Die Sonne schaukelt mit

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Die Sonne schaukelt mit
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Frank Epple

Die Sonne schaukelt mit

Die Sonne schaukelt mit

Frank Epple

Für meine wundervollen Töchter Sofie und Luisa.

Impressum

Texte: © Copyright by Frank Epple

Druck: epubli - ein Service der neopubli GmbH,

Berlin

Urhebervermerk für das Coverbild:

carlosphotos/Shotshop.com

Kapitel 1

Ich wollte gar kein Kind haben!

Bestimmt versaut es mir mein ganzes Leben.

Alles ist gerade so perfekt: wir verreisen mehrmals im Jahr, wir haben einen großen Freundeskreis mit dem wir uns regelmäßig treffen, wir feiern die Feste wie sie fallen, wir haben eine wunderschöne, geräumige Zwei-Zimmer-Eigentumswohnung mit einem fantastischen Ausblick auf die sanften Hügel der Schwäbischen Alb, das Geld reicht dicke, wir haben zwei Autos, wir können uns alles leisten was wir wollen.

Wir sind frei und können tun und lassen was immer wir möchten.

Alles ist gut so wie es ist.

Und ausgerechnet jetzt fällt Mama ein, dass sie ein Kind will.

Ein Kind!

Wozu soll DAS denn gut sein??

Eine einfache Pro und Contra Liste zeigt doch, dass wirklich alles gegen ein Kind spricht.

Contra:

 Eingeschränkte Selbstverwirklichung

 Eingeschränkte persönliche Freiheit

 Unglaublich große Verantwortung

 Reisen nur noch in der teuersten Saison (Schulferien) möglich

 Man kann abends nicht mehr ausgehen

 Ansteckungsgefahr durch gefährliche Kinderkrankheiten

 Eingeschränktes Sexualleben

 Gewaltige Kosten für Kinderbetreuung, Kindergarten, Schule, Nachhilfe, Taschengeld, Kleidung, Nahrung, Ausbildung, Studium, Geburtstage, Konfirmation, Hochzeit, Vermögensvorsorge

 Verdienstausfall und Karriereknick bei Mama

 Eingeschränkte Mobilität

 Auto zu klein

 Wohnung zu klein

 Keine Reisen zu exotischen Zielgebieten mehr

 Man muss eklige Windeln wechseln

 Kinder sind schmutzig

 Kinder machen Krach

 In der Schule muss man sich womöglich mit bekloppten Helikoptereltern rumärgern

 Verlust von Freunden die keine Kinder haben

 Hohe nervliche Belastung durch Kinder

 Man(n) wird zum Weichei

Pro:

 Es gibt überhaupt kein Pro

Während Mama von nun an Bücher zu den Themen Schwangerschaft und Kinderkriegen liest, recherchiere ich im Internet ob es eine Pille für den Mann gibt, die ich heimlich nehmen könnte und wie man am besten impotent wird: Radfahren und Sauna lauten die Ratschläge. Gut – denke ich – mach ich.

Es vergehen Wochen und Monate des Hoffens und Bangens, allerdings mit gänzlich unterschiedlicher Motivation. Während Mama immer ungeduldiger und unglücklicher ob des ausbleibenden „Kindersegens“ wird, scheint mir noch eine Galgenfrist vergönnt zu sein.

Anscheinend bin ich aber doch zu wenig mit dem Rad gefahren und war auch nicht oft genug in der Sauna.

Mama ist schwanger.

Ich sitze friedlich in meinem Sessel und lese ein Buch, da kommt sie aufgeregt herbei gerannt und zeigt mir einen länglichen Stab auf dem ein „Plus“ zu sehen ist.

Schwanger! Sie überglücklich, strahlend und vollkommen begeistert. Doch meine Welt bricht zusammen: nie wieder verreisen, kein abendliches Ausgehen mehr, deutliche Reduzierung unseres Einkommens, unsere tolle Wohnung schon bald zu klein, Freunde (Freude) ade.

Ab jetzt droht mir: Gebrüll, Windelwechseln, kein Sex mehr, Kind füttern, Kind in der Gegend rumschieben, Kind, Kind, Kind…

Und ich spiele nur noch die zweite Geige!

Was bitte soll denn daran toll sein?

