mit Allah zu verschmelzen.
Nur einer der Männer schien das Diesseits, die Welt der Realitäten, nicht aus den Augen zu verlieren. Er tanzte zwar auch, aber seinem stechenden Blick schien absolut nichts zu entgehen.
Es handelte sich um Ibrahim Salih, das Oberhaupt der Derwische.
Bereits vor einigen Jahren war auf sein Betreiben hin innerhalb des Mewlewija-Ordens eine Spaltung erfolgt, nach der er sich mit einer Schar von Getreuen in die Einsamkeit der alten Seldschuken-Festung, die direkt in den Felsen der türkischen Südküste lag, zurückgezogen hatte.
Aber Ibrahim Salih, ein früherer Pirat, hatte es trotz aller fanatischen Frömmigkeit bald satt, das asketische Leben eines Bettelmönches zu führen. Es lebte sich viel einfacher, wenn man sich nahm, was man brauchte – und vielleicht sogar noch etwas mehr. So hatten sich mit der Zeit auch die Vorratsräume der Ruine gefüllt, die man durch den Anbau eines Minaretts in eine Moschee umgewandelt hatte.
Ibrahim Salih war ein großer, hagerer Mann mit dichtem Bart und auffallender Hakennase. Seine Gesichtsfarbe wirkte fahl, seine Augen blickten hinterhältig und verschlagen. Auch jetzt ließ er seine Blicke mit einem kalten Grinsen in die Runde schweifen.
Offenbar war der Zeitpunkt jetzt günstig für sein Vorhaben. Er sprang urplötzlich mit einem lauten Schrei in den Kreis der tanzenden Derwische. In seiner rechten Hand lag wie hineingezaubert ein Krummsäbel, den er mehrmals durch die Luft zischen ließ.
„Bringt ihn her!“ schrie er wild. „Holt ihn! Er soll hören, wessen er angeklagt ist!“
Das ekstatische Singen und Tanzen brach unvermittelt ab. Während die Blikke einiger Derwische erkennen ließen, daß sie noch in anderen Welten weilten, blickten die anderen keuchend und außer Atem zu ihrem Oberhaupt hinüber.
„Warum gerade jetzt?“ fragte ein kleiner, rundlicher Mann, mit unwilligem Gesicht. Das härene Gewand reichte ihm bis auf die nackten Füße. „Hat das nicht bis später Zeit? Der Hund wird uns nicht davonlaufen.“
„Halt den Mund, Naci!“ gab Salih unwirsch zurück. „Jetzt ist der richtige Zeitpunkt. Der Fluch Allah wird uns treffen, wenn wir diese Ratte länger in unserer Nähe dulden. Holt ihn!“
Niemand wagte mehr einen Widerspruch. Sie kannten schließlich die Anfälle von Jähzorn, die ihren Führer von Zeit zu Zeit heimsuchten. Außerdem: wenn Allah ihm gezeigt hatte, daß jetzt der richtige Zeitpunkt war, dann muß-te es eben sein.
Es dauerte nicht lange, und zwei der Derwische kehrten mit Sobocan in ihrer Mitte in den Schein der Fakkeln und des mystischen Feuers zurück.
Das Hemd über der Brust des jungen Türken war zerfetzt. Auf dem Rücken war es mit Blut durchtränkt. Die Segeltuchhose endete direkt unterhalb der Knie, auch sie hatte schon bessere Zeiten erlebt. Sein schwarzes Haar wirkte strähnig, seine Hände waren nach wie vor auf den Rücken gebunden. Erwartungsvoll richtete sich sein Blick auf die gespenstischen Gestalten, die einen Kreis um ihn zu bilden begannen.
In seinen Augen lag ein entschlossener Ausdruck. Nein, Angst hatte Sobocan nicht. Wenn Allah bestimmt hatte, daß er heute sein Leben lassen sollte, dann konnte er nichts dagegen tun. Nur der Gedanke an Slobodanka erfüllte ihn mit einer stillen Wehmut.
Obwohl die Atmosphäre, die die Derwische umgab, alles andere als angenehm war, empfand Sobocan die plötzliche Wärme, die das hochauflodernde Feuer in seiner Nähe abgab, als wohltuend. Seine kalten, steifen Glieder begannen sich langsam zu erwärmen.
