Der Kick mit dem Ball

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Der Kick mit dem Ball
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Der Kick mit dem Ball

Die Geschichte des Fußballs


Florian Reiter

Der Kick

mit dem Ball

Die Geschichte des Fußballs


Bibliografische Informationen der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in

der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische

Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

ISBN (eBook, epub) 978-3-940621-52-8

Lektorat: Waltraud Greczmiel

Grafisches Gesamtkonzept, Titelgestaltung, Satz und Layout:

Stefan Berndt – www.fototypo.de

© Copyright: Vergangenheitsverlag, Berlin / 2009

www.vergangenheitsverlag.de

Alle Rechte, auch die des Nachdrucks von Auszügen, der fotomechanischen

und digitalen Wiedergabe und der Übersetzung,

vorbehalten.

Inhalt

Wer hat’s erfunden?

Von Zuschauern, Zuhauern, Fans und Ultras

Ist DER Fußball ein Männersport?

Duelle, Derbys, Schlachten und Klassiker – wenn Fußball mehr als nur ein Spiel ist

Fußball, Macht, Politik – macht Fußball Politik?

Fußball und Kommerz – oder wie der Hirsch auf’s Trikot kam

Anhang – Fußball in Zahlen

Wer hat’s erfunden?

»Wer hat’s erfunden?« Die am lautesten »wir waren das, wir haben den Fußball erfunden« rufen, sind die Engländer. Unzweifelhaft haben die Engländer die Regeln des modernen Fußballs entwickelt und niedergeschrieben. Das war Mitte des 19. Jahrhunderts. Aber viel früher wurden bereits an verschiedensten Orten der Welt Bälle zum Vergnügen mit dem Fuß gespielt. Ballspielen ist ein Urtrieb, dem nicht nur wir Menschen verfallen sind. Auch Hund, Katz’ und Maus sind nicht zu stoppen, wenn etwas Ballähnliches in Reichweite kommt. Irgendein rundes, rollendes Ding, heute würde man es Ball nennen, hat sicher schon den Neandertaler zum spielerischen Dagegentreten verführt. Ob er mit seiner Sippe gegen eine Horde Homo Sapiens gekickt hat, ist allerdings durch keine Höhlenmalerei beurkundet. Man geht deshalb davon aus, dass der Neandertaler unseren direkten Vorfahren eher mit der Keule als mit dem Fußball begegnet ist.

Oft und gerne werden die Chinesen genannt, wenn es um die ersten Fußballspiele geht. Es gibt deutliche Hinweise, dass Huang-ti, der erste Herrscher Chinas, den Fußball bereits knapp 3.000 Jahre v. Chr. eingeführt hat. Das Spiel ts’uh kü (kü – der Ball; ts’uh – mit dem Fuß treten1 ) sollte seine Soldaten fit und agil halten. Im dritten Jahrhundert v. Chr. war Fußball dann längst keine militärische Übung mehr, sondern bereits Volkssport. Das erzählt jedenfalls ein altchinesischer Schriftsteller, der sogar so weit geht zu schreiben: »dass es in der Stadt Lin-Tsu niemanden gab, der sich nicht mit Hahnenkampf, Hunderennen oder Fußballspiel« beschäftigt habe.2

Genaue Regeln des altchinesischen Fußballspiels sind nicht überliefert. Erst aus der T’ang Dynastie (618 bis 906 n. Chr.) ist ein kompaktes Regelwerk des Fußballspiels überliefert. Darin sind bereits einige Parallelen zum modernen Spiel zu erkennen. Zwei Mannschaften, etwa zehn Mann stark, spielen auf zwei Tore. Wer mehr Tore schießt, gewinnt. Die Tore waren allerdings fünf Meter hoch. Über die Körpergröße und Sprungkraft der damaligen Torleute ist leider nichts überliefert. Aus einem Zitat des chinesischen Dichters Li Yu (50–136 n. Chr.) kann man schließen, dass das Fußballspiel damals einen ähnlich kultischen Status besaß, wie der moderne Fußball ihn heute fast überall auf der Welt genießt:

Rund der Ball, viereckig das Land,

gleich dem Bild von Himmel und Erde

Der Ball fliegt über uns wie der Mond

während sich zwei Mannschaften gegenüberstehen,

Spielführer sind ernannt und halten Platz

nach unveränderlichen Regeln.

