Die Brüder Karamasow

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2. Beim Vater

Zuallererst ging Aljoscha zum Vater. Als er sich dem Haus näherte, fiel ihm ein, daß der Vater ihn am Tag vorher dringend gebeten hatte, so hereinzukommen, daß sein Bruder Iwan es nicht merkte. ›Warum?‹ fragte sich Aljoscha jetzt. ›Wenn der Vater mir etwas allein sagen will, warum soll ich denn heimlich hereinkommen? Wahrscheinlich wollte er gestern etwas anderes sagen und traf in der Aufregung nicht den richtigen Ausdruck?‹ Dennoch war er sehr froh, als Marfa Ignatjewna, die ihm öffnete – Grigori war krank und lag im Seitengebäude im Bett –, ihm mitteilte, Iwan Fjodorowitsch sei vor zwei Stunden ausgegangen.

»Und der Vater?«

»Der ist aufgestanden und trinkt Kaffee«, antwortete Marfa Ignatjewna ein wenig trocken.

Aljoscha trat ein. Der Alte saß am Tisch, in Pantoffeln und einem alten Paletot, und sah ohne besondere Aufmerksamkeit, mehr zur Unterhaltung, Rechnungen durch. Er war allein im Hause; Smerdjakow war ausgegangen, um zum Mittagessen einzukaufen. Seine Gedanken waren nicht bei den Rechnungen. Obgleich er zeitig aufgestanden war und ein forsches Wesen herauskehrte, sah er müde und schwach aus. Die Stirn, auf der über Nacht gewaltige blutrote Beulen entstanden waren, hatte er mit einem roten Tuch umwickelt. Auch auf der stark angeschwollenen Nase hatten sich einige, wenn auch unbedeutende, blutunterlaufene Stellen gebildet, die dem ganzen Gesicht einen besonders bösen, gereizten Ausdruck verliehen. Der Alte wußte das und sah den eintretenden Aljoscha unfreundlich an.

»Der Kaffee ist kalt«, rief er. »Ich biete ihn dir gar nicht an. Ich selbst, mein Lieber werde heute nur eine kärgliche Fischsuppe essen, wie in der Fastenzeit, und kann niemand einladen. Warum bist du gekommen?«

»Um mich nach Ihrem Befinden zu erkundigen«, antwortete Aljoscha.

»Aha. Außerdem habe ich dir gestern selbst befohlen, herzukommen. Das alles ist dummes Zeug. Du hast dich umsonst herbemüht. Ich wußte übrigens, daß du gleich angewetzt kommen würdest ...« Er sagte das in sehr feindseliger Stimmung.

Inzwischen war er aufgestanden und betrachtete sorgenvoll seine Nase im Spiegel, vielleicht zum vierzigstenmal seit dem Morgen. Dann mühte er sich, das rote Tuch ordentlicher um die Stirn zu legen.

»Ein rotes macht sich besser, ein weißes erinnert zu sehr an Krankenhaus«, bemerkte er ärgerlich. »Na«, und wie steht es bei dir? Was macht dein Starez?«

»Es geht ihm sehr schlecht, er wird vielleicht heute sterben«, antwortete Aljoscha. Der Vater hörte jedoch gar nicht zu und hatte seine Frage gleich wieder vergessen.

»Iwan ist weggegangen«, sagte er plötzlich. »Er macht seinem Bruder Mitja aus Leibeskräften die Braut abspenstig ... Darum hält er sich hier auch auf«, fügte er boshaft hinzu und starrte Aljoscha mit schiefem Mund an.

»Hat er Ihnen das selbst, gesagt?« fragte Aljoscha.

»Ja, schon längst. Was glaubst du wohl? Schon vor etwa drei Wochen. Er wird doch nicht auch gekommen sein, mir den Hals abzuschneiden? Zu irgendeinem Zweck muß er doch gekommen sein?«

»Was reden Sie da? Wie können Sie nur so etwas sagen!« rief Aljoscha bestürzt.