Kapitel 2

Die Schwangerschaft schreitet voran und Mama möchte, dass ich sie zur Frauenärztin begleite. Gut, denke ich. Es ist immer besser seinen Gegner zu kennen.

Im Wartezimmer befindet sich eine große Tafel mit ca. 100 Babybildern. Mama erklärt mir, dass es sich dabei um Dankeskarten von glücklichen Eltern handelt. Glückliche Eltern? Wohl eher arme Pechvögel. Ich werfe mäßig interessiert einen Blick auf die Tafel mit den Quälgeistern. Moment mal. Das ist doch… Das ist doch immer dasselbe Baby?! Ich trete näher heran. Ja, das ist immer das gleiche Baby in unterschiedlichen Klamotten.

Ich teile Mama meine Entdeckung mit und wundere mich lautstark darüber. Die anderen Schwangeren schauen mich pikiert an. Mama zerrt mich von der Tafel weg. Langsam dämmert es mir: es sind lauter verschiedene Babys, die sehen nur alle völlig gleich aus: klein, hässlich, rot und irgendwie wurstig.

Ganz offensichtlich kommen die Kinder unfertig zur Welt und müssen dann erst noch ein ganzes Weilchen nachreifen. Vielleicht hätte ich in Biologie doch ein bisschen besser aufpassen sollen…

Im Behandlungszimmer wird bei Mama eine Ultraschalluntersuchung durchgeführt.

Erstaunt betrachte ich die aufwändige und teure Ausrüstung und wundere mich über den gewaltigen Aufwand der hier offensichtlich nur wegen der Kinder betrieben wird.

Mamas Bauch wird mit einer Art durchsichtigem Motorenöl eingerieben und mit einer drahtgebunden Maus abgetastet.

Während sich die Frauenärztin und Mama rege über Köpfchen, Ärmchen und Beinchen unterhalten, betrachte ich fassungslos das pixelige und technisch wenig anspruchsvolle Bild welches sich mir bietet.

Also ich erkenne gar nichts. Könnte auch das Satellitenbild eines Tiefdruckgebiets sein. Oder ein halbverdautes Salamibrot. Vielleicht habe ich ja Glück und es ist gar kein Kind drin.

Nein, Pech gehabt, die Frauenärztin bestätigt meine schlimmsten Befürchtungen: es ist doch ein Kind. Das Geschlecht lässt sich noch nicht bestimmen.

Der Einfachheit halber nennen wir dich vorläufig Willi, als Projektname sozusagen. Das klingt wenigstens nett.

Kapitel 3

Die Tatsache dass wir Eltern werden, lässt sich nun nicht mehr leugnen. Also bereite ich mich bestmöglich mental auf das zu erwartende, schreckliche Ereignis vor.

Da ich seit Jahrzehnten Sport treibe, weiß ich, wie wichtig diese Art der geistigen Vorbereitung ist.

Also überlege ich, was ähnlich schrecklich sein könnte und mit eben so großen Einschränkungen verbunden ist.

Klar! Ein achtzehnjähriger Gefängnisaufenthalt. Ich bin eingesperrt, andere bestimmen über mich. Ich muss Dinge tun, die ich nicht tun will. Bekomme Essen vorgesetzt, dass ich nicht mag. Kann meine Freunde nicht mehr treffen wann ich will.

Mit einem Wort: ich bin nicht mehr Herr über mein Leben.

Schlimmer kann es eigentlich nicht kommen.... denke ich...

Nebenbei befasse ich mich mit der Frage, welches Geschlecht das Kind am besten haben soll. Da ich selbst ein echtes Scheiß-Kind war, das schwächere Kinder

quälte und vor Stärkeren Angst hatte und nebenbei

auch noch meine armen Eltern beinahe in den Wahnsinn trieb mit meinen nicht endend wollenden Frechheiten, ist die Wahl einfach: ein Mädchen soll es sein.

Außerdem hat Mamas Schwester auch ein Mädchen und das habe ich schon mal einen ganzen Nachmittag lang ertragen können ohne dass ich einen Nervenzusammenbruch erlitten habe.