Keinen Vorteil gibt es für Verwandte,

kein Platz ist für Parteilichkeit.

Dafür herrscht Entschluss und kaltes Blut

ohne jede Irrung und Unterlassung.

[…]3

Die Sieger der chinesischen Fußballspiele wurden mit Pokalen und kostbaren Stoffen reich belohnt. Für die Verlierer gab es Beschimpfungen und im schlimmsten Fall auch Prügel. Ein Motivationsproblem dürften die damaligen Kicker in China also nicht gehabt haben. Etwa 900 n. Chr. verlieren die Chinesen das Interesse am Fußballspiel. Es taucht jedenfalls nicht mehr in den Überlieferungen auf.

Ebenfalls erfunden haben könnten die Maya und Azteken das Fußballspiel. Leider haben die spanischen Invasoren nicht darauf geachtet, genug einheimische Zeitzeugen am Leben zu lassen, so dass diese Theorie heute über keine größere Lobby mehr verfügt. Es sind jedoch noch sehr viele Ballspielfelder der Maya und Azteken erhalten.

Das am besten dokumentierte Spiel der Azteken ist das »Steißballspiel«. In diesem Spiel durfte der Ball nur mit der Hüfte, dem Steiß und dem Hintern getroffen werden. Das legt die Vermutung nahe, dass den Azteken das Fußballspielen bereits bekannt war, aber schon zu einfach vorkam. Südamerikanische Ballzauberer eben. Steißball war ein Spiel, das extreme Körperfertigkeit und Fitness voraussetzte. Also war es eher nichts für ungeübte Amateure. Deshalb gab es damals bereits die ersten Profiballspieler. Nicht überliefert ist, ob diese auch lukrative Werbeverträge erhalten haben und ihren Namen permanent in Stein meißeln mussten.

Ein Fußballfeld der Mayas aus dem 8. Jahrhundert n. Chr. in Copan / Honduras

Auch die antiken Griechen und Römer spielten bereits den Ball mit dem Fuß. Aber weder die Griechen noch die Italiener rufen deshalb: »Wir haben den Fußball erfunden«. Die Italiener tun dies nur, wenn sie auf den mittelalterlichen Calcio aus Florenz verweisen. Dieses Spiel wird etwa 1460 zum ersten Mal in Gedichten erwähnt. Auch heute noch ist die italienische Bezeichnung für Fußball Calcio. Das florentinische Spiel weist bereits eine Menge Parallelen zum heutigen Fußball auf, auch wenn Ähnlichkeiten zu Rugby und American Football überwiegen. Zwei Mannschaften stehen sich auf einem Spielfeld gegenüber. Eine Mannschaft besteht aus Angreifern, Verteidigern, Läufern und Zerstörern. Sinn und Zweck des Spiels ist es, den Ball über eine Linie am Kopfende des Spielfeldes zu befördern. Genau wie beim American Football also. Aber im Gegensatz zum Football war Ballspielen mit der Hand beim Calcio verpönt: Denn es ist eine dumme und unschöne Art Ihn (den Ball) mit der Hand zu werfen; […]. Vor dem, der mit den Händen vorgeht, hüte man sich, denn er ist von schwacher Natur.4

