Ein erlesener Todesfall

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Aber da klingelte Marcellos Telefon.

„Du solltest doch besser gehen“, sagte er. „Lass uns später reden.“

Froh darüber, dass ihr Tag eine zweite Begegnung mit Marcello versprach, trat Olivia durch den hohen Torbogen in den Verkostungsraum.

Der geräumige Bereich war das Herzstück der Kellerei. Von dem breiten Holztresen zu der dramatischen Kulisse aus Weinfässern mit dem goldenen La Leggenda-Logo darüber, strahlte er eine beeindruckende Atmosphäre aus.

Jeden Tag nach Eröffnung wimmelte es in dem großen Raum von Gästen, die die Auszeichnungen und Zertifikate des Weinguts bestaunten und sich die Geschichte von La Leggenda durchlasen, die auf großen Postern an den Wänden ausgestellt war – ein kürzlich hinzugefügtes, touristenfreundliches Detail, das bereits ein Touristenmagnet war. Da es Hochsommer war, wusste Olivia, dass es ein anstrengender Tag werden würde und sie Paolo, einer der Kellner aus dem berühmten Restaurant der Kellerei, um Hilfe bitten müssen würde.

Olivia schloss die Seitentür auf und trat hinter den Tresen. Das war ihr Reich, gesäumt von Kühlschränken und Regalen und Schränken mit Gläsern. Hinter der beeindruckenden Kulisse befand sich ein sogar noch größerer Bereich – der geräumige Lagerraum mit Reihen aus Regalen, auf denen Tausende von Weinen gelagert waren.

Ein Stimmengewirr kündigte die Ankunft der ersten Gäste an. Eine Gruppe aus drei Pärchen kam auf sie zu.

Eifrig trat Olivia vor. Sie erkannte ihre Akzente, und es versetzte ihr jedes Mal einen besonderen Kick, Gäste aus dem eigenen Land zu bedienen. Immerhin wusste sie genau, wie viele Stunden sie in den Staaten damit verbracht hatte, Reisewebseiten zu durchstöbern und sich den Tag vorzustellen, an dem sie endlich ihren Traumurlaub antreten würde.

Sie wollte, dass der Besuch auf La Leggenda für all ihre Landsmänner ein einzigartiges Erlebnis werden würde.

„Wir haben hier zum Mittag gebucht“, teilte die dunkelhaarige Frau hinten in der Gruppe ihren Freunden mit. „Wir haben also noch Zeit für eine schnelle Weinverkostung.“

Olivias Lächeln verschwand. Sie starrte die Gruppe entsetzt an.

Die Stimme der Frau kam ihr bekannt vor.

Olivia war sich sogar sicher, dass sie sie kannte.

Wenn sie sich recht erinnerte, war der Name der Frau Leanne Johnson. Während ihrer vergangenen Karriere hatte Olivia sie gut gekannt, aber sie war eine Person, von der sie nie erwartet hatte, sie jemals wiederzusehen, und das auch gar nicht wollte.

Wenn Leanne sie erkannte, wusste Olivia, dass ihre Vergangenheit sie sofort einholen würde, und zwar auf die denkbar schlimmste und peinlichste Art und Weise.

KAPITEL DREI

Panik stieg in Olivia auf, als die Gruppe auf sie zukam.

Wenn Leanne erkannte, wer sie war, würde es im besten Fall demütigend enden, im schlimmsten desaströs.

Während ihrer ehemaligen Karriere als Werbeaccountmanagerin hatte Olivia eine Kampagne für eine Weinmarke namens Valley Wines geleitet.

Sie hatte all ihre Energie in diese Kampagne gesteckt. Sie hatte wochenlang bis in die frühen Morgenstunden an den Werbeslogans und am Branding gearbeitet, an den Logos, den Formulierungen und der Gesamtstrategie.

Die Kampagne war außerordentlich erfolgreich verlaufen und das Label hatte hohe Marktanteile verschlungen und unterwegs einige Konkurrenten ausgelöscht.

Während der Kampagne hatte Olivia bemerkt, dass die Weine allerdings nicht nur durchschnittlich, sondern schlichtweg widerlich waren. Die Weine waren nicht einmal echte Weine gewesen. Sie waren Traubensaft gemixt mit Geschmacksstoffen und minderwertigem Alkohol. Valley Wines hatte an jeder Ecke des Herstellungsprozesses gespart. Sie hatten an Ecken gespart, an denen es nicht einmal Ecken gegeben hatte.

