Denn das Blut ist das Leben

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Denn das Blut ist das Leben
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Francis Marion Crawford

Denn das Blut ist das Leben

und andere Geschichten

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Inhaltsverzeichnis

Titel

Einleitung: Francis Marion Crawford – Leben und Werk

Die obere Koje

Denn das Blut ist das Leben

Der kreischende Schädel

Der Puppengeist

Impressum neobooks

Einleitung: Francis Marion Crawford – Leben und Werk

Er zählte zu den meistgelesenen amerikanischen Schriftstellern seiner Zeit; heutzutage sind seine Romane weitgehend vergessen. Doch Kennern der Fantastik ist sein Name immer noch geläufig und seine Horrorgeschichten gelten mittlerweile als Klassiker des Genres.

Francis Marion Crawford wurde am 2. August 1854 im italienischen Bagni di Lucca geboren. Ein starker künstlerischer Zug prägte die Familie: sein Vater Thomas Crawford war Bildhauer (ein Schüler Thorvaldsens), seine Tante Julia Howe Ward eine prominente Dichterin und Frauenrechtlerin. Auch zwei seiner Schwestern – Mary Crawford Fraser und Anne Crawford von Rabe – sowie die beiden Cousinen Laura Elizabeth und Maud Howe erlangten als Autorinnen Bekanntheit.

Thomas Crawford starb, als sein Sohn erst drei Jahre alt war. Die Familie blieb zunächst in Rom, wo Francis Marion seine Schullaufbahn begann; weitere Stationen seiner schulischen und universitären Ausbildung waren die USA, England und Deutschland. 1879 ging Crawford nach Indien, um dort Sanskrit zu studieren. Nachdem er in Europa und Amerika bereits ein wenig journalistisch gearbeitet hatte, wurde er in Allahabad Herausgeber des Indian Herald, aber bereits nach einem Jahr gab er im Streit mit dem Besitzer der Zeitung die Stelle wieder auf. Crawford kehrte in die USA zurück, setzte seine Gelegenheitsarbeiten im Journalismus fort, scheiterte mit dem Plan, Lehrer für Sanskrit zu werden, und musste auch die Idee, eine Karriere als professioneller Sänger zu starten, aufgeben. Unschlüssig über seinen weiteren Lebensweg (er überlegte sogar, in die Politik zu gehen), ließ er sich von seinem Onkel den Rat geben, doch ein Buch über seine Erlebnisse in Indien zu schreiben. Der Anregung folgend verfasste er in rasantem Tempo seinen ersten Roman Mr. Isaacs: A Tale of Modern India (1882) und erzielte damit gleich hohen Zuspruch beim Lesepublikum. Es folgten über 40 weitere Romane und einige andere Werke, beispielsweise Sachbücher zur Geschichte Roms oder ein Theaterstück für Sarah Bernhardt (mit ihr 1902 in Paris uraufgeführt).

Entgegen dem Trend seiner Zeit zu Naturalismus und psychologischer Analyse strebte Crawford eine Verbindung von „realistischen“ und „romantischen“ Elementen an. Seine Romane (er nannte sie auch „Taschentheater“) sollten in erster Linie unterhaltsam sein – mit spannenden, mitunter abenteuerlichen Handlungen, sympathischen Protagonisten und keiner Scheu vor Melodramatik -, das aber in intelligenten, fein abgewogenen Kompositionen. Crawfords Stärken liegen vornehmlich in packenden Schilderungen und der Fähigkeit, den Plot (mag der an sich auch nicht bemerkenswert sein) souverän fließen zu lassen. Mit wenigen Strichen evoziert er plastische Szenerien, ohne sich in Details zu verlieren, und sein Stil erreicht immer wieder eine hohe Poesie. Geschätzt hat das Publikum vor allem seine an „exotischen“ Schauplätzen spielenden Geschichten, beispielsweise die vierbändige Saracinesca-Reihe (1887-1897), die das Schicksal einer zeitgenössischen römischen Familie über zwei Generationen schildert. (Der letzte Band, Corleone, greift als eines der ersten literarischen Werke überhaupt das Thema „Mafia“ auf.) Dagegen erwiesen sich Crawfords in den USA angesiedelten Romane als weniger erfolgreich. Insgesamt aber fanden seine Werke großen Beifall, wenn auch nicht immer von der literarischen Kritik; doch auch die schärfsten Kritiker mussten widerwillig sein erzählerisches Talent anerkennen.