Die Spieldauer betrug eine Stunde. Die Mannschaft, die den Ball am häufigsten über die gegnerische Linie beförderte, war der Sieger. Das berühmteste historische Calcio-Spiel fand 1530 in Florenz statt. Das besondere an dem Spiel war, dass Florenz zu dieser Zeit von den Truppen Karls V. belagert wurde. Den feindlichen Kanonen zum Trotz spielten die Florentiner Jugendlichen ihr Fußballspiel. Genutzt hat es im Endeffekt nichts, aber geärgert haben dürfte sich »Karl Fünf« schon mächtig, als er sich das Fußballspiel ansehen musste. Seit dem 400. Jubiläum dieses Spiels, also seit 1930, wird jedes Jahr ein Calcio auf dem historischen Spielfeld, der Piazza di Santa Croce gespielt. Die vier historischen Florentiner Stadtteile spielen hier den Sieger aus. Der Ehrgeiz zu gewinnen ist groß und hat zu immer extremerer Brutalität im Spiel geführt. Deshalb ist es seit 2008 verboten, Spieler mit Vorstrafen einzusetzen. Ob diejenigen Spieler, die sich noch nie haben erwischen lassen, weniger brutal zu Werke gehen, wird die Zukunft zeigen. Dass es sich beim Florentiner Calcio nicht um »Damenhalma« und bei der Teilnahme um eine freiwillige Leistung handelte, wusste schon 1688 der römische Dichter Giovanni Camillo Peresio. Dieser beschrieb dem Kardinal Francesco Maria den Florentiner Calcio:

»Nach Art des Spielmachers beim Calcio, der den Ball geschickt in luftiger Höhe hält, um die (Tor-)Jagd aufzumachen und voranzupreschen, so läuft darauf der feurige Läufer nach vorn. Aber der Zerstörer greift ohne Umschweif handgreiflich mit Schulterrammen und -drücken an, dass mehr als ein Stoß auf Kreuz oder Flanke niedergeht; Herr, jeder macht dies hier aus freien Stücken.5

Fußballspiel auf der Piazza S.Croce in Florenz. Radierung (o.J.) von Jacques Callot (1592–1635)

Die Italiener haben also auch ein bisschen den Fußball erfunden. Wie sieht es eigentlich mit den Deutschen aus? Haben nicht vielleicht unsere Vorfahren das Fußballspielen erfunden? Darauf gibt es leider nur eine Antwort: ein klares »Nein«. Aber immerhin: »Ball« ist ein Wort germanischen Ursprungs. Unsere Vorfahren spielten gerne und häufig Ball. Beispielsweise das heute kaum noch ausgeübte »Sauballspiel«. Auch wenn heute noch viele Fußballexperten den Deutschen vorwerfen, bei den Fußball-Weltmeisterschaften 1982 und 1986 mit einer Art Sauballspiel bis ins Finale gekommen zu sein …

 

Kommen wir also wieder zur Mutter der Fußballnationen – den Engländern. Hier ist Fußball seit dem Mittelalter bekannt und urkundlich erwähnt. Allerdings sind die ersten schriftlichen Erwähnungen keine Spielberichte. Vielmehr sind es königliche Erlasse, die das Fußballspielen verbieten. Und zwar unter Strafandrohung. Das erklärt sich, wenn man etwas spätere Urkunden wälzt, in denen auch das damalige Fußballspiel thematisiert wird. Hierbei handelt es sich in der Regel um Gerichtsakten. So »rannte« beispielsweise 1581 der Freisasse Roger Ludford während eines Fußballspiels lediglich »nach dem Ball mit der Absicht, ihn zu treten, woraufhin Nicholas Martyn ihn mit der rechten Faust und Richard Turvey mit der linken Faust jeder einen Schlag versetzten«. An den Folgen verschied der Freisasse dann leider innerhalb der nächsten Viertelstunde.6 Ob der so teuer erkaufte Ballbesitz letztlich zum Sieg der Mannschaft der beiden Faustkämpfer führte, weiß man nicht. Aber an dieser und vielen weiteren Gerichtsakten lässt sich erkennen, dass es sich beim mittelalterlichen Volks-Fußballspiel oftmals um ein brutales Freizeitvergnügen gehandelt haben muss. Philipp Stubbes, ein puritanischer Pamphleteschreiber, sieht das 1583 übrigens genauso: »Der Fußball ist eher eine blutige, mörderische Beschäftigung, denn ein Spiel … Mal wird das Genick gebrochen, mal der Rücken, Arme oder Beine«.7 Die vom Fußball und seinen wilden Keilereien genervte Obrigkeit forderte das Volk auf, an Festtagen besser nützlichen Hobbys wie Bogenschießen nachzugehen. Denn eine Truppe Bogenschützen waren dem König im nächsten Krieg lieber, als eine Horde wilder Volksfußballer. »Unnütze und wertlose Spiele wie Fußball« waren deshalb bei »Strafe der Einkerkerung« verboten. 8