Totenstille war eingetreten. Keiner der Derwische tanzte mehr oder sang den monotonen „Dhikr“ vor sich hin. Alle blickten gespannt auf Ibrahim Salih, ihren Führer.
„Naci“, sagte dieser nun zu dem kleinen, rundlichen Mann, der außer ihm der einzige war, der des Lesens und Schreibens kundig war. „Bringe den Koran. Und dann lies laut vor, was im dritten Vers der vierundzwanzigsten Sure geschrieben steht. Dieser Hund, der da vor uns steht, soll seine Ohren weit öffnen, und er soll auf die Knie gehen, wenn das Wort Allahs an ihn ergeht!“
Während Naci dienstbeflissen den Koran herbeiholte, wurde Sobocan von seinen Bewachern in die Knie gezwungen.
Naci begann mit lauter Stimme vorzulesen: „So wurde dem Propheten zu Medina offenbart: Eine Hure und einen Hurer sollt ihr mit hundert Schlägen geißeln. Laßt euch nicht, diesem Urteil Allahs zuwider, von Mitleid gegen sie einnehmen, wenn ihr an Allah und den Jüngsten Tag glaubt. Einige Gläubige sollen ihre Bestrafung bezeugen.“ Nachdem er geendet hatte, blickte er abwartend zu Salih hinüber.
„Hast du es gehört, du Ratte?“ fragte Ibrahim Salih zu Sobocan gewandt. In seinen stechenden Augen lag ein merkwürdiger Glanz, als er fortfuhr: „Du hast Slobodanka, die Tochter unseres Wohltäters Barabin in den Dreck gezogen. Ja, du Hund, du hast dich an das Mädchen herangepirscht, und dafür wirst du die hundert Schläge erhalten, von denen der Prophet gesprochen hat.“
Einen Moment wirkte Sobocan wie erstarrt. Hundert Schläge! Erst gestern hatte er zwanzig Hiebe mit der Neunschwänzigen erhalten. Kämen jetzt noch weitere hundert dazu, dann würde das auch der stärkste Mann nicht verkraften. Es wäre das sichere Ende. Und außerdem: Was hatte er Slobodanka getan? Sie liebten sich, das war alles. Nie hatten sie etwas getan, was gegen die Gebote Allahs und seines Propheten verstoßen hätte.
Rasch sprang der junge Mann auf.
„Was du gesagt hast, ist eine Lüge!“ rief er mit lauter Stimme. „Eine elende Lüge! Und Allah wird auch die Lügner eines Tages bestrafen. Ich habe Slobodanka mit keinem Finger angerührt. Ja, ich liebe sie, und sie liebt mich. Und ich habe Barabin gebeten, mir seine Tochter zur Frau zu geben. Ist das vielleicht ein Unrecht? Auch du, Salih, hast nicht das Recht, Gutes in Böses zu verwandeln!“
„Schweig, du Hund!“ brüllte das Oberhaupt der Derwische mit haßverzerrtem Gesicht. „Sei still, oder ich lasse dir augenblicklich den Kopf abschlagen!“
Seine Augen funkelten tückisch, als er sich Naci zuwandte.
„Lies weiter“, sagte er. „Wir wollen aus der neunten Sure des Korans den einundvierzigsten Vers hören.“
Eilig küßte Naci den Koran, bevor er mit lauter und hoher Stimme zitierte: „Zieht in den Kampf, leicht und schwer, und kämpft mit Gut und Blut für die Religion Allahs; dies wird besser für euch sein, wenn ihr es nur einsehen wollt.“
Nachdem Naci verstummt war, legte Ibrahim Salih eine kurze Pause ein, um die Wirkung seiner Worte zu erhöhen. Er verfolgte sein Ziel mit eiskalter Präzision.
„Mit Gut und Blut haben wir für die Religion Allahs zu kämpfen“, sagte er zu Sobocan. „Und was hast du vor zwei Tagen getan, als die ‚El Jawhara‘ die ungläubigen Hunde samt ihrem Schiff vernichtet hat? Du hast feige den Schwanz eingezogen und Barabin, deinen Kapitän, sogar noch einen Meuchelmörder genannt. Du bist ein Verräter! Jawohl, ein ganz elender Verräter! Und als solcher wirst du sterben, und zwar gleich im ersten Morgengrauen. Allah sei mein Zeuge, daß ich dieses Urteil in seinem Auftrag gesprochen habe.“
Wieder bäumte sich Sobocan auf, aber gegen die Übermacht der Derwische konnte er nichts ausrichten.