»Um Geld bittet er mich nicht, das ist richtig, er würde auch keine Kopeke von mir bekommen. Ich beabsichtige, möglichst lange zu leben, mein liebster Alexej Fjodorowitsch, und deshalb brauche ich jede Kopeke. Je länger ich lebe, um so nötiger brauche ich sie«, fuhr er fort, im Zimmer auf und ab gehend, die Hände in den Taschen seines weiten, fettfleckigen, gelben Sommerpaletots. »Jetzt bin ich einstweilen noch ein Mann, erst fünfundfünfzig, aber ich will noch zwanzig Jahre lang meinen Platz als Mann ausfüllen. Wenn ich alt und garstig bin, kommen die Weiber nicht mehr gutwillig, dann brauche ich Geld. Darum spare ich jetzt immer mehr zusammen, immer mehr, und zwar für mich, mein lieber Sohn Alexej Fjodorowitsch, das könnte ihr euch merken! Ich will in meiner Liederlichkeit bis zu meinem Ende weiterleben, das merkt euch. Die Liederlichkeit ist der schönste Genuß, alle Leute schimpfen auf sie, dabei leben sie doch alle liederlich, nur tun sie es heimlich – ich tue es öffentlich. Meine Offenherzigkeit ist auch der Grund, weshalb die anderen über mich herfallen. In dein Paradies, Alexej Fjodorowitsch, will ich gar nicht hinein, für einen ordentlichen Menschen schickt es sich gar nicht, ins Paradies einzugehen, selbst wenn es eins gibt. Nach meiner Ansicht werde ich, sobald ich mal eingeschlafen bin, nicht wieder aufwachen, und nichts wird mehr sein! Erinnert euch meiner, wenn ihr wollt – wollt ihr nicht, so hol euch der Teufel! Das ist meine Philosophie. Gestern hat Iwan hier schöne Reden gehalten, obwohl wir alle betrunken waren. Iwan ist ein Prahlhans, er ist nicht sehr gelehrt und besonders gebildet auch nicht. Er schweigt und lächelt über einen, das ist seine ganze Kunst.«

Aljoscha hörte schweigend zu.

»Warum spricht er nicht mit mir? Und wenn er spricht, so schauspielert er. Er ist ein Schuft, dein Iwan! Gruschenka aber werde ich heiraten, sobald ich nur will. Denn wenn man Geld hat, braucht man nur zu wollen, Alexej Fjodorowitsch! Mit Geld läßt sich alles einrichten. Eben das fürchtet Iwan, deshalb paßt er auf mich auf. Damit ich sie nicht heirate! Deshalb drängt er auch Mitka, Gruschenka zu heiraten. Auf diese Weise will er mich von ihr fernhalten – als ob ich ihm Geld vererbe, wenn ich sie nicht heirate! Andererseits will er sich, wenn Mitka Gruschenka heiratet, dessen reiche Braut nehmen, das ist seine Spekulation! Er ist ein Schuft, dein Iwan!«

»Wie gereizt Sie sind! Das rührt von gestern her. Sie sollten sich hinlegen«, sagte Aljoscha.

»Siehst du, wenn du das sagst«, bemerkte der Alte, als käme ihm dieser Gedanke zum erstenmal, »wenn du das sagst, bin ich dir nicht böse. Auf Iwan wäre ich böse, würde er dasselbe sagen. Nur wenn ich mit dir zusammen war, hatte ich manchmal Augenblicke, in denen ich gut war, sonst bin ich ein ganz schlechter Kerl.«

»Sie sind nicht schlecht, nur Ihre Seele ist entstellt«, sagte Aljoscha lächelnd.

»Hör mal, ich wollte diesen rohen Menschen, den Mitka, heute schon einsperren lassen, und ich weiß auch jetzt noch nicht, wie ich mich entscheide. Zwar ist es heutzutage üblich, den Respekt vor Vater und Mutter für einen überholten Standpunkt zuhalten, doch nach dem Gesetz ist es auch jetzt, glaube ich, noch nicht erlaubt, bejahrte Väter in ihrem eigenen Haus an den Haaren zu ziehen, auf den Boden zu werfen, ihnen mit dem Stiefelabsatz in die Visage zu treten und sich zu rühmen, man werde wiederkommen und sie ganz totschlagen, und das alles vor Zeugen! Ich könnte ihn, wenn ich wollte, sofort einsperren lassen und ihn gehörig in Verlegenheit bringen!«