Genutzt haben diese ständig wiederkehrenden Verbote offensichtlich nichts. Nur so erklärt sich die permanente Wiederholung der einschlägigen Verbote. Fast jeder damals regierende König verfasste während seiner Amtszeit mehrere Erlasse wider den Fußball.

Feste und vor allen Dingen allgemein gültige Regeln gab es beim mittelalterlichen Fußball nicht. Oft standen sich an Feiertagen die Einwohner zweier Nachbarorte auf einer Wiese zwischen den Dörfern gegenüber. Es gab einen Ball. Und wer diesen Ball zuerst in das Stadttor des Nachbardorfes beförderte, war der Sieger. Weder die Anzahl der Mitspieler war festgelegt, noch gab es sonstiges störendes Regelwerk. Fairplay war auch noch nicht erfunden. So konnte sich eigentlich jeder Mitspieler am Ende als Sieger fühlen, der noch über alle Gliedmaßen verfügte.

Fußballspiel 1827. Lithografie (um 1830) von George Hunt

Das Spiel überdauerte unzählige Verbote und Jahrhunderte. Immer noch gab es keine verbindlichen Regeln für das Spiel. Anfang des 19. Jahrhunderts wurde Fußball oft und gerne an den Eliteschulen in England gespielt. Allerdings spielten die Schulen nicht nach allgemein gültigen Regeln, sondern es gab eine Vielzahl unterschiedlicher Fußballspiele.

An der Schule in Rugby entstand 1845/1846 eine merkwürdige Abart des Spiels. Hierin ist noch viel von der körperbetonten Spielweise des ursprünglichen Volksfußballs der Engländer enthalten. Zusätzlich kommen die Hände der Spieler zum Einsatz und das Tor befindet sich ohne Torwächter in schwindelerregender Höhe. Diese Variante, Rugby genannt, wird auch heute noch weltweit gespielt. In Südafrika, Neuseeland und den Fidschi-Inseln ist Rugby heute sogar beliebter als der »echte« Fußball.

1848 wurden in Cambridge die ersten Regeln des heutigen Fußballs festgelegt. Federführend war hierbei ein gewisser J.C. Thrings. Von ihm und seinem Bruder wird in diesem Buch später noch die Rede sein. 1849 gibt es ein Regelwerk in Eton, 1853 eines in Harrow. Es entstehen nach und nach Fußballvereine. Der FC Sheffield war 1857 der erste reine Fußballclub weltweit.

In der Freemason’s Tavern, einem Pub in der Great Queen Street in London tat sich im Jahr 1863 Fußballhistorisches. Hier trafen sich Vertreter von Schulen und Fußballvereinen, um eine Vereinheitlichung des Spiels und seiner Regeln vorzunehmen. An sechs Kneipenabenden, zwischen Oktober und Dezember des Jahres, einigte man sich auf ein festes Regelwerk. Die Wurzeln des Fußballs liegen also in einem englischen Pub. Eventuell könnte das eine Erklärung für die hohe Affinität des modernen Fußballfans zur Kneipe sein. Außerdem gründeten die Teilnehmer der Kneipenabende den ersten Fußballverband der Welt – die Football Association, heute noch kurz FA genannt. Die US-amerikanische Bezeichnung Soccer für echten Fußball ist übrigens eine Abkürzung von associated football. Das Wort Fußball ist in den USA ja schon durch American Football belegt.