„Auch das ist eine üble Verleumdung!“ schleuderte er Salih entgegen. „Ich bin kein Verräter, aber Barabin ist ein Meuchelmörder, er hat die Besatzung des venezianischen Schiffes mit eurer Hilfe in einen Hinterhalt gelockt. Alle Männer mußten sterben, obwohl das nicht nötig gewesen wäre, um die Beute zu übernehmen.“
„Schweig!“ brüllte Ibrahim Salih und hob drohend den Krummsäbel, den er noch immer in der Hand hielt.
Doch Sobocan fuhr unbeirrt fort: „Und nun öffne du deine Ohren, Salih. Wie Naci vorgelesen hat, sollen die Gläubigen mit Gut und Blut für die Religion Allahs kämpfen. Bei dem hinterhältigen Morden, das Barabin mit deiner Hilfe betrieben hat, ging es aber nicht um die Religion, sondern um fette Beute, und damit um die Befriedigung eurer Gier und Habsucht. Allah wird euch dafür bestrafen, er wird euch …“
Weiter gelangte Sobocan nicht. Ein gewaltiger Fausthieb streckte ihn nieder. Das Feuer vor seinen Augen begann zu tanzen, dann griff eine kalte Dunkelheit wie mit tödlichen Klauen nach ihm.
2.
Über der Felsenmoschee der Derwische lag eine bedrohliche Stille. Das rituelle Singen und Tanzen, das nach der Verurteilung Sobocans fortgesetzt worden war, hatte inzwischen aufgehört. Nur vereinzelt drang der Ruf eines Nachtvogels durch die uralten Gemäuer der Ruine.
Als Sobocan aus der Bewußtlosigkeit erwachte, glaubte er zunächst, die Welt drehe sich in einem rasenden Wirbel um ihn. In seinem Schädel explodierten tausend Pulverfässer, und er hatte ein Gefühl, als hielten ungeheure Lasten seinen Körper am Boden fest.
Blinzelnd öffnete er die Augen, doch das einzige, was sich seinem Blick bot, war Dunkelheit. Als er dann noch die Kühle und Feuchtigkeit seiner Umgebung spürte, kehrte seine Erinnerung zurück.
Der Körper Sobocans straffte sich. Mit einer reflexartigen Bewegung wollte er vom Boden aufspringen. Aber es blieb bei dem Versuch, denn man hatte ihm wieder Hände und Füße zusammengebunden.
Während ihn diese bittere Erkenntnis wie ein Hammerschlag traf, fielen ihm die Worte Ibrahim Salihs ein. Und gleichzeitig stieg eine ohnmächtige Wut in Sobocan auf. Man wollte ihn beseitigen, und das im Auftrage Barabins, daran gab es für ihn keinen Zweifel mehr.
Hundert Schläge sollte er erhalten. Außerdem hatten ihn die Derwische zum Tode verurteilt, und das eigentlich nur, weil er sich einen Rest von Menschlichkeit bewahrt hatte.
Ein schmerzliches Lächeln quälte sich in Sobocans Gesicht. Man hatte ihn nicht ausreden lassen, sondern einfach niedergeschlagen. Dennoch grenzte es bereits an ein Wunder, daß er überhaupt noch am Leben war. Aber Ibrahim Salih, dieser eiskalte, berechnende Schurke, würde nicht davor zurückschrekken, das Urteil zu vollstrecken.
Das Oberhaupt der Derwische hatte seinen Plan genau durchdacht. Unter dem Deckmantel der Religion würden auch seine Männer ohne weiteres mitspielen.
Auch Salih mußte sich darüber im klaren sein, daß er die hundert Schläge nicht überstehen würde. Sollte das trotzdem der Fall sein, würde das zusätzlich ausgesprochene Todesurteil dafür sorgen, daß er, Sobocan, zu Beginn des neuen Tages nicht mehr unter den Lebenden weilte.