Während der Billigwein auf einer Welle von Olivias Anstrengungen nach vorn katapultiert wurde, ihr einen enormen Bonus einfuhr und seine Konkurrenz vernichtete, die den Erfolg viel eher verdient hätten, hatte das Gesundheitsamt das Gelände untersucht und die illegalen Inhaltsstoffe und die unhygienischen Vorgänge dort entdeckt – man hatte sogar eine tote Ratte in einem der Tanks gefunden.

Diese Razzia hatte Valley Wines ein für alle Mal untergehen lassen – zusammen mit Olivias Ansehen in der Werbewelt.

Ihre größte Angst war nun, dass ihre jetzigen Arbeitgeber von ihrer Verbindung zu dieser berüchtigten Marke erfahren würden. Jedem war bekannt, was nach der Razzia des Gesundheitsamts passiert war. Die Neuigkeiten hatten sich in der ganzen Welt ausgebreitet und jeder Weinhersteller, Weinhändler und Weintrinker hatte Valley Wines mit Leidenschaft diskutiert.

Ratten in den Kesseln! Gab es etwas Schlimmeres? Das La Leggenda-Team, und vor allem Marcello, wären geschockt. Sie würden glauben, dass sie sich fälschlicherweise als ein passionierter Weinliebhaber präsentiert hatte. Sie würden sie vielleicht sogar sofort entlassen.

Hier war sie nun, mit erstarrter Miene, als Leanne Johnson auf sie zukam.

Leanne leitete eine Presseagentur, mit der Olivia während der ganzen Valley Wines-Kampagne zusammengearbeitet hatte. Leannes Unternehmen hatte viele der Produktstarts und Events koordiniert, die landesweit stattgefunden hatten.

Leanne war ein auffälliges Großmaul mit einer schrillen Stimme. Wenn sie Olivia erkannte, würde die gesamte Kellerei bald wissen, was sie miteinander gemeinsam hatten und wie Olivia einst unermüdlich diesen Billigwein vermarktet hatte. Wenn ihr Mittagessen vorbei war, würde die halbe Toskana darüber Bescheid wissen, was Olivia einst getan hatte.

Olivia warf einen nervösen Blick in das Restaurant, und ihr Herz rutschte ihr in die Hose, als sie die todschicke Managerin Gabriella an der Rezeption stehen sah.

Gabriella war Marcellos Exfreundin und hatte Olivia vom ersten Tag an nicht ausstehen können, da sie gespürt hatte, dass Marcello sie bevorzugte. Wenn sie von Olivias Assoziation mit Valley Wines erfuhr, würde sie diese Information nutzen, um Olivia in jeder nur denkbaren Weise zu sabotieren.

Olivia hatte beinahe jeden Tag mit Leanne gesprochen. Sie hatten darüber gewitzelt, dass sie eine Standverbindung zueinander brauchten.

Aber – und das konnte Olivia vielleicht retten – sie und Leanne hatten sich nur selten gesehen. Sie hatten nur ein einziges Meeting zum Start der Kampagne gehabt, denn Leanne hatte ihren Sitz in New York und hatte sich um alle außerstaatlichen Veranstaltungen gekümmert, an denen Olivia nicht teilnehmen konnte.

Urplötzlich hatte Olivia eine Idee.

Sie würde so tun müssen, als wäre sie Italienerin.

Wenn sie mit stark italienischem Akzent sprach, würde das ihre amerikanische Redeweise überdecken, welche sie sofort verraten würde.

Olivia legte wieder ihr professionelles Lächeln auf, als Leanne ihre Ellbogen erwartungsvoll auf den Tresen stützte. Sie hoffte, sie würde damit durchkommen. Es war ihre einzige Chance.

„Buon giorno“, verkündete sie.

Ihre Stimme war höher als normal. Okay, das lag daran, dass sie eine Mordsangst davor hatte, erkannt zu werden, aber es kam ihr auch zugute.

„Ich heiße Sie so herzlich auf La Leggenda willkommen“, quietschte sie und bemühte sich, genauso wie Nadia, die leitende Winzerin, zu klingen, wenn diese Englisch sprach. „Darf ich Ihnen unser Verkostungsmenü vorstellen?“

Niemandem kam ihr starker, gekünstelter Akzent verdächtig vor, und zum Glück starrte Leanne bloß fasziniert auf die Verkostungsliste, verzaubert von den Beschreibungen der Weine.

Eines der Pärchen innerhalb der Gruppe begann auf einmal, angeregt in einer anderen Sprache miteinander zu sprechen und einen erschrockenen Moment lang blieb Olivias Herz stehen. Wenn diese beiden Italiener waren, war sie erledigt. Ihr kläglicher Täuschungsversuch wäre gescheitert.