Während Mama sich Fachkenntnisse im Umgang mit Säuglingen aneignet, versuche ich lieber nicht so oft an das kommende, schreckliche Ereignis zu denken. Das gelingt mir anfangs noch ganz gut, wird aber mit Mamas zunehmendem Bauchumfang deutlich schwieriger. Zum Glück liegt unsere Wohnung im dritten Stock, da bleibt Mama durch das viele Treppensteigen wenigstens gut im Training. Ab Juli wird sie allerdings etwas kurzatmiger und braucht auch ein bisschen länger als früher.

Aus irgendeinem Grund, den ich vergessen habe, wird bei Mama eine Fruchtwasseruntersuchung durchgeführt. Dabei wird eine Nadel durch die Bauchdecke gestochen und Fruchtwasser entnommen. Die Untersuchung wird von zwei Ärzten durchgeführt: der eine

hantiert mit der Nadel und der andere behält das

Ungeborene im Auge, damit es der Nadel nicht zu nahe kommt. Dabei stellt sich heraus, dass du ein Mädchen bist. Gott sei Dank – kein Junge. Wenigstens dieser Kelch geht an mir vorüber.

Mama trägt jetzt seltsame Hosen mit Stretcheinsatz am Bauch und zeltartige Kleider. Ich behalte diese Erkenntnisse für mich und behaupte standhaft, dass sie immer noch wunderschön ist.

Wenn ich Mama im Stehen in den Arm nehmen will, dann muss ich dies in einem für mich unbequemen Winkel tun. Unsere Zehenspitzen sind dabei ca. 35cm auseinander, dafür berühren wir uns am Bauch. Die Szene erinnert mich an mittelalterliche Häuser: die sind unten auch weit voneinander entfernt und nähern sich weiter oben immer mehr aneinander an, bis sich die Giebel beinahe berühren.

Kapitel 4

Ende August 2005 erklärt mir Mama dass wir jetzt ins Krankenhaus müssen. „Wieso das denn?“ frage ich völlig überrascht. „Geht’s dir nicht gut?“ Das Kind kommt jetzt, also los.

Im Krankenhaus angekommen, schleppe ich Mama in den Fahrstuhl und versuche herauszufinden, wo wir hin müssen. Im Aufzug ist ein Schild mit den verschiedenen Stationen angebracht und wie jeder normale Mensch beginne ich oben links zu lesen. Da steht irgendwas mit „Kinder“. Also ab ins oberste Stockwerk. Dort eingetroffen, stellen wir fest, dass es sich hier um die Kinderstation handelt. Dort werden Kinder behandelt aber nicht geboren, so erfahre ich.

Also zurück in den Fahrstuhl und nochmal das Schild studieren. Tatsächlich, ganz unten steht klitzeklein „Kreißsaal“ – da müssen wir hin.

 

Eine Krankenschwester im weißen Kittel nimmt uns routiniert in Empfang und geleitet Mama und mich in einen Raum der „Wehenzimmer“ heißt.

Dieser Raum dient praktisch als Wartezimmer für den

Kreißsaal. Dort muss man solange warten, bis die Schwester oder der Arzt der Meinung ist, dass die Geburt nun unmittelbar bevorsteht.

Die Krankenschwester blickt mich skeptisch an und sagt „Ich muss Ihrer Frau jetzt einen Zugang legen!“ Ich zucke mit den Schultern. Na und? Ich bin seit über zwanzig Jahren Feuerwehrmann – kampf- und einsatzerprobt, habe schon Verletzungen aller Art gesehen. Mich wirft nichts so leicht um.

Die Dame in weiß sticht mit einer langen Hohlnadel in Mamas Vene in der rechten Armbeuge. Mir wird ganz schwindelig, Tunnelblick, Rauschen in den Ohren, wackelige Knie – alles Anzeichen einer kurz bevorstehenden Ohnmacht. Ich gehe in die Hocke und konzentriere mich darauf, nicht das Bewusstsein zu verlieren.

Geschafft! Schon nach wenigen Sekunden bin ich wieder Herr meiner Sinne und erhebe mich mit zitternden Beinen. Die Krankenschwester schaut mich schon wieder skeptisch an und erzählt mir was von Männern, die keine große Hilfe sind, weil sie dauernd in Ohnmacht fallen.

Keine Ahnung was sie damit sagen will.

Kurze Zeit später wird Mama in den Kreißsaal geschoben, ich wanke hinterher.