Als Sobocans Blick die schmale Maueröffnung seines Verlieses streifte, durch die das spärliche Licht des Mondes auf die gegenüberliegende Mauer fiel, durchzuckte ihn plötzlich ein eisiger Schreck. Wieviel Zeit war seit der gespenstischen Szene im Kreis der Derwische überhaupt vergangen? Wie lange würde es noch dauern, bis das erste Morgengrauen hereinbrach? Konnten nicht jeden Moment seine Mörder die schwere Holztür öffen? Vielleicht stand derjenige, den das Los getroffen hatte, schon mit dem Richtschwert bereit?
Sobocan wußte, daß er keine Zeit verlieren durfte. Aber was sollte er tun? Gab es überhaupt eine Möglichkeit für ihn, den Derwischen zu entrinnen?
Schließlich war es der Gedanke an Slobodanka, der ihn aus seinen Überlegungen riß. Seine alte Entschlossenheit und ein eiserner Lebenswille packten ihn.
Nachdem es ihm gelungen war, seinen Oberkörper aufzurichten, versuchte er mühsam, seine Umgebung mit den auf den Rücken gefesselten Händen abzutasten. Aber es waren nur kalte, feuchte Steine, die er berührte.
Trotzdem gab er nicht auf. Es mußte eine Chance für ihn geben. Er konnte Slobodanka nicht allein auf dieser Welt, in der sich die Menschen gegenseitig wie wilde Tiere zerfleischten, zurücklassen. Er liebte sie, und er wußte, daß sie auf ihn wartete.
Ein Hoffnungsschimmer durchzuckte Sobocan, als seine Fingerspitzen plötzlich über eine schroffe Steinkante glitten. Damit mußte er es versuchen. Die Kante war zwar nicht messerscharf, aber vielleicht würde es ihm gelingen, seine Fesseln damit durchzuscheuern.
Sofort ging der junge Bursche an die mühsame und schmerzhafte Arbeit. Er achtete nicht darauf, daß ihm schon bald die Haut in Fetzen von den Handgelenken hing. Der Wille, am Leben zu bleiben, ließ ihn den Schmerz vergessen. Der Gedanke an die unaufhaltsam fortschreitende Zeit verlieh ihm neuen Antrieb. Wann würde der neue Tag anbrechen? Würde er es noch schaffen, seine Fesseln zu lösen? Verbissen arbeitete er weiter, bis er einen plötzlichen Ruck verspürte – dann konnte er seine Hände frei bewegen.
Ein Gefühl der Dankbarkeit durchströmte Sobocan. Er hatte es geschafft, seine Hände waren frei. Sofort warf er seinen Körper herum, um auch die Fußfesseln zu bearbeiten. In den Druck seiner Beine konnte er mehr Kraft legen, so daß auch die dünnen Taue um die Fußgelenke in kurzer Zeit durchgescheuert waren.
Sein Atem ging schwer, als er sich wieder völlig frei bewegen konnte. Sofort stand er vom Boden auf, seine Glieder waren kalt und steif geworden. Mit zusammengekniffenen Lippen rieb er sich die schmerzenden Handgelenke. Nur langsam spürte er, wie ein wenig Wärme in seinen drahtigen Körper zurückströmte.
Die anfängliche Zuversicht Sobocans klang rasch wieder ab, denn auf dem Weg in die Freiheit gab es noch gefährliche Hindernisse zu überwinden.
Wie wollte er je aus diesem dunklen Verließ herauskommen, ohne von den Derwischen bemerkt zu werden?
Es gab nur einen einzigen Weg, und der führte durch die Tür, die aus dikken, grobbehauenen Planken bestand und verriegelt war. Niemals würde ihm gelingen, sie von innen zu öffnen.
Da fielen ihm die Wachen ein.
Mit ziemlicher Sicherheit ließ Ibrahim Salih das Gefängnis bewachen, obwohl die Voraussetzungen für eine Flucht äußerst gering waren. Sobocan hoffte es jedenfalls, denn ohne Hilfe von außen war er verloren, auch wenn es ihm gelungen war, die Fesseln abzustreifen.
Sobocan beschloß, es mit einem simplen Trick zu versuchen. Würde er durch lautes Rufen oder Schreien die Aufmerksamkeit auf sich lenken, dann würde man sich wahrscheinlich nicht darum kümmern, sondern es als ein Zeichen seiner Todesangst werten. Außerdem bestand dabei die Gefahr, daß der Lärm von den anderen Derwischen gehört wurde.