»Sie wollen ihn also nicht verklagen?«

»Iwan hat mir abgeraten. Ich würde mich ja nicht um Iwans Rat kümmern, aber ich habe da meine eigenen Gedanken.« Zu Aljoscha hinübergebeugt, fuhr er fast flüsternd fort: »Wenn ich ihn einsperren lasse, den Schuft, erfährt sie es und läuft gleich zu ihm. Wenn sie aber heute hört, daß er mich schwachen alten Mann halbtot geschlagen hat, wird sie sich vielleicht von ihm abwenden und mich besuchen ... Siehst du, so ist nun mal ihr Charakter, sie handelt oft nur den Leuten zum Trotz. Ich kenne sie durch und durch! Na, wie ist es, trinkst du nicht einen Kognak? Nimm doch ein bißchen kalten Kaffee, ich gieße dir ein viertel Gläschen Kognak dazu, das bessert den Geschmack, mein Lieber.«

»Nein, danke, nicht nötig. Aber dieses Brötchen werde ich mitnehmen, wenn Sie erlauben«, sagte Aljoscha, nahm ein Dreikopekenbrötchen und steckte es in seine Kuttentasche. »Kognak sollten auch Sie nicht trinken«, sagte er behutsam und schaute dem Alten ins Gesicht.

»Da hast du recht, er reizt nur, anstatt zu beruhigen. Na, nur ein einziges Gläschen ... Ich will mir aus dem Schränkchen gleich mal ...«

Er schloß das »Schränkchen« auf, goß sich ein »GIäschen« ein, trank es aus, schloß das Schränkchen wieder zu und steckte den Schlüssel in die Tasche.

»Und damit basta, von einem Gläschen krepiere ich nicht.«

»Sie sind ja jetzt auch ruhiger geworden«, sagte Aljoscha lächelnd.

»Hm! Dich liebe ich auch ohne Kognak, doch den Schuften gegenüber bin ich auch ein Schuft. Iwan fährt nicht nach Tschermaschnja. Warum? Er will spionieren, ob ich Gruschenka viel gebe, wenn sie zu mir kommt. Alle sind sie Schufte! Und Iwan erkenne ich überhaupt nicht an, ich kenne ihn gar nicht. Wo hat er nur sein Wesen her? Das ist gar nicht unsere Denkungsart. Und dem soll ich etwas hinterlassen? Ich werde überhaupt kein Testament hinterlassen, das könnt ihr euch merken. Und Mitka werde ich zerdrücken wie eine Schabe. Ich zerquetsche die schwarzen Schaben nachts immer mit dem Pantoffel, das knackt nur so, wenn man drauftritt. So wird auch dein Mitka einmal knacken. Ich sage dein Mitka, weil du ihn so liebst. Siehst du, du liebst ihn, aber ich fürchte mich deswegen nicht. Nur wenn Iwan ihn lieben würde – dann hätte ich Angst um mich. Aber Iwan liebt niemanden, er ist von anderer Art als wir. Menschen wie Iwan, mein Lieber, sind anders als wir, sind Staub, der sich erhebt. Wenn aber der Wind bläst, verweht der Staub ... Gestern, als ich dir sagte, du möchtest mich heute besuchen, hatte ich einen dummen Gedanken. Ich wollte durch dich etwas über Mitka erfahren. Nämlich: wenn ich ihm jetzt tausend oder, sagen wir, zweitausend Rubel auszahle, ob er dann wohl, ein Bettler und Lump, wie er ist, bereit wäre, sich von hier wegzuscheren, auf fünf Jahre oder besser auf fünfunddreißig, aber ohne Gruschenka, jetzt und für immer?«

»Ich werde ihn fragen ...«, murmelte Aljoscha. »Wenn es dreitausend wären, würde er vielleicht ...«