Der anhaltende finanzielle Erfolg ermöglichte Crawford zahlreiche Reisen und einen generell aufwendigen, geradezu aristokratischen Lebensstil. 1887 schließlich, inzwischen verheiratet und Vater zweier Kinder, kaufte er in der Nähe von Sorrent (am Golf von Neapel) eine Villa, um sich dauerhaft niederzulassen. Am Karfreitag (9.April) 1909 starb er dort an den Spätfolgen eines Gasunfalls, den er fast ein Jahrzehnt zuvor bei der Besichtigung eines Glasschmelz-Werkes in Colorado erlitten hatte. (Der Besuch hatte der Recherche für einen Roman gedient.) Nach seinem Tod nahm Crawfords Popularität rasch ab. Die neue Zeit fand nicht mehr recht Geschmack an seinen Werken, die aus einer optimistischeren Epoche stammten. Mag sein, dass den Lesern seine Helden nun ein Stück zu idealisiert waren; mag sein, dass der ebenso zuversichtliche wie kosmopolitische Geist seiner Romane einer durch den Ersten Weltkrieg erschütterten Gesellschaft bestenfalls antiquiert erschien – jedenfalls geriet Crawford fast gänzlich ins Vergessen. Allein der „fantastische“ Teil seines Oeuvres sicherte sein literarisches Überleben.

Zumindest fantastische Versatzstücke tauchen in einigen seiner Romane auf, etwa indischer Mystizismus in seinem Debüt oder religiöse Wundererscheinungen in dem pseudo-historischen Zoroaster (1885). Khaled: A Tale of Arabia (1891), Crawfords Favorit unter den eigenen Büchern, erzählt die Geschichte eines Dschinns, der einen sterblichen Körper erhält, aber um auch eine unsterbliche Seele zu empfangen, die Liebe der Königstochter Zehowa gewinnen muss. Freilich enthält der Roman, der vor allem durch seine poetische Sprache fesselt, abgesehen von dieser Ausgangslage keine weiteren übernatürlichen Elemente. Allein The Witch of Prague (Die Hexe von Prag, ebenfalls 1891), in dem Crawford das Modethema „Hypnotismus“ aufnimmt, bietet durchgehende Fantastik. Leider weist der Roman ebenfalls zahlreiche überlange Dialoge und monologische Reflexionen auf, was ihn, ganz untypisch für ein Crawford-Werk, zu einer eher mühsamen Lektüre macht. Aber es sind ohnehin nicht die (mehr oder weniger) fantastischen Romane, die den Zahn der Zeit überdauert haben (obgleich Khaled es Anfang der 1970er Jahre in Lin Carters bekannte Ballantine Adult Fantasy-Serie schaffte), sondern seine Handvoll Horrorgeschichten, bezeichnenderweise der wohl „dunkelste“ Teil seines Schaffens.

Crawford selbst scheint ihnen keine große Bedeutung beigemessen zu haben. Das wenige, was er in diesem Genre schrieb, erschien in gesammelter Form erst posthum 1911, in den USA unter dem Titel Wandering Ghosts, in Großbritannien als Uncanny Tales. (Dabei wurde eine Erzählung, nämlich „The King's Messenger“ von 1907, komplett übersehen.) Es dauerte bis in die 1990er Jahre, ehe es zu einer vollständigen Neuauflage kam, aber einzelne der Stories waren auch zuvor immer wieder in Anthologien aufgenommen worden und hatten so Crawfords Namen nie ganz in Vergessenheit geraten lassen.