In fieberhafter Eile wog Sobocan seine Möglichkeiten und Chancen gegeneinander ab, während seine Hände über das kalte Gestein tasteten. Als es ihm schließlich gelungen war, einen etwa faustgroßen Steinbrocken aus dem zum Teil unbehauenen und geröllhaltigen Fels zu lösen, umklammerten seine Finger die primitive, aber notfalls recht wirksame Waffe.
Sobocan tastete sich in die Nähe der Tür und pochte einige Male mit dem Stein dagegen.
Er hielt den Atem an. Aber nichts rührte sich.
Da klopfte er erneut gegen die Bohlen und wartete.
Plötzlich drang ein lautes Gähnen zu ihm herein. Es folgte ein scharrendes Geräusch, dann tönte eine verschlafen klingende Stimme durch die Tür.
„Was ist los? Warum klopfst du da drin?“ Die Stimme klang verärgert, als sie fortfuhr: „Das wird dir auch nicht mehr helfen, du Bastard. Hast dich wohl an die Tür geschleppt, um mir das bißchen Schlaf zu rauben, was? Wenn du keine Ruhe gibst, komm ich rein und gab dir was auf den Schädel.“
Ein glucksendes Lachen folgte, dann kehrte wieder Stille ein.
Sobocan atmete auf. Es hatte nur ein Mann gesprochen. Wahrscheinlich hatte man doch nur einen Wächter abkommandiert.
Er schlug abermals mit dem Stein gegen die Bohlen.
„Möge dich Allah verderben, du Hund!“ schnaufte es draußen. „Du gönnst wohl einem rechtschaffenen Mann nicht mal eine Mütze voll Schlaf? Nun gut, wenn du es nicht anders haben willst, dann werde ich dich eben zur Ruhe bringen, das wirst du gleich merken.“
Sobocans Herz klopfte bis zum Hals, als der schwere Eisenriegel mit einem quietschenden Geräusch zurückgeschoben wurde.
Die Tür schwang auf und ein kleines Tranlämpchen warf sein trübes Licht in das finstere Gemäuer.
In der Türöffnung erschien eine vierschrötige Gestalt, deren Körper in ein langes, helles Derwischgewand gehüllt war. Nur der hohe Hut fehlte, was wohl daran lag, daß es sich damit nicht gerade bequem schlafen ließ. Die einzige Waffe, die der Mann bei sich trug, war ein Dolch, der im Gürtel steckte. Der Bursche mußte sich ziemlich sicher fühlen, weil er den Gefangenen in Fesseln wähnte.
Sobocan hatte sich flach gegen die Mauer neben dem Eingang gedrückt. Die Hand, in der der schwere Steinbrocken lag, war bereit zum Zuschlagen.
Als der Derwisch den Gefangenen nirgends sah, reagierte er verblüfft.
„Wo bist du, du räudiger Hund?“ stieß er hervor, aber weiter gelangte er nicht.
Sobocans Hand mit dem Stein sauste nach unten – und traf.
Mit einem erstickten Laut sank der Derwisch in die Knie, aber er schien, wie Sobocan zu seinem Erstaunen feststellte, hart im Nehmen zu sein. Der Tonbehälter der Lampe war seinen Händen entglitten und am Boden zerbrochen. Für einen Augenblick bildete der brennende Talg eine Lache auf dem Steinboden und tauchte den Raum in flackerndes Licht.
Nachdem der Derwisch seinen Sturz abgefangen hatte, zuckte seine rechte Hand zum Gürtel, um den Dolch hervorzuholen. Schon blitzte die scharfe Waffe in seiner Hand auf, und er warf sich mit einer Verwünschung auf den Lippen herum, um Sobocan zu töten.
Doch diesem gelang es, den gefährlichen Hieb abzublocken. Mit eisernem Griff umklammerte er das Handgelenk des Angreifers und schmetterte die Hand mit dem Dolch gegen die Felswand. Der Derwisch stieß einen Schmerzenslaut aus, als sich seine Hand öffnete und die Waffe auf den Steinboden klirrte.