»Unsinn! Jetzt brauchst du ihn überhaupt nicht mehr zu fragen, es ist nicht mehr nötig! Ich habe es mir anders überlegt. Mein gestriger Einfall war eine Dummheit. Nichts werde ich geben, gar nichts, ich brauche mein Geld allein!« sagte der Alte und machte eine energische Handbewegung. »Auch ohne das werde ich ihn wie eine Schabe zerquetschen. Sag ihm nichts, sonst macht er sich noch vergebliche Hoffnungen. Und auch du hast jetzt nichts mehr bei mir zu suchen. Mach, daß du wegkommst! Seine Braut Katerina Iwanowna, die er die ganze Zeit ängstlich vor mit verborgen hat, wird die ihn heiraten? Du bist ja wohl gestern bei ihr gewesen?«

 

»Sie will um keinen Preis von ihm lassen.«

»Na ja, diese Sorte von zartfühlenden Frauen liebt ja gerade solche Männer, die Wüstlinge und Schufte sind. Dumm sind sie, diese blassen Fräulein, das sage ich dir! Na, wenn ich seine Jugend hätte und mein Gesicht von damals – ich sah mit achtundzwanzig besser aus als er jetzt –, würde ich ebensolche Eroberungen machen wie er. Er ist eine Kanaille! Aber Gruschenka bekommt er doch nicht, die soll er nicht haben! Zu Dreck werde ich ihn machen!«

Bei den letzten Worten war er wieder in Wut geraten.

»Mach, daß du wegkommst! Du hast hier nichts mehr zu schaffen«, sagte er barsch.

Aljoscha trat zu ihm, um sich zu verabschieden, und küßte ihn auf die Schulter.

»Warum das?« fragte der Alte erstaunt. »Wir werden uns ja noch wiedersehen. Oder meinst du, wir werden uns nicht mehr wiedersehen?«

»Durchaus nicht. Ich habe es ohne besondere Absicht getan.«

»Na, ich habe auch nur so gefragt ...«, sagte der Alte und sah ihn an. »Hör mal«, rief er ihm nach, »komm bald mal wieder! Zur Fischsuppe. Ich werde Fischsuppe kochen lassen, eine besondere, nicht so wie heute, komm bestimmt! Komm gleich morgen, hörst du, komm morgen!«

Kaum war Aljoscha aus der Tür, ging der Alte wieder zum »Schränkchen« und goß sich noch ein »Gläschen« hinter die Binde.

»Mehr trinke ich jetzt nicht!« murmelte er, räusperte sich, schloß das Schränkchen wieder zu und steckte den Schlüssel in die Tasche. Dann ging er in sein Schlafzimmer und sank kraftlos aufs Bett, wo er im nächsten Augenblick einschlief.

3. Er gibt sich mit Schulknaben ab

›Gott sei Dank, daß er mich nicht nach Gruschenka gefragt hat!‹ dachte Aljoscha, als er vom Vater herauskam und die Richtung nach dem Haus von Frau Chochlakowa einschlug. ›Sonst hätte ich ihm am Ende von der gestrigen Begegnung mit Gruschenka erzählen müssen?‹ Aljoscha sagte sich betrübt: ›Gewiß haben die beiden Kämpfer über Nacht neue Kraft gesammelt und ihre Herzen wieder verhärtet. Der Vater ist in gereizter, zorniger Stimmung, er hat sich etwas ausgedacht und bleibt dabei. Und wie steht es mit Dmitri? Der wird sich gleichfalls über Nacht noch mehr verhärtet haben. Sicher ist er auch gereizt und zornig und hat sich auch etwas ausgedacht. Jedenfalls muß ich ihn heute noch aufsuchen! ...‹ Aljoscha fand nicht die Möglichkeit, darüber lange nachzugrübeln. Er hatte plötzlich ein Erlebnis, das zwar bedeutungslos schien, ihn aber doch stark erregte. Kaum hatte er nämlich den Marktplatz überquert und war in eine Gasse eingebogen, um zur Michailowskajastraße zu gelangen, einer ParalleIstraße der Bolschajastraße, von ihr nur durch einen Graben getrennt –, unsere ganze Stadt ist von Gräben durchzogen –, da sah er an der keinen Brücke eine Gruppe Schulknaben von höchstens neun bis elf Jahren. Sie waren auf dem Heimweg von der Schule; die einen hatten ihre Ranzen auf dem Rücken, andere trugen Lederbeutel an Riemen über der Schulter, manche waren nur in Jacken, andere hatten kleine Mäntel an, einige auch hohe Stiefel mit Faltschäften, in denen die Jungen von wohlhabenden Eltern besonders gern umherstolzierten. Sie redeten lebhaft über etwas und schienen untereinander zu beraten. Aljoscha konnte an Kindern nie teilnahmslos vorübergehen, auch in Moskau hatte er das nicht gekonnt; und obgleich er etwa dreijährige Kinder am meisten mochte, hatte er auch etwas übrig für Schulknaben von zehn oder elf. Trotz aller Sorgen kam ihm doch auf einmal die Lust an, zu ihnen zu gehen und sich in ein Gespräch einzulassen. Als er näher kam und ihre rotbäckigen erregten Gesichter sah, bemerkte er, daß jeder Junge einen Stein in der Hand hatte, manche auch zwei. An einem Zaun, jenseits des Grabens, etwa dreißig Schritt von der Gruppe entfernt, stand noch ein Junge, auch ein Schüler und auch mit einem Bücherbeutel an der Seite, der Statur nach etwa zehn oder noch jünger, ein blasses, kränkliches Bürschlein mit funkelnden schwarzen Augen. Er beobachtete gespannt die Gruppe der sechs Schüler, offenbar seine Kameraden, die mit ihm zusammen die Schule verlassen hatten und mit denen er augenscheinlich in Feindschaft stand.