Eine komplette deutsche Ausgabe der Wandering Ghosts harrt immer noch der Veröffentlichung. Vorliegende Auswahl präsentiert mit vier der ursprünglich sieben (mit „The King's Messenger“ acht) Geschichten etwa die Hälfte der Sammlung (der andere Teil ist in Vorbereitung). Den Auftakt macht „Die obere Koje“ („The Upper Berth“, 1886), vielleicht die bekannteste fantastische Erzählung des Autors, nicht zuletzt weil H.P. Lovecraft sie als dessen „Meisterwerk und eine der eindrucksvollsten Horrorgeschichten in der Literatur überhaupt“ rühmte. Auch „Denn das Blut ist das Leben“ („For the Blood is the Life“, 1905) zählt zu Crawfords prominentesten Erzählungen. Das ist nicht allein dem starken Titel geschuldet, sondern auch der meisterhaften Skizzierung des ebenso harschen wie pittoresken süditalienischen Schauplatzes und den annähernd lyrischen Passagen dieser düster-romantischen Vampirgeschichte. „Der kreischende Schädel“ („The Screaming Skull“, 1908) – eine eindringliche Warnung vor dem allzu sorglosen Umgang mit makaberen Anekdoten - wurde dagegen weniger beachtet, muss sich aber nicht zuletzt dank des raffiniert inszenierten Schwankens des Protagonisten zwischen Akzeptanz und Leugnung der ihn heimsuchenden übernatürlichen Ereignissen keineswegs hinter ihren Schwestern verstecken. Den Abschluss bildet „Der Puppengeist“ („The Doll's Ghost“). Es ist, das sei zugegeben, eine durchaus rührselige Geschichte, doch wie so oft, wenn Crawford sich auf solches Terrain wagt, versteht er es hier, das Sentimentale mit sanfter Ironie zu ergänzen und abzuschwächen. Und in dem virtuosen Spannungsaufbau beweist sich Crawford einmal mehr als begnadeter Erzähler, der längst auch dem deutschen Leser ins Gedächtnis zurückgerufen zu werden verdient.

Thomas Jeenicke

Die obere Koje

Kapitel I

Jemand fragte nach Zigarren. Wir hatten lange geredet und die Unterhaltung begann zu stagnieren. Der Tabakrauch hing in den schweren Vorhängen, der Wein war in die Köpfe gestiegen, die dazu neigen, schwer zu werden, und es war bereits sicher abzusehen, dass, wenn niemand etwas unternähme, unsere niedergedrückte Stimmung zu heben, unser Treffen bald an sein natürliches Ende käme, und wir, die Gäste, würden nach Hause eilen, um ins Bett und höchstwahrscheinlich in den Schlaf zu fallen. Niemand hatte irgendetwas Bemerkenswertes gesagt; gut möglich, dass niemand etwas Bemerkenswertes zu sagen hatte. Jones hatte uns jede Einzelheit seines jüngsten Jagdabenteuers in Yorkshire erzählt. Mr. Tompkins, aus Bosten, erklärte in ausführlicher Länge die Arbeitsgrundsätze, durch deren genaue und gewissenhafte Befolgung die „Atchison, Topeka und Santa Fé“- Eisenbahn nicht nur ihr Territorium erweitert, ihren politischen Einfluss vergrößert und lebendes Vieh transportiert, ohne es einen Tag vor dem tatsächlichen Liefertermin verhungern zu lassen, sondern auch seit Jahren erfolgreich diejenigen Passagiere täuscht, die ihre Fahrkarten gekauft haben in dem trügerischen Glauben, dass genanntes Unternehmen wirklich menschliches Leben transportieren könne, ohne es zu zerstören. Signor Tombola nahm es auf sich, uns zu überzeugen, mit Argumenten, die zu widerlegen wir uns nicht bemühten, dass die Einheit seines Landes keineswegs der eines durchschnittlichen modernen Torpedos glich, sorgfältig geplant, konstruiert mit all dem Geschick der größten europäischen Arsenale, aber, sobald fertiggestellt, dazu bestimmt, durch kraftlose Hände auf ein Gebiet gerichtet zu werden, wo es zweifelsohne explodieren würde, unbemerkt, ungefürchtet, ungehört, hinein in das unermessliche Ödland des politischen Chaos.

 

Es ist nicht notwendig, weiter ins Detail zu gehen. Die Unterhaltung hatte Ausmaße erreicht, die Prometheus an seinem Felsen gelangweilt, die Tantalus in den Wahnsinn getrieben und die Ixion dazu gebracht hätten, lieber Erleichterung in den einfältigen, aber lehrreichen Dialogen des Herrn Ollendorff zu suchen, anstatt sich dem größeren Übel unseres Gesprächs auszusetzen.