Sie atmete erleichtert auf, als sie erkannte, dass sie Spanisch sprachen. Gott sei Dank, sie war gerettet.

Sie wagte es nicht, Leanne anzusehen, als sie den ersten Wein präsentierte.

„Das hier ist der magnifico Vermentino“, erklärte sie und hielt ihnen die Flasche hin. „Dieser Wein ist – äh – ganz und gar magnifico, hergestellt aus regionalen Trauben, die in meeresnahen Regionen gedeihen. Er ist bekannt für seinen blumigen und fruchtigen Geschmack und wird vor allem für seine salzigen und zitronigen Obertöne gelobt. Magnifico!“, schloss sie mit einer extravaganten Armbewegung ab und war stolz auf die italienische Authentizität, die sie gerade zum Besten gegeben hatte.

Die Gäste griffen eifrig nach den feinen Kristallgläsern und schwenkten ihre Probierportionen darin herum. Sie liebte es, sowohl die Konzentration auf ihren Gesichtern zu beobachten, als sie versuchten, die Geschmacksnoten und Aromas, die sie beschrieben hatte, zu erkennen, als auch die Freude, wenn sie endlich an diesem perfekten Wein nippten.

Außer Leanne. Sie starrte Olivia nur neugierig an, und Olivia merkte, wie ihr Magen sich langsam zusammenzog.

„Kenne ich Sie von irgendwoher?“, fragte sie. „Das klingt vielleicht nach einer seltsamen Frage, aber Ihr Gesicht kommt mir bekannt vor. Sind Sie jemals in New York gewesen? Haben Sie vielleicht etwas mit Eventmanagement zu tun?“

Olivia starrte sie nur atemlos an. Was könnte sie antworten, ohne zu lügen? Sie wollte nicht lügen, obwohl ihr ein paar Szenarios durch den Kopf schwirrten – sie könnte sagen, dass sie eine Schwester hatte, die in einer Reality-Show im Fernsehen auftrat, oder eine Cousine, die ein Model in Manhattan war. Aber diese Geschichten würden sie nur noch tiefer ins Chaos reißen. Das durfte sie nicht riskieren.

„Ich bin auf vielen der Fotos des Weinguts, auf ganz vielen! Wir haben eine Webseite, und jeder macht Bilder von uns für Instagram. Alle turistas lieben es, Selfies von diesem magnifico Ort zu schießen!“

Sie wartete, die Flasche fest umklammert, um zu sehen, ob Leanne ihr diese absolut wahre, aber auch völlig falsche, Erklärung abkaufen würde.

 

„Ja, das wird’s sein!“ Leanne schnippte mit den Fingern. „Ich habe mir Ihre Location auf Instagram angesehen, als ich unsere Weintour geplant habe. Es ist wirklich ein sehr fotogenes Setting.“ Sie wendete sich zu ihrem Partner. „Da fällt mir ein, ich muss dir die Bilder zeigen, die ich auf meinem Spaziergang heute Morgen gemacht habe. Der Sonnenaufgang über den Bergen war spektakulär. Ich suche sie dir schnell mal raus.“

„Genießen Sie den Vermentino.“ Olivia lächelte. „Ich bin in uno momento wieder da und schenke Ihnen den nächsten Weißwein ein, eine Mischung aus regionalen Friulano-, Pinot Bianco- und Sauvignon Blanc-Trauben.“

Erleichtert wankte sie auf wackeligen Beinen davon und zog sich in das Hinterzimmer zurück, um ihr Büchlein mit italienischen Redewendungen zu Rate zu ziehen, das sie in ihrer Handtasche mit sich trug. Ihr schien, dass sie ein wenig zu freizügig mit dem Gebrauch des Wortes magnifico gewesen war. Sie musste sich dringend nach Alternativen umsehen.

*

Nach der Touristen-Rushhour zur Mittagszeit bemerkte Olivia, dass sie nur noch eine Flasche der berühmten Miracolo-Rotweinmischung im Lager hatte. In der letzten Woche waren die Gäste unermüdlich in die Probierstube geströmt, und Marcellos Bruder Antonio, der sich sonst um den Lagerbestand kümmerte, hatte ein neues Feld bepflanzt. Daher war er zu beschäftigt gewesen, um für Nachschub zu sorgen.

Olivia beschloss, die momentane Flaute zu nutzen, um Antonio zu finden.