Aljoscha trat an sie heran, musterte einen krausköpfigen, blonden, rotbäckigen Jungen in einer schwarzen Jacke und sagte: »Als ich noch so einen Bücherbeutel trug wie ihr, hatten wir ihn auf der linken Seite, um mit der rechten Hand gleich hinfassen zu können. Ihr tragt euren Bücherbeutel rechts, das muß doch unbequem sein?«

Aljoscha hatte ohne alle vorherige schlaue Berechnung geradezu sachlich begonnen; anders darf ein Erwachsener auch nicht beginnen, wenn er das Vertrauen eines Kindes, besonders einer ganzen Gruppe von Kindern erlangen will. Man muß ernst und sachlich beginnen, sich mit ihnen völlig auf gleichen Fuß stellen. Aljoscha hatte das instinktiv begriffen.

»Der ist doch Linkshänder«, antwortete ein anderer Schüler, ein strammer, gesunder elfjähriger Bursche.

Die übrigen fünf Knaben blickten Aljoscha unverwandt an.

»Er schmeißt auch die Steine mit der linken Hand«, bemerkte ein dritter Junge.

In diesem Augenblick kam ein Stein geflogen und streifte den Linkshänder. Er tat aber keinen weiteren Schaden, obwohl er geschickt und kräftig geworfen worden war. Er kam von dem Jungen jenseits des Grabens.

»Schmeiß wieder, gib es ihm ordentlich, Smurow!« schrien alle.

Smurow, der Linkshänder, ließ auch nicht lange auf sich warten und warf einen Stein nach dem Jungen auf der anderen Grabenseite, doch ohne Erfolg: Der Stein fiel auf die Erde. Der Junge warf sofort einen Stein zurück, traf aber diesmal Aljoscha, und zwar ziemlich schmerzhaft an der Schulter. Der Junge auf der anderen Grabenseite hatte die Taschen voll Steine. Das sah man auf dreißig Schritt Entfernung an dem aufgebauschten Mantel.

»Er hat auf Sie gezielt, absichtlich auf Sie! Sie sind doch Karamasow, nicht wahr?« schrien die Knaben lachend. »Nun aber alle auf ihn! Los, Feuer!«

Sechs Steine flogen zugleich, und einer davon traf den Jungen am Kopf. Er fiel hin, aber sprang sofort wieder auf und antwortete mit erbitterten Steinwürfen. Es begann ein ununterbrochenes gegenseitiges Bombardement, wobei sich herausstellte, daß auch viele in der Gruppe Steine in den Taschen hatten.