Welches Gesetz besagt eigentlich, dass Männer bei der Geburt dabei sein müssen? Mein Vater musste das jedenfalls nicht, der kam erst danach und brachte meiner Mutter siebzehn Rosen. Heutzutage wird das aber anscheinend erwartet und ich wurde auch nicht lange gefragt ob ich will oder nicht. Ich musste mit.

Nachdem Mama mir während der Geburt beinahe die Hand zerquetscht hat, bist du plötzlich da.

Du siehst genauso aus wie die Babys auf den Bildern im Wartezimmer der Frauenärztin. Ich schaue dich nochmal genauer an. Nein, kein Zweifel du bist nicht anders: ziemlich klein, ziemlich rot und ziemlich kleiner Mund. Du siehst aus wie eine rote, verschrumpelte Wurst.

Deine Augen sind zu, ich kann also deine Augenfarbe nicht erkennen. Später erfahre ich, dass sich die sowieso noch im Laufe der Zeit verändert.

Ich habe noch eine Galgenfrist von drei Tagen, dann werdet ihr beiden aus dem Krankenhaus entlassen.

Wir nennen dich Sofie und von jetzt an habe ich dich an der Backe!

Kapitel 5

Ich stelle fest, dass meine Art der Vorbereitung unzureichend war. Bei meinem mentalen Training hatte ich mir vorgestellt, dass ich 18 Jahre ins Gefängnis müsste und hielt dies für eine vergleichbar schlimme Situation. Ich hatte aber nicht in Betracht gezogen, dass du nachts schreien könntest. Schlafentzug! Schlimmer als Knast!

Ich finde jetzt ist ein guter Zeitpunkt, um mit Mama darüber zu verhandeln, dass wir keine weiteren Kinder brauchen und dass ein Sprössling völlig ausreichend ist. Mama stimmt mir leider nicht zu und hält es für denkbar, dass ein weiteres Kind notwendig sein könnte.

Wir beschließen, dass du nicht bei uns im Bett schlafen darfst. Du sollst in deinem eigenen Bett schlafen. Wir halten das für eine kluge und vernünftige Entscheidung. Du bist anderer Ansicht und brüllst so lange rum, bis wir dich in unser Bett holen. Zwischen uns liegend schläfst du schon bald friedlich ein. Unser guter Vorsatz hat exakt eine Viertelnacht lang gehalten.

Ich erkenne, dass du deine eigene Art hast deinen Willen durchzusetzen.

Kaum dass ihr beiden aus dem Krankenhaus nach Hause gekommen seid, setzt bei uns ein ungewohnter Besucherstrom ein. Alle wollen dich sehen. Ich weiß gar nicht warum, denn ich bin nach wie vor der Meinung, dass alle Babys gleich aussehen.

Wie dem auch sei, jetzt habe ich nicht nur ein Kind in der Wohnung, sondern auch noch die komplette Verwandtschaft, die mir so sehr am Herzen liegt.

Ganz toll.

Dabei fällt mir auf, dass die Frauen die uns besuchen, mit seltsam hoher Stimme zu dir sprechen und / oder dabei auch noch unverständliche Grunz- und Schmatzlaute von sich geben.

Ich nehme mir vor, nicht wie ein Idiot mit dir zu sprechen, sondern wie mit einem ganz normalen Menschen.

Wenn mal glücklicherweise keine Besucher unser Domizil unsicher machen, nehme ich dich ab und zu aus deinem Stubenwagen – das ist ein 70 cm langer Wäschekorb aus geflochtenen Weidenstäben mit einem Stoffdach oben drauf und Rädern unten dran. Damit schiebt man Säuglinge in der Wohnung rum, ein Kinderwagen für drinnen sozusagen – und lege dich auf meinen Bauch. Du schläfst tagsüber sehr viel, sogar noch mehr als ich, nur dass du dafür nicht von Mama geschimpft wirst.

Ich weiß nicht warum, aber es ist schön wenn du friedlich schlummernd auf mir rumliegst.

Kaum ist der 1. Advent, holt Mama auch schon die Kerzen raus und verpestet damit die Luft bei uns. Wenigstens konnte ich ihr die Übelkeit erregenden „Duft“kerzen ausreden.