Jemand fragte nach Zigarren. Instinktiv schauten wir alle zu dem Sprecher. Brisbane war ein Mann von fünfunddreißig Jahren und auffallend durch jene Gaben, die vornehmlich die Aufmerksamkeit von Männern anziehen. Er war ein kräftiger Mann. Dabei boten die äußeren Proportionen seiner Gestalt dem gewöhnlichen Auge gar nichts besonderes, wenngleich seine Größe überdurchschnittlich war. Er maß etwas über sechs Fuß, mit normaler Schulterbreite. Er sah nicht stämmig aus, aber andererseits war er gewiss nicht dünn. Sein kleiner Kopf wurde von einem kräftigen und sehnigen Hals gestützt; seine breiten, muskulösen Hände schienen eine besondere Gabe zu haben, Walnüsse zu öffnen ohne die Hilfe eines gewöhnlichen Nussknackers; und wenn man ihn im Profil sah, kam man nicht umhin, die außergewöhnliche Breite seiner Ärmel und die erstaunliche Mächtigkeit seines Brustkorbes anzuerkennen. Er war einer dieser Menschen, die unter Männern üblicherweise trügerisch genannt werden, denn obwohl er äußerst stark aussah, war er in Wirklichkeit viel stärker, als er aussah. Von seinen Gesichtszügen muss ich wenig sagen. Sein Kopf ist klein, sein Haar licht, seine Augen blau, die Nase groß. Er hat einen kleinen Schnurrbart und eine vierschrötige Kinnlade. Jeder kennt Brisbane und als er nach einer Zigarre fragte, schaute jeder ihn an.

„Es ist eine sehr eigentümliche Sache“, sagte Brisbane.

Jeder hielt im Gespräch inne. Brisbanes Stimme war nicht laut, aber sie besaß eine besondere Qualität, normale Konversation zu durchdringen und wie mit einem Messer abzuschneiden. Jeder horchte auf. Brisbane, im Bewusstsein, die allgemeine Aufmerksamkeit auf sich gezogen zu haben, zündete sich mit großer Gelassenheit die Zigarre an.

„Es ist eine sehr eigentümliche Sache“, fuhr er fort, „das mit den Geistern. Die Leute fragen immer, ob jemand schon einmal einen Geist gesehen hat. Ich habe.“

„Unsinn! - Was, Sie? - Das meinen Sie nicht im Ernst, Brisbane? - Na ja, ein Mann von seiner Intelligenz!“

Ein Schwall von Ausrufen empfing Brisbanes bemerkenswerte Erklärung. Jeder bat um Zigarren und Stubbs, der Butler, erschien plötzlich aus den Tiefen von Nirgendwo mit einer neuen Flasche trockenen Champagners. Die Lage war gerettet; Brisbane würde eine Geschichte erzählen.

Ich bin ein alter Seemann, sagte Brisbane, und da ich den Atlantik recht häufig überqueren muss, habe ich meine Favoriten. Die meisten Menschen haben ihre Favoriten. Ich habe einen Mann in einer Broadway-Bar eine Dreiviertelstunde lang auf einen bestimmten Wagen, den er bevorzugte, warten sehen. Ich glaube, der Gastwirt machte mindestens ein Drittel seines Lebensunterhalts durch die Vorlieben dieses Mannes. Ich habe die Angewohnheit, auf bestimmte Schiffe zu warten, wenn ich den Ententeich überqueren muss. Es mag ein Vorurteil sein, aber ich wurde in meinem Leben nie um eine gute Überfahrt betrogen, bis auf das eine Mal. Ich erinnere mich sehr gut; es war ein warmer Juni-Morgen und die Zollbeamten, die auf einen Dampfer warteten, der schon auf dem Weg aus der Quarantäne war, boten ein eigentümlich trübes und nachdenkliches Erscheinungsbild. Ich hatte nicht viel Gepäck – habe ich nie. Ich mischte mich unter die Menge von Passagieren, Gepäckträgern und offiziösen Individuen in blauen Jacken mit Messingknöpfen, die wie Pilze aus dem Deck eines angelegten Dampfers zu schießen scheinen, um ihre unnötigen Dienstleistungen den unabhängigen Passagieren aufzudrängen. Ich habe oft mit gewissem Interesse die spontane Entstehung dieser Kerle beobachtet. Sie sind nicht da, wenn man ankommt; fünf Minuten nachdem der Lotse „Legt los!“ gerufen hat, sind sie, oder zumindest ihre blauen Jacken und Messingknöpfe, verschwunden von Deck und Gangway, so vollständig, als wären sie in die Kiste verfrachtet, welche die Tradition einmütig Davy Jones zuschreibt. Aber im Moment des Anlegens sind sie da, sauber rasiert, blau gekleidet und heißhungrig auf Lohn. Ich eilte an Bord. Die Kamtschatka war eines meiner Lieblingsschiffe. Ich sage „war“, weil sie es eindeutig nicht mehr ist. Ich kann mir keinen Anreiz vorstellen, der mich zu einer neuen Fahrt auf ihr verlocken würde. Ja, ich weiß, was Sie sagen werden. Ihr Kiel ist achtern ungewöhnlich glatt, ihr breiter, hoher Bug schöpft kein Wasser und die unteren Kojen sind zumeist doppelt. Sie hat viele Vorteile, aber ich werde nicht erneut auf ihr hinüberfahren. Entschuldigen Sie die Abschweifung. Ich ging an Bord. Ich rief einen Steward herbei, dessen rote Nase und noch röterer Backenbart mir gleichermaßen vertraut waren.

„Einhundertundfünf, untere Koje“, sagte ich, in dem geschäftsmäßigen Ton von Leuten, denen eine Atlantiküberquerung nicht ungewohnter ist, als einen Whiskey-Cocktail bei Delmonico's im Stadtzentrum zu bestellen.

Der Steward nahm mir Reisekoffer, Mantel und Wolldecke ab. Ich werde niemals seinen Gesichtsausdruck vergessen. Nicht, dass er bleich wurde. Es wird von den höchsten Theologen behauptet, dass selbst Wunder den Gang der Natur nicht verändern können. Ohne zu zögern sage ich, dass er nicht erbleichte; aber aus seiner Miene schloss ich, dass er entweder gleich in Tränen ausbrechen oder niesen oder meinen Koffer fallen lassen würde. Und da letzterer zwei Flaschen ausgezeichneten alten Sherry enthielt, ein Geschenk für die Reise von meinem alten Freund Snigginson van Pickyns, war ich sehr besorgt. Aber der Steward machte nichts dergleichen.

„Ich fass' es nicht!“, sagte er mit gedämpfter Stimme und ging voran.

Während mein Hermes mich in die unteren Regionen führte, mutmaßte ich, dass er einen kleinen Grog genossen hatte, aber ich sagte nichts und folgte ihm. 105 lag an der Backbord-Seite, weit achtern. An der Kabine, eine Kabine erster Klasse, war nichts besonderes. Die untere Koje, wie die meisten an Bord der Kamtschatka, war doppelt. Es gab viel Platz; da war die die übliche Wasch-Einrichtung, dazu bestimmt, einem nordamerikanischen Indianer den Eindruck von Luxus zu vermitteln; da waren die üblichen unpraktischen Halter aus braunem Holz, in die man eher einen großen Regenschirm als eine handelsübliche Zahnbürste hängen konnte. Auf den wenig einladenden Matratzen lagen sorgfältig gefaltet jene Bettdecken, die ein großer moderner Humorist so treffend mit kalten Pfannkuchen verglichen hat. Das Thema Handtücher war ganz der Vorstellungskraft überlassen. Die Glaskaraffen waren mit einer transparenten, leicht bräunlich gefärbten Flüssigkeit gefüllt, von der ein weniger leichter, aber durchaus nicht gefälligerer Geruch in die Nasenlöcher stieg, wie eine weit entfernte seekranke Reminiszenz an ölige Maschinerie. Triste Vorhänge verdeckten zur Hälfte die obere Koje. Das diesige Juni-Tageslicht warf einen matten Schimmer auf die trostlose Szenerie. Pfui! Wie ich diese Kabine hasse!

Der Steward deponierte meine Sachen und sah mich an, als wolle er davonkommen - wahrscheinlich auf der Suche nach weiteren Passagieren und weiteren Trinkgeld. Es ist immer eine gute Idee, sofort das Wohlwollen solcher Funktionäre zu erringen, und entsprechend gab ich ihn gleich ein paar Münzen.

„Ich werde versuchen, es Ihnen so bequem wie möglich zu machen“, bemerkte er, während er die Münzen in die Tasche steckte. Nichtsdestotrotz, da war ein skeptischer Ton in seiner Stimme, was mich überraschte. Möglicherweise hatte er seine Tarife erhöht und war nicht zufrieden; aber alles in allem war ich eher geneigt zu vermuten, dass er, wie er es selbst ausgedrückt hätte, „ein Gläschen genossen“ hatte. Ich lag jedoch falsch und tat dem Mann unrecht.

Kapitel II

Nichts Erwähnenswertes geschah während des Tages. Wir liefen pünktlich aus und es war sehr angenehm, gute Fahrt zu machen, denn das Wetter war warm und drückend und die Bewegung des Dampfers erzeugte eine erfrischende Brise. Jeder weiß, wie der erste Tag auf See ist. Die Leute schreiten über die Decks und starren einander an und bisweilen treffen sie Bekannte, von denen sie nicht wussten, dass sie an Bord sind. Es gibt die übliche Ungewissheit, ob das Essen gut, schlecht oder mittelmäßig sein wird, bis die ersten beiden Mahlzeiten die Frage eindeutig geklärt haben. Es gibt die übliche Ungewissheit über das Wetter, bis das Schiff Fire Island weit hinter sich gebracht hat. Die Tische sind anfangs voll mit Leuten und dann plötzlich ausgedünnt. Blassgesichtige Menschen springen von ihren Sitzen auf und stürzen zur Tür und jeder alte Matrose atmet freier, wenn ihm sein seekranker Nachbar eilig von der Seite weicht, was ihm reichlich Ellbogenfreiheit lässt und volle Verfügungsgewalt über den Senf.

Eine Atlantik-Überquerung ist ziemlich wie die andere und wir, die wir oft hinüberfahren, reisen nicht der Neuartigkeit zuliebe. Wale und Eisberge sind gewiss immer Gegenstände des Interesses, aber im Grunde ist ein Wal wie ein anderer Wal und Eisberge sieht man selten aus der Nähe. Für die Mehrheit von uns ist der angenehmste Augenblick des Tages an Bord eines Ozeandampfers dann erreicht, wenn wir unsere letzte Zigarre geraucht, unsere letzte Runde auf Deck gedreht und uns selbst so erfolgreich ermüdet haben, dass wir uns die Freiheit nehmen, guten Gewissens schlafen zu gehen. An diesem ersten Tag der Reise fühlte ich mich besonders träge und ging früher zu Bett in der 105, als ich es sonst zu tun pflege. Als ich in die Kabine kam, sah ich zu meiner Überraschung, dass ich einen Gefährten haben würde. Ein Reisekoffer, meinem sehr ähnlich, stand in der Ecke gegenüber und in der oberen Koje war eine ordentlich gefaltete Decke samt Stock und Regenschirm deponiert. Ich hatte gehofft, alleine zu bleiben, und ich war enttäuscht; aber ich wollte wissen, wer mein Zimmergenosse sein würde, und entschloss, einen Blick auf ihn zu werfen.

Ich war noch nicht lange im Bett, als er eintrat. Er war, soweit ich sehen konnte, ein sehr großgewachsener Mann, sehr dünn, sehr blass, mit sandfarbenen Haar und Backenbart und farblosen grauen Augen. Er hatte, fand ich, etwas Zwielichtiges – die Art von Mann, den man in der Wall Street sieht, ohne dass man genau sagen könnte, was er dort macht – die Art von Mann, der das Café Anglais frequentiert, der immer allein zu sein scheint und der Champagner trinkt; man könnte ihn auf einer Rennbahn treffen, aber auch dort scheint er niemals irgendetwas zu tun zu haben. Ein bisschen übertrieben gekleidet – ein bisschen eigenartig. Auf jedem Ozeandampfer gibt es drei oder vier von dieser Sorte. Ich entschloss, nicht seine Bekanntschaft machen zu wollen, und noch im Einschlafen nahm ich mir vor, seine Gewohnheiten zu studieren, um ihm aus dem Weg zu gehen. Falls er früh aufstünde, würde ich spät aufstehen; falls er spät ins Bett ginge, würde ich früh ins Bett gehen. Ich legte keinen Wert darauf, ihn kennenzulernen. Sobald man einmal mit solchen Leuten bekannt ist, tauchen sie immer wieder ungebeten auf. Armer Kerl! Ich hätte mir all die Pläne sparen können, denn ich sah ihn niemals wieder nach jener ersten Nacht in 105.

 

Ich war längst fest eingeschlafen, als ein lauter Krach mich plötzlich weckte. Vom Klang her zu urteilen, musste mein Zimmergenosse mit einem einzigen Satz von der oberen Koje auf den Boden gesprungen sein. Ich hörte ihn an dem Riegel und der Klinke der Tür fummeln, die fast sofort aufging, und dann hörte ich seine Schritte, als er mit voller Geschwindigkeit den Gang herunterlief, ohne die Tür hinter sich zu schließen. Das Schiff rollte ein wenig und ich rechnete damit, ihn fallen zu hören, aber er lief, als würde er um sein Leben rennen. Die Tür schwankte in den Angeln im Takt der Schiffsbewegungen und das Geräusch ärgerte mich. Ich stand auf und schloss sie und tastete in der Dunkelheit meinen Weg zurück zu meiner Koje. Ich ging wieder schlafen, aber ich habe keine Ahnung, wie lange ich schlief.

Als ich aufwachte, war es noch ganz dunkel, doch ich spürte eine unangenehme Empfindung von Kälte und die Luft schien mir dumpfig zu sein. Sie wissen, dieser auffällige Geruch einer Kabine, die nass vom Seewasser gewesen ist. Ich deckte mich selbst so gut wie möglich zu und döste wieder ein, während ich mir bereits für den nächsten Tag Beschwerden zurechtlegte und dafür die stärksten Epitheta, welche die Sprache bietet, auswählte. Ich konnte meinen Zimmergenossen sich in der oberen Koje umdrehen hören. Er war wohl zurückgekehrt, während ich geschlafen hatte. Einmal meinte ich, ihn stöhnen zu hören, und ich nahm an, er wäre seekrank. Das ist besonders unangenehm, wenn man unten liegt. Trotzdem döste ich ein und schlief bis zum frühen Morgen.

Das Schiff rollte heftig, viel stärker als am Abend zuvor, und das graue Licht, das durch das Bullauge drang, änderte die Farbtönung mit jeder Bewegung, je nachdem, ob der Neigungswinkel der Schiffsseite das Glas zur See oder himmelwärts drehte. Es war sehr kalt, unerklärlich kalt für den Monat Juni. Ich drehte den Kopf und schaute zum Bullauge und zu meiner Überraschung sah ich, dass es weit offen stand und hinten festgehakt war. Ich glaube, ich fluchte vernehmbar. Dann stand ich auf und schloss es. Als ich mich zurückwendete, warf ich einen Blick auf die obere Koje. Die Vorhänge waren dicht zugezogen; meinem Gefährten war wohl ebenso kalt geworden wie mir. Mir fiel ein, genug geschlafen zu haben. Die Kabine war ungemütlich, obwohl ich seltsamerweise nicht mehr die Feuchtigkeit, die mich in der Nacht verärgert hatte, spürte. Mein Zimmergenosse schlief noch – eine ausgezeichnete Gelegenheit, ihm aus dem Weg zu gehen, also zog ich mich umgehend an und ging an Deck. Der Tag war warm und wolkig, ein öliger Geruch lag auf dem Wasser. Es war sieben Uhr, als ich herauskam – viel später, als ich gedacht hatte. Ich stieß auf den Doktor, der seine erste Prise Morgenluft schnupperte. Er war ein junger Mann aus dem Westen Irlands – ein enormer Bursche, mit schwarzen Haaren und blauen Augen, und er neigte bereits zur Korpulenz. Er hatte ein unbekümmertes, natürliches Äußeres, was ihn recht sympathisch machte.

„Herrlicher Morgen“, bemerkte ich als Einstieg.

„Nun ja“, sagte er und blickte mich mit Interesse an, „es ist ein herrlicher Morgen und es ist kein herrlicher Morgen. Ich halte nicht viel von diesem Morgen.“

„Tja, nein – er ist nicht so herrlich“, sagte ich.

„So etwas nenne ich vermieftes Wetter“, erwiderte der Doktor.

„Mir schien, es war letzte Nacht sehr kalt“, bemerkte ich. „Als ich mich jedoch umschaute, stellte ich fest, dass das Bullauge weit offen war. Ich hatte das nicht bemerkt, als ich zu Bett ging. Und die Kabine war auch dumpfig.“

„Dumpfig!“, sagte er. „Wo sind Sie untergebracht?“

„Einhundertundfünf---“

Zu meiner Überraschung schreckte der Doktor auf und starrte mich an.

„Was ist los?“, fragte ich.

„Oh – nichts“, antwortete er, „nur hat jeder sich über diese Kabine beschwert auf den letzten drei Reisen.“

„Ich werde mich auch beschweren“, sagte ich. „Sie ist offensichtlich nicht richtig gelüftet worden. Es ist eine Schande!“

„Ich glaube nicht, dass sich das ändern lässt“, antwortete der Doktor. „Ich glaube, da ist irgendetwas – nun ja, es ist nicht meine Aufgabe, die Passagiere zu ängstigen.“

„Sie müssen nicht befürchten, mir Angst einzujagen“, erwiderte ich. „Ich halte jede Menge Feuchtigkeit aus. Sollte ich eine schlimme Erkältung bekommen, werde ich Sie aufsuchen.“

Ich bot dem Doktor eine Zigarre an, die er nahm und kritisch begutachtete.