»Was macht ihr denn! Schämt ihr euch nicht? Sechs gegen einen! Ihr tötet ihn ja!« rief Aljoscha.

Er sprang vor, um mit seinem Körper den Jungen jenseits des Grabens zu decken. Drei oder vier hörten auf zu werfen.

»Er hat selber angefangen!« schrie einer in einem roten Hemd mit erregter Kinderstimme. »Er ist ein Schuft! In der Schule hat er Krassotkin mit einem Messer gestochen, daß es blutete. Krassotkin wollte nur nicht petzen, aber jetzt muß der da seine Prügel beziehen!«

»Wofür? Ihr habt ihn doch sicher auch geärgert?«

»Jetzt hat er Sie wieder mit einem Stein in den Rücken getroffen. Er kennt Sie«, riefen die Kinder. »Er wirft nur nach Ihnen, nicht nach uns. Alle auf ihn! Ziel nicht vorbei, Smurow!«

Von neuem begann das Bombardement, und diesmal bösartiger.

Der Junge jenseits des Grabens wurde von einem Stein an der Brust getroffen, er schrie auf, fing an zu weinen und lief die Michailowskajastraße hinauf.

In der Gruppe erscholl ein Triumphgeschrei: »Ah, er hat Angst, er kneift, der Bastwisch!«

»Sie wissen nicht, was für ein gemeiner Kerl er ist, Karamasow. Ihn totzuschlagen wäre noch zuwenig«, sagte der Bursche in der Jacke wieder mit funkelnden Augen; er schien der älteste zu sein.

»Was ist er denn für einer?« fragte Aljoscha. »Er hat wohl gepetzt, wie?«

Die Knaben wechselten lächelnd Blicke.

»Geben Sie auch die Michailowskajastraße entlang?«,fuhr derselbe Junge fort. »Da werden Sie ihn einholen. Sehen Sie, er ist wieder stehengeblieben, er wartet und dreht sich nach Ihnen um.«

»Er dreht sich nach Ihnen um, er dreht sich nach Ihnen um!« fielen die anderen ein.

»Fragen Sie ihn doch mal, ob er einen zerzausten Bastwisch liebt. Verstehen Sie. Fragen Sie ihn mal.«

Darauf erscholl, allgemeines Gelächter. Aljoscha sah die Burschen an.

»Gehen Sie nicht hin, der wird Ihnen eins auswischen!« warnte ihn Smurow.

»Nach dem Bastwisch werde ich ihn nicht fragen, damit ärgert ihr ihn sicher. Aber ich werde mich bei ihm erkundigen, was ihr gegen ihn habt.«

»Erkundigen Sie sich nur, erkundigen Sie sich nur!« riefen die Jungen lachend.

Aljoscha ging über die kleine Brücke und am Zaun entlang die Anhöhe hinauf, genau auf den Jungen zu.

»Nehmen Sie sich in acht!« riefen ihm die anderen warnend nach. »Er hat keine Angst vor Ihnen, er wird heimtückisch zustechen, wie er es mit Krassotkin gemacht hat. »

Der Junge erwartete ihn, ohne sich von der Stelle zu rühren.

Als Aljoscha ganz nahe war, erblickte er einen Jungen von höchstens neun Jahren, klein und schwächlich, mit einem blassen, mageren, länglichen Gesichtchen und großen, dunklen Augen, die ihn böse ansahen. Bekleidet war er mit einem ziemlich abgetragenen Mantel, aus dem er völlig herausgewachsen war. Aus den Ärmeln ragten die nackten Arme. Auf dem rechten Knie der Hose saß ein großer Flicken, und an der rechten Stiefelspitze, wo die große Zehe sitzt, befand sich ein großes Loch, dessen Rand mit Tinte beschmiert war. Die beiden Taschen seines Mantels waren mit Steinen gefüllt. Aljoscha blieb in zwei Schritt Entfernung vor ihm stehen und sah ihn fragend an. Der Junge, der sogleich an Aljoschas Augen erkannte, daß dieser ihn nicht schlagen wollte, hatte keine Angst und begann von selbst: »Ich bin einer, und die sind sechs. Aber ich werde sie alle allein verprügeln!« sagte er plötzlich mit blitzenden Augen.