Sie unternahm einen kleinen Umweg ins Restaurant, wo der Mittagsservice gerade zu Ende gegangen war. Paolo räumte die Tische im Außenbereich ab. Um ihn zu erreichen, musste Olivia allerdings den Spießrutenlauf aus den dolchartigen Blicken der Restaurantmanagerin auf sich nehmen.

Das Restaurant zu betreten fühlte sich für sie an, als würde sie den Weg über ein Minenfeld wagen, dachte Olivia, als sie sah, wie die perfekt frisierte Gabriella sich zu ihr umdrehte und sie anstarrte.

„Buon giorno“, rief Olivia und versuchte, überlegen, aber dennoch freundlich zu wirken.

Es war nicht ihre Schuld, dass Gabriella sie nicht mochte. Sie war Marcellos Exfreundin, die ihren Job nach der Trennung weiterhin behalten hatte und, wie Olivia erfahren hatte, grundsätzlich jeden verachtete, den Marcello mochte. Es war nichts Persönliches – oder vielleicht doch?

„Was tust du hier?“, rief Gabriella misstrauisch.

„Ich will Paolo fragen, ob er mich kurz vertreten kann, während ich Nachschub an Wein besorge“, erklärte Olivia. „Es ist nur für zwanzig Minuten.“

„Wir haben viel zu tun. Sehr viel. Ich brauche ihn hier“, wendete Gabriella ein und machte eine ausladende Handbewegung über das beinahe leere Restaurant.

Olivia wusste, dass ihr Protest zwecklos war, denn Marcello hatte selbst gesagt, dass sie wenn nötig Hilfe anfordern durfte.

„Nur zwanzig Minuten“, wiederholte sie lächelnd, wohl wissend, dass Gabriella vor Wut schäumte.

Paolo ließ sofort von seiner Aufgabe des Tischeabräumens ab und folgte ihr bereitwillig in den Verkostungsraum.

„Jedes Mal fühle ich mich etwas sicherer dabei, die Weine zu erklären“, gestand er. „Es macht Spaß, den Leuten zuzusehen, wie sie die Weine würdigen. Mehr Spaß, als den Leuten beim Essen zuzusehen, was sie wiederum kein bisschen würdigen, wenn sie merken, dass sie beobachtet werden. Vielleicht werde ich eines Tages dein Vollzeit-Assistent.“

„Das hoffe ich. Ich bin dir dankbar für deine Hilfe, und du machst das ausgezeichnet“, ermutigte Olivia ihn. Sie war sich nicht sicher, ob Paolo die Arbeit in der Weinkellerei wirklich mochte oder ob er einfach nur froh war, Gabriellas tyrannischer Kontrolle zu entkommen.

Jetzt, wo der Verkostungsraum bemannt war, eilte sie aus der Kühle hinaus in die glorreiche Nachmittagssonne und nahm sich einen Moment, um sie zu genießen. Es war ein perfekter Tag, warm und ruhig und ohne eine einzige Wolke am tiefblauen Himmel. Sie atmete den süßen, blumigen Duft des toskanischen Jasmins ein, der an der Vorderseite des Gebäudes hinaufrankte, bevor sie sich auf den Weg hinauf zu La Leggendas höheren Lagen machte, wo Antonio eine der höchstgelegenen Hänge bepflanzte.

Während ihres zügigen Aufstiegs entschloss Olivia, so viel wie möglich darüber zu lernen, was er dort tat und wieso. Diese hohen Ebenen des Weinguts sahen dem Terrain ihrer neuen Farm sehr ähnlich. Es musste ein Geheimnis geben, wie man Wein auf diesem trockenen und steinigen Grund erfolgreich anbaute.

Ein kleiner Traktor, zwei der Geländewagen des Weinguts und ein weißer Van sagten ihr, wo Antonio und sein Team gerade arbeiteten.

„Hallo, Olivia“, rief Antonio, als er sie kommen sah. „Ich habe vergessen, dir neue Weine zu bringen! Was brauchst du?“

„Ich habe nur noch eine Flasche Miracolo, und der Sangiovese geht mir auch bald aus“, sagte Olivia.

„Ich bringe sie dir heute Nachmittag“, versprach Antonio.

Er streckte seine Arme über seinem Kopf aus und klopfte dann seine Taschen nach seinen Zigaretten ab, sichtlich erleichtert, eine Pause von der anstrengenden Arbeit einlegen zu können.

„Ist dieses Land neu bepflanzt?“, fragte Olivia.

„Ja, brandneu. Wir haben entschieden, dem vorigen Terrain