Du bist ausnahmsweise mal wach und ich nutze die Gelegenheit und zeige dir eine brennende Kerze. Deine Reaktion ist bemerkenswert: Du starrst die Kerze fasziniert acht Minuten lang an. Dabei läuft dir ein Speichelfaden aus dem Mund.

Auch unser Aquarium erfüllt dich mit grenzenlosem Staunen und ich kenne niemanden, der mit solcher Ausdauer unsere Fische bestaunt.

Weniger sympathisch ist der Geruch vollgekackter Windeln. Ich ignoriere ihn so lange als möglich in der Hoffnung, dass Mama sich deiner annimmt. Meistens klappt das. Dafür riecht es in unserem Bad jetzt immer wie in einer Kläranlage. Sehr lecker – vor allem morgens direkt nach dem Aufstehen.

Übrigens haben wir uns extra einen Windelabfalleimer angeschafft, der durch ein ausgeklügeltes System angeblich in der Lage sein soll, Gerüche von Windeln zu absorbieren. Das Ding funktioniert nicht und wir könnten deine Stinkbomben genauso gut einfach in den

Mülleimer schmeißen!

Mama stillt dich. Wenn dieses friedliche und beschauliche Prozedere vorüber ist, nimmt sie dich auf den Arm, trägt dich in der Gegend herum und klopft dir dabei auf den Rücken. Davon musst du rülpsen. Mama nennt das „ein Bäuerchen machen“. Nachdem du das gemacht hast, wirst du fürs Rülpsen gelobt.

Moment mal! Man darf jetzt in Mamas Gegenwart laut aufstoßen?

Begeistert mache ich mit und lasse einen röhrenden Rülpser. Das erwartete Lob bleibt allerdings aus und Mama wirft mir einen sehr missbilligenden Blick zu.

Anscheinend gelten für dich und mich unterschiedliche Regeln.

Dein erstes Weihnachten verpennst du zu ungefähr 90%. Während wir auf das Festmahl warten, hält Mama es für eine gute Idee, dass ich mit dir eine Runde drehen soll. Sie packt dich schlafend in den Kinderwagen und übergibt dich mir. Dabei erteilt sie mir detaillierte Instruktionen für den Umgang mit diesem Gefährt. Gemütlich schlendere ich los und schiebe dich vor mir her. Du wartest ab, bis wir möglichst weit von unserem Ausgangspunkt entfernt sind. Dann hälst du den Zeitpunkt für geeignet und wachst auf. Leider hast du Hunger und tust dies lautstark kund.

Da ich nicht weiß, wie lange Babys ohne Nahrungsaufnahme überleben können, haste ich so schnell als möglich zurück zu Mama.

Bestimmt mache ich dabei eine sehr gute Figur: ein hektisch rennender Papa, der ein brüllendes Kind im Kinderwagen vor sich herschiebt…

Die mitleidigen Blicke ignoriere ich geflissentlich.

Kurz nach Weihnachten machst du mir das schönste Geschenk: du schläfst jetzt durch!

Ungefähr vier Monate lang hast du uns jede Nacht ein- oder zweimal geweckt. Das war schon ziemlich unfreundlich von dir.

Im Nachhinein erfahre ich, dass das völlig normal ist und dass es sogar Kinder gibt, die noch viel länger und auch viel öfters des Nachts ihre armen Eltern stören. Diese bemitleidenswerten Paare erkennt man daran, dass sie mit ihren blutunterlaufenen Augen wie aus einem Horrorfilm entlaufen aussehen.

Im neuen Jahr geht Mama mit dir in eine Krabbelgruppe. Das ist eine Veranstaltung zu der Mütter hingehen, um sich in Ruhe unterhalten zu können. Ihre Kinder legen sie beiseite, in der Hoffnung dass sie schlafen und sie nicht stören. Mama zeigt mir Bilder des ersten Treffens. Ich versuche herauszufinden, welches der Kinder du bist.

Nach mehreren Fehlversuchen gibt mir Mama entnervt einen Tipp.

Ja klar, warum bin ich da nicht gleich drauf gekommen:

bei 9 Babys ist die Wahrscheinlichkeit eines Treffers 1:9. Zum Glück muss ich da nicht hin, denn ich würde garantiert mit dem falschen Kind heimkommen oder ich müsste so lange warten, bis alle anderen Babys eingepackt wurden und dann eben das übriggebliebene Baby mitnehmen.