Aber er hatte sich schnell wieder gefaßt. Sein Gesicht wirkte haßverzerrt, als er das rechte Bein anwinkelte, um Sobocan mit einem Tritt aus seiner Reichweite zu befördern. Doch der junge Bursche reagierte blitzschnell. Ein zweites Mal traf der Steinbrocken den Schädel des Derwischs, und diesmal erschlaffte die hochgewachsene Gestalt. Der schwere Körper rutschte an der feuchten Mauer hinunter und schlug hart auf den Stein.
Er würde sich vorerst nicht mehr rühren.
Sobocan griff rasch nach dem Dolch des Derwischs und schob ihn in den Gürtel seiner, Segeltuchhose. Auch den Steinbrocken, der sich als brauchbare Waffe erwiesen hatte, vergaß er nicht, als er durch die Türöffnung huschte. Er schloß die Tür und schob den großen Eisenriegel vor.
Sein Atem ging keuchend, und dennoch durchströmte ihn ein Gefühl des Triumphs. Es war ihm gelungen, sich aus eigener Kraft aus dem dunklen Gewölbe zu befreien. Doch dieses wohltuende Gefühl verflüchtigte sich rasch wieder, als Sobocan erkannte, daß wohl noch ein weiter Weg vor ihm lag. Noch war er nicht lebend aus dieser Felsenmoschee heraus, und er würde äußerste Vorsicht an den Tag legen müssen, wenn er Salih und dessen Meute entrinnen wollte.
Wie ein dunkler Schatten tastete sich Sobocan den schmalen Gang entlang. Alles war still, niemand schien etwas von dem nächtlichen Zweikampf bemerkt zu haben. Nachdem er ungehindert zwei Treppen hinaufgestiegen war, befand er sich plötzlich in der Nähe eines Torbogens, der den Blick auf den Innenhof der Moschee freigab.
An einer Mauer steckten noch zwei Fackeln in ihren Metallringen. Sie brannten nur noch schwach, ihr trüber Schein tauchte den Hof in spärliches Licht. Die Glut des Feuers, das während des nächtlichen Zeremoniells gebrannt hatte, war bereits erloschen. Trotz der frischen Nachtluft, die Sobocan tief in seine Lungen sog, hing immer noch der Geruch von Weihrauch und Gewürzen über diesem gespenstischen Ort.
Einige vorsichtige Blicke überzeugten Sobocan davon, daß sich niemand im Hof aufhielt. Er beschloß deshalb, seine Ortskenntnisse auszunutzen. Schließ-lich war er vor einigen Monaten schon einmal in dieser alten Festung gewesen, als Barabin Kisten und Fässer hatte an Land schaffen lassen.
Er erinnerte sich an die verhältnismäßig niedrige Mauer, die sich vom Innenhof aus zu einem kleinen Seitenflügel der Ruine hinüberzog. Sie war die einzige Mauer, die man ohne Hilfsmittel überklettern konnte. Dort wollte Sobocan sein Glück versuchen.
Als er den Innenhof verlassen hatte, orientierte er sich mit Hilfe des fahlen Mondlichtes, das die ganze Umgebung in ein gelbliches Gewand hüllte. Ein plötzliches Rascheln ließ ihn heftig zusammenzucken, aber sein Körper entspannte sich wieder, als er den dunklen Schatten einer Ratte sah, die in einer Mauernische verschwand.
Sobocan versuchte es zunächst mit einem Klimmzug, nachdem er den Steinbrocken, der sich für seine weiteren Pläne als hinderlich erwies, aus der Hand gelegt hatte. Er rutschte zurück und versuchte es noch einmal. Diesmal schaffte er es, doch im selben Moment glaubte er, sein Herz würde stillstehen.
Ein lauter Schrei gellte durch die Nacht.
Drüben, auf jener Seite des Hofes, auf der sich die Türen befanden, die zum Hauptgebäude der Felsenmoschee führten, stand eine Gestalt und deutete zu Sobocan.
Der junge Bursche begriff augenblicklich, was das zu bedeuten hatte. Ohne weitere Zeit zu verlieren, sprang er auf der anderen Seite der Mauer hinunter und begann um sein Leben zu laufen.
Sein Weg führte einen steilen Abhang hinunter. Seine nackten Füße tasteten sich geschickt über Steine und Geröll hinweg. Als er eine schmale Schlucht passierte, durch die man die Küste erreichen konnte, hörte er, wie das Geschrei der Derwische, die die Verfolgung aufgenommen hatten, immer lauter wurde.
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