»Der eine Stein muß dich sehr schmerzhaft getroffen haben?« bemerkte Aljoscha.

»Aber ich habe Smurow am Kopf getroffen!« rief der Junge.

»Die anderen sagen, du kennst mich und hast aus irgendeinem Grund nach mir geworfen?« fragte Aljoscha.

Der Junge sah ihn finster an.

»Ich kenne dich nicht. Kennst du mich?« fragte Aljoscha weiter.

»Lassen Sie mich in Ruhe!« schrie der Junge gereizt, ohne sich vom Platz zu rühren. Er schien noch etwas zu erwarten, seine Augen funkelten wieder böse.

»Nun gut, ich gehe«, sagte Aljoscha. »Aber ich kenne dich nicht und will dich nicht ärgern. Die anderen haben mir gesagt, womit sie dich aufziehen. Ich will dich aber nicht aufziehen. Lebe wohl!«

»Mönch mit Tafthosen!« schrie der Junge und verfolgte Aljoscha mit demselben herausfordernden Blick. Zugleich stellte er sich in Positur, weil er damit rechnete, daß sich Aljoscha jetzt bestimmt auf ihn stürzen würde.

Doch Aljoscha wandte sich um, sah ihn nur an und ging weiter. Kaum hatte er aber drei Schritte getan, da traf ihn ein Stein schmerzhaft im Rücken; es war der größte, den der Junge in der Tasche gehabt hatte.

»Du wirfst von hinten? Da haben die anderen also recht, wenn sie sagen, daß du einen heimtückisch überfällst?« Mit diesen Worten drehte sich Aljoscha wieder um, doch der wütende Junge warf erneut nach Aljoscha, und zwar zielte er diesmal aufs Gesicht. Aljoscha konnte rechtzeitig parieren, so daß der Stein ihn nur am Ellbogen traf.

»Schämst du dich nicht? Was habe ich dir getan?« rief er.

Schweigend und verbissen erwartete der Junge nichts anderes, als daß sich Aljoscha jetzt auf ihn stürzte. Als dies aber auch jetzt nicht geschah, geriet er wie ein wildes Tier in Raserei. Er stürzte selber auf Aljoscha los, und ehe der sich rühren konnte, hatte der Junge den Kopf gesenkt, mit beiden Händen Aljoschas linke Hand gepackt und ihn schmerzhaft in den Mittelfinger gebissen. Er biß fest zu und ließ etwa zehn Sekunden nicht los. Aljoscha schrie vor Schmerz laut auf und versuchte mit aller Kraft die Hand wegzuziehen. Der Junge gab den Finger endlich frei und sprang zurück. Der Finger war schmerzhaft zerbissen, dicht am Nagel und bis auf den Knochen; er blutete stark. Aljoscha wickelte das Taschentuch fest um die verwundete Hand; womit er fast eine Minute zu tun hatte. Währenddessen stand der Junge da und wartete. Endlich schaute ihn Aljoscha ruhig an.

 

»So«, sagte er. »Du siehst, wie du mich gebissen hast, nun ist es wohl genug, nicht wahr? Sagst du mir jetzt, was ich dir getan habe?«

Der Bursche sah ihn verwundert an.

»Ich kenne dich zwar gar nicht und sehe dich zum erstenmal«, fuhr Aljoscha immer im gleichen ruhigen Ton fort, »aber ich muß dir doch etwas getan haben. Du würdest mir doch nicht grundlos solchen Schmerz zufügen. Was also habe ich dir getan, und womit habe ich mich gegen dich vergangen? Sag es mir, bitte!«

Statt zu antworten, fing der Junge an zu weinen und lief weg. Aljoscha folgte ihm langsam in die Michailowskajastraße und sah ihm noch lange nach. Der Junge lief weiter, ohne das Tempo zu mäßigen oder sich umzusehen, wahrscheinlich immer noch weinend. Aljoscha nahm sich vor, ihn so bald wie möglich zu besuchen und diesen rätselhaften Vorgang, der ihn sehr beeindruckt hatte, aufzuklären. Jetzt fehlte ihm die Zeit dazu.

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