In den Anfängen ist der moderne Fußball in England des 19. Jahrhunderts – trotz seiner rauen Vorvergangenheit – eine Sportart der Eliteschüler. Ein Vergnügen der Reichen und Gebildeten. Man spielt zum Zeitvertreib und keinesfalls zum Broterwerb. Auch ein gewisses Bildungsniveau der Mitspieler war erwünscht oder sogar in den Vereinsregeln vorgeschrieben. Auch beim deutschen Renommierclub FC Bayern München war ein Abschluss der Mittelschule lange Zeit Pflicht für die Spieler. Ohne Änderung der Statuten hätte Gerd Müller seine Tore also woanders erzielen müssen. Es dauerte einige Jahrzehnte bis die Arbeiter den Fußball eroberten. Die wenige Freizeit eines englischen Arbeiters reichte nicht aus, um das Spiel auf dem Niveau der oberen Zehntausend zu spielen. Erst als sich mit Werksmannschaften reine Arbeitermannschaften bildeten, konnten diese ihr Niveau erhöhen. Schließlich war es schon damals für ein Unternehmen schick und von Vorteil, wenn es mit einer siegreichen Mannschaft werben konnte. Heute noch berühmte englische Fußballvereine waren Ende des 19. Jahrhunderts als Werksmannschaften gestartet. So war der glorreiche Verein Manchester United ehemals eine. Mannschaft der englischen Eisenbahner. Durch seine Wurzeln als Werksmannschaft einer Munitionsfabrik erklärt sich, warum man die Kicker von Arsenal London noch immer als die »Gunners« bezeichnet.

Pioniere des Vereinsfußballs: eine der frühen Mannschaften des Sheffield FC, um 1900

Tägliches Training und Profitum lehnten die Mannschaften der Gentlemen aber durchweg ab. Sport war Spaß, war Spiel, war Vergnügen. Auch Ligaspiele und andere Wettkämpfe passten nicht ins vornehme Bild der Amateure aus Leidenschaft. Die berühmteste Gentlemen-Mannschaft, der Corinthians Football Club, nahm darum auch nie am FA Pokal oder dem Ligabetrieb teil. Ab und an wurde jedoch der FA-Cup Gewinner von den Corinthians in einem Freundschaftsspiel gedemütigt. 1884 schlugen die Gentlemen-Amateure die Blackburn Rovers mit 8:1. Auch 1903 reichte es noch zu einem 6:1 gegen den damaligen FA Cup Sieger, den FC Bury. In späteren Jahren lassen sich die Profimannschaften dann aber nicht mehr vorführen.

Dass die Corinthians eine andere Fußballphilosophie verfolgten als heutige Profigenerationen, zeigt ein Beispiel ganz deutlich. Als 1891 der Elfmeter als Strafe für absichtliches Faulspiel im Strafraum eingeführt wurde, weigerten sich die Corinthians, diese Regel anzuwenden. Gab ihnen der Schiedsrichter einen Strafstoß, schossen sie ihn absichtlich daneben. Gab es Elfmeter gegen sie, stellten sie keinen Torwart ins Tor. Für die Gentlemen, die den Fußball zwar hart spielten, war es trotzdem unvorstellbar, einen Gegenspieler absichtlich zu faulen. Das widersprach ihrem Verständnis von Fairplay. Diese Regel fanden sie schlicht absurd. Hätten sie damals gewusst, dass sich zukünftige Generationen von Fußballern reihenweise absichtlich hinfallen lassen würden, um einen Elfmeter zu schinden, sie hätten ihre Fußballschuhe augenblicklich an den Nagel gehängt.