Im März lernst du krabbeln. Das sieht ziemlich lustig aus. Mama nennt dich jetzt „Käfer“. Ich nenne dich „Stinkbombe“. Dir ist es egal wie man dich nennt.

Im April ist deine Taufe. Dabei gießt der Pfarrer dir Wasser über die Birne und murmelt Gebete. Eigentlich hätte er auch gleich deine Haare waschen können, aber dafür muss man wahrscheinlich extra zahlen.

Die ganze Verwandtschaft ist zu dem Fest eingeladen.

Es ist übrigens das erste von vielen, vielen Festen, die wir aufgrund deiner Anwesenheit feiern müssen und bei der jeweils die komplette Sippschaft zu uns kommt, verköstigt werden möchte und als Dank dafür unsere Wohnung in einem beklagenswerten Zustand hinterlässt.

Ich schlage Mama vor, dass wir unser Domizil nach dem Fest reinigen sollten, wenn die Störenfriede

wieder abgezogen sind und ihren Schmutz hinterlassen haben, aber leider ist Mama anderer Ansicht. Folglich müssen wir vor und nach dem Fest eine gründliche Wohnungs-

reinigung durchführen.

Anfang Mai sagst du dein erstes Wort: „Mama“. Danach folgen noch ein paar andere „Wörter“ die wir leider nicht verstehen, aber zwei Wochen später sagst du „Papa“ zu mir. Zwei Silben. Eigentlich bin ich erst ab jetzt ein richtiger Papa, nachdem du mich so genannt hast.

Nachdem du diese erste Sprachhürde gemeistert hast, folgen weitere Wortschöpfungen:

Handsund = Eine Kombination aus „Gesundheit“ und „Hand vor den Mund!“

Lammbamm = langsam

Märle = Märchen

Oggowo = irgendwo

Latello = Nutella

Faltaboge = falsch abgebogen

Labelle = Libelle

Metterlie = Schmetterling

Abapo = apropos

Es ist nicht immer einfach zu verstehen, was du uns sagen möchtest, aber wir geben uns Mühe und lernen schnell dazu.

Ende Mai geht es in den ersten gemeinsamen Urlaub nach Bayern. Früher haben wir Reisen nach Namibia, Brasilien und Florida unternommen, heute reisen wir nach Bayern…

Bei den kurzen Wanderungen die wir unternehmen,

erkenne ich, dass es einen Unterschied macht ob man mit oder ohne Kinderwagen unterwegs ist und dass es Wege gibt, die kinderwagengeeignet sind und solche die es nicht sind. Also trägt Mama dich und ich den Kinderwagen.

Beim abendlichen Essen im Restaurant kommst du aus dem Staunen nicht heraus: Mama und ich werden von fremdem Leuten bedient. Das bist du nicht gewöhnt und das Essen zieht sich entsprechend in die Länge, weil du nicht nur die Kellnerinnen genauestens betrachtest, sondern alle Personen die sich im Restaurant aufhalten.

Auf der Fahrt zurück nach Hause finden wir heraus, dass es um München herum keine Rastplätze gibt. Du hast aber Hunger und tust dies mal wieder lautstark kund. Also nehmen wir irgendeine Autobahnausfahrt und füttern dich am Straßenrand.

Im Juni lernst du stehen und laufen. Ab jetzt sind deinem Erkundungsdrang fast keine Grenze mehr gesetzt. Beim Laufen benützt du uns als Gehhilfe: wir müssen

dabei in stark gebückter Haltung hinter dir herwatscheln, während du dich mit beiden Händen an uns fest hälst. Das ist zwar nicht gerade rückenschonend, aber dafür macht es Spaß mit dir zusammen die Welt zu entdecken.

Im Juli erlebst du dein erstes Grillfest im Garten meiner Kusine. Du bist der absolute Mittelpunkt. Zumindest so lange bis das Essen fertig ist, dann kümmert sich Mama wieder alleine um dich.

In dem Garten befindet sich ein Teich, der dich magisch anzieht. Leider sind die Kinder meiner Kusine schon erwachsen und daher ist der Teich nicht kindgerecht abgesichert. Wir machen die Erfahrung, dass es besser ist, wenn man immer Kinderklamotten zum Wechseln dabei hat.

August: dein erster Geburtstag! Unsere Wohnung platzt aus allen Nähten. Die komplette Verwandtschaft beehrt uns mit ihrer Anwesenheit. ALLE sind da!

Als sie spätabends endlich weg sind und ich wieder einen klaren Gedanken fassen kann, ist es an der Zeit ein Resümee zu ziehen: Seit einem Jahr bist du bei uns und hast unser Leben komplett auf den Kopf gestellt. Alles was davor wichtig war, erscheint uns nun nicht mehr so wichtig. Ich verbringe gerne Zeit mit dir und erfreue mich an deinem Staunen und an deinem Forscherdrang.

 

Du gibst niemals auf: selbst wenn es dich eine halbe Stunde kostet, bis du herausgefunden hast wie ein neues Spielzeug funktioniert.

Du kannst dich eine volle Stunde damit beschäftigen, die unteren Schubladen in der Küche auszuräumen und sitzt konzentriert dabei auf dem Boden, die Welt um dich herum komplett vergessen.

Alles an dir ist echt: du kannst uns noch nichts vormachen und in deinem Gesicht können wir lesen wie in einem offenen Buch: Freude, Angst, Staunen und Erkenntnis.

Alles Neue fasziniert dich und davon gibt es eine ganze Menge.

Zum Beispiel als wir im September zum ersten Mal mit dir den Zoo besuchen. Tiergehege an denen Mama und ich achtlos vorübergegangen wären, betrachtest du minutenlang. Jedes Tier fasziniert dich. Fische, Robben, Giraffen, Löwen, Flusspferde, aber auch Hühner, Schweine und Kühe. Alles ist neu und noch nie gesehen!

Du gibst uns die Möglichkeit, die Welt noch einmal mit Kinderaugen zu sehen.

Der Herbst hält Einzug und wir verkrümeln uns in unsere Wohnung. Wir sitzen oft nebeneinander in unserem Lieblingssessel und schauen zusammen

Kinderbücher an. Du hast Dutzende davon, aber meistens willst du immer dasselbe vorgelesen bekommen. Ich kenne es mittlerweile auswendig und kann den Text herunterbeten.

Es ist zwar schon dein zweites Weihnachtsfest, aber das erste welches du bewusst miterlebst. Staunend wie immer schaust du zu, wie Mama unsere Wohnung weihnachtlich dekoriert und versuchst so gut du kannst zu helfen.

Einen Weihnachtsbaum haben wir zwar nicht, aber eine Weihnachtstreppe. Das ist eine Bockleiter aus Holz, die Mama mit goldener Farbe angemalt hat und auf allen gegenüberliegenden Stufen liegt quer ein Brett, so dass genügend Platz für Dekokram und Geschenke ist.

Diese Konstruktion hat es dir ganz besonders angetan und du bestaunst sie ausgiebig.

Nach einer Weile räumt Mama die beiden unteren Bretter wieder ab, da du den Krempel, der darauf steht ständig in der ganzen Wohnung verteilst.

Beim gemeinsamen Singen in Omas Guter Stube wunderst du dich über meine misstönende Stimme und krähst die Weihnachtslieder fröhlich mit.

Weihnachten mit dir ist ein Erlebnis.

Ohne Kinder ist Weihnachten ein ständig wiederkehrendes und etwas langweiliges Ritual: man isst zusammen, man beschenkt sich gegenseitig, man redet miteinander und manchmal singt man vielleicht sogar miteinander.

Mit dir dagegen ist die Weihnachtszeit etwas ganz Besonderes: die ganzen Rituale und Traditionen sind neu für dich. Die weihnachtliche Stimmung scheint dir gut zu gefallen und durch dich können wir Weihnachten noch einmal durch Kinderaugen sehen. Es ist wie eine Zeitreise zurück in unsere eigene Kindheit, als Weihnachten nicht nur Einkaufen und Stress bedeutete, sondern das tollste Ereignis des Jahres war, auf das

wir uns wochenlang wie verrückt gefreut haben und die Zeit bis dahin konnte für uns nicht schnell genug vergehen.

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