„Es ist nicht so sehr die Feuchtigkeit“, bemerkte er. „Aber, ich wage zu behaupten, dass Sie gut zurechtkommen werden. Haben Sie einen Zimmergenossen?“

„Ja, ein Teufel von einem Kerl, der mitten in der Nacht hinausstürmt und die Tür offen lässt.“

Erneut blickte der Doktor mich eigentümlich an. Dann zündete er die Zigarre an und schaute ernst drein.

„Ist er zurückgekehrt?“, fragte er dann.

„Ja. Ich hatte geschlafen, aber ich wachte auf und hörte ihn sich bewegen. Dann fühlte ich mich kalt und bin wieder eingeschlafen. Am Morgen habe das ich Bullauge offen vorgefunden.“

„Sehen Sie“, sagte der Doktor leise, „ich mag diese Schiff nicht sehr und um seinen Ruf scherr ich mich gar nicht. Ich sage Ihnen, was ich machen werde. Ich habe ziemlich viel Platz hier. Ich werde ihn mit Ihnen teilen, auch wenn ich Sie überhaupt nicht kenne.“

Der Vorschlag überraschte mich sehr. Ich konnte mir nicht erklären, warum er ein so plötzliches Interesse an meinem Wohlergehen nahm. Die Art, wie er über das Schiff sprach, war jedoch auffällig.

„Sie sind sehr freundlich, Doktor“, sagte ich. „Aber ich bin der Überzeugung, dass die Kabine auch jetzt noch gelüftet werden kann oder gereinigt oder was auch immer. Warum mögen Sie das Schiff nicht?“

„Wir sind in unserem Berufsstand nicht abergläubisch, Sir“, antwortete der Doktor, „aber die See lässt die Menschen so werden. Ich möchte Sie nicht beeinflussen und ich möchte Sie nicht verängstigen, aber wenn Sie meinem Rat folgen, ziehen Sie bei mir ein. Ich würde sie schon über Bord sehen“, ergänzte er aufrichtig, „wenn ich erführe, dass Sie oder jemand anders in 105 schlafen soll.“

„Meine Güte! Warum?“, fragte ich.

„Einfach weil auf den letzten drei Fahrten die Personen, die dort geschlafen haben, tatsächlich über Bord gegangen sind“, antwortete er mit ernster Miene.

Die Information war alarmierend und äußerst unangenehm, gebe ich zu. Ich sah den Doktor prüfend an, um zu sehen, ob er einen Spaß mit mir trieb, aber er wirkte gänzlich aufrichtig. Ich dankte ihm herzlich für sein Angebot, aber ich sagte ihm, ich würde beabsichtigen die Ausnahme der Regel zu sein, nach der jeder, der in dieser besonderen Kabine schliefe, über Bord ginge. Er sagte nicht viel, sah aber weiterhin besorgt aus und deutete an, dass, bevor wir ankämen, ich wahrscheinlich seinen Vorschlag überdenken würde. Im Laufe der Zeit gingen wir zum Frühstück. Es war nur eine unbedeutende Anzahl von Passagieren im Speisesaal versammelt. Ich bemerkte, dass ein oder zwei der Offiziere, die mit uns frühstückten, besorgt aussahen. Nach dem Frühstück ging ich in meine Kabine, um ein Buch zu holen. Die Vorhänge der oberen Koje waren noch fest zugezogen. Kein Geräusch war zu hören. Mein Zimmergenosse schlief wahrscheinlich noch.

Als ich herauskam, traf ich den Steward, dessen Aufgabe es war, mich zu betreuen. Er flüsterte mir zu, dass der Kapitän mich sehen wollte, und huschte dann den Gang hinunter, als wäre er sehr bedacht, Fragen aus dem Weg zu gehen. Ich ging zur Kapitänskajüte und fand ihn auf mich wartend vor.

„Sir“, sagte er, „ich möchte Sie um einen Gefallen bitten.“

Ich antwortete, dass ich ihm gerne helfen würde.

„Ihr Zimmergenosse ist verschwunden“, sagte er. „Wir wissen, dass er gestern früh zu Bett gegangen ist. Haben Sie irgendetwas Außergewöhnliches an seinem Betragen festgestellt?“

Die Frage verblüffte mich, bestätigte sie doch genau die Befürchtungen, die der Doktor eine halbe Stunde zuvor geäußert hatte.

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