Der Gentlemens-Club: Die Corinthians, einer der frühen englischen Clubs, interpretierten Fußball auf die feine englische Art, Foto von 1897

Um jetzt wieder auf die Frage: »Wer hat’s erfunden?« zurück zu kommen, muss man wohl mangels Gegenbeweisen neidlos sagen: Die Engländer waren es. Sie haben den Fußball erfunden. Tausende von Jahren vorher wurde zwar schon viel mit Füßen gegen Bälle getreten. Aber die Ähnlichkeit der Spiele mit dem heutigen Fußball war entweder nicht sehr groß, oder sie ist mangels zeitgenössischer TV-Aufzeichnungen heute nicht mehr nachzuweisen. Ob man die Geburtsstunde des Fußballs nun auf 1848 datiert, als in Cambridge erste Regeln schriftlich fixiert wurden oder eher 1863, mit Gründung der FA, ist Ansichtssache. Echte Fußballfans feiern ohnehin jedes Jubiläum mit: das erste Aufpumpen eines Balles, der erste Fallrückzieher, das erste Kopfballtor, der erste Einwurf, der erste Eckball – jedes Ereignis ein Festtag für sich. 365 Tage im Jahr – ein Anlass findet sich immer. Man muss nur lange genug suchen …

Von England aus verbreitete sich der Associated Football dann recht zügig in die ganze Welt. In Deutschland brach 1875 Konrad Koch, ein Lehrer aus Braunschweig, eine erste Lanze für den Fußballsport. Er verfasste die Regeln des Fußballspiels in deutscher Sprache. Im gleichen Jahr tourte eine Fußballmannschaft aus Oxford durch Deutschland. Man darf vermuten, dass es sich hierbei um ein sportliches Entwicklungshilfeprojekt handelte. Ähnlich wie ca. 100 Jahre später die Harlem-Globetrotters aus den USA, mit ihren Gastspielen versuchten, die Sportart Basketball in Deutschland zu etablieren. Es dauerte von hier an aber noch fünf Jahre, bis in Deutschland 1880 der erste deutsche Fußballverein gegründet wurde, der Bremer FC.

Nach und nach kamen weitere Fußballvereine hinzu. Bis zur Gründung eines nationalen Fußballverbandes in Deutschland dauerte es noch bis in das Jahr 1900. Im Januar des Jahres wurde in Leipzig der Deutsche Fußball Bund, DFB, ins Leben gerufen. Und wo gründet man bekanntlich erfolgreiche Fußballverbände? Richtig, in einer Kneipe. Die Gründung des DFB fand in der Leipziger Gaststätte »Mariengarten« statt. Anwesende Gründungsmitglieder waren 86 Vertreter von Fußballvereinen. Heute sind dem DFB ca. 26.000 Vereine angeschlossen, mit mehr als 180.000 Mannschaften und ca. 6,5 Millionen Mitgliedern.9

Nicht alle erfolgreichen Fußballverbände wurden im Übrigen in Kneipen gegründet. Der Welt Fußballverband, FIFA (Fédération Internationale de Football Association), entstand im Jahr 1904 in Paris, im Hinterhaus eines französischen Sportverbandes. Am 21. Mai des Jahres waren Vertreter aus Schweden, Dänemark, den Niederlanden, der Schweiz, Spanien, Belgien und Frankreich anwesend. Die als führend geltenden Engländer hatten es nicht für nötig befunden, an dem Treffen teilzunehmen. Zu unwichtig erschien ihnen der kontinentale Fußball zu dieser Zeit. Der Deutsche Fußballbund, DFB, nahm zwar nicht am ersten Treffen teil. Jedoch meldete sich Deutschland noch am Gründungstag per Telegraf bei der FIFA an. Bei 50 Franc Jahresbeitrag riskierte man finanziell nicht allzu viel mit der FIFAMitgliedschaft.

Ab dem Jahr 1903 wurde in Deutschland eine nationale Fußballmeisterschaft ausgespielt. Der erste deutsche Fußballmeister der Geschichte war der VfB Leipzig. Er schlug in Altona den DFC (Deutscher Fußball-Club) Prag mit 7:2. Heute fährt die Fußball-Lokomotive in Leipzig etwas langsamer. Von der nächsten deutschen Meisterschaft ist man dort (noch) weit entfernt.

Im Jahr 1922 findet sich in den Listen des DFB dann kein deutscher Fußballmeister. Was war denn da los? Gespielt wurde schließlich in diesem Jahr. Bis in das Finale in Berlin hatten es der HSV und der 1. FC Nürnberg geschafft. Das erste Finale endete 2:2 nach gespielten 189 Minuten. Der Schiedsrichter beendete die Partie, offiziell wegen der einsetzenden Dunkelheit. Laut »Kicker«-Artikel vom 22. Juni 1922 lag es aber auch daran, dass »die verschiedenen Verlängerungen von 22 Leuten durchgefochten werden mußten, die bereits seelisch zermürbt und zum größten Teil körperlich verletzt waren«.10 Ja, damals gab es noch keine Auswechselspieler und die Betreuer, die heute Physiotherapeuten heißen, waren damals noch Klempner oder Briefträger. Das Wiederholungsspiel ging nach dem regulären 1:1 ebenfalls in die Verlängerung. Auch hier fiel kein Tor. Dafür fielen Nürnberger Spieler reihenweise um, aus und auf. Zwei Nürnberger mussten körperlich verletzt vom Spielfeld. Zwei weitere Nürnberger wollte der Schiedsrichter nicht mehr mitspielen lassen. Er zeigte ihnen die rote Karte. Als nur noch sieben Nürnberger gegen elf Hamburger spielten, beendete der Unparteiische das Spiel. Eine rote Karte zu früh, wie sich hinterher herausstellte. Erst wenn »weniger als sieben Spieler« einer Mannschaft auf dem Platz stehen, ist ein Spiel zu beenden. Der DFB setzte eine dritte Partie an, zu der der HSV aber keine Lust mehr hatte. Man fühlte sich bereits als deutscher Meister und wollte dieses gute Gefühl nicht durch eine Niederlage gefährden. Jedenfalls ist für die Saison 1921/1922 kein deutscher Meister in den Fußball-Annalen zu finden. Ein bislang einmaliges Erlebnis. Zumindest in einem Jahr, in dem eine Meisterschaft ausgespielt wurde. 1945 bis 1947 gab es ebenfalls keinen deutschen Meister. Aber in der Zeit, kurz nach dem Zweiten Weltkrieg, hatten fast alle Deutschen andere Sorgen, als Fußball zu spielen oder Fußball anzuschauen. Noch vor dem Krieg, nämlich 1930, veranstaltete die FIFA erstmals eine Weltmeisterschaft. In Europa herrschte zu der Zeit eine ausgewachsene Wirtschaftskrise. Viele europäische Verbände scheuten deshalb aus Kostengründen die lange Reise. Damals wie heute wollten die Vereine nicht wegen eines Turniers auf ihre besten Spieler verzichten. Natürlich auch, weil es sich – mit Schiffsanreise, Turnier und Schiffsrückreise – um eine zwei Monate lange Vereinsabstinenz der Stars handelte. Mit Frankreich, Rumänien, Jugoslawien und Belgien nahmen deshalb nur vier europäische Länder an der ersten Fußball-WM teil. Weltmeister wurde der Gastgeber aus Uruguay. Man nahm den Europäern die vielen Absagen aber derart übel, dass Uruguay 1934 zur Weltmeisterschaft in Italien nicht antrat. Das war das einzige Mal in der Geschichte der WM, dass ein Weltmeister nicht zur Titelverteidigung angetreten ist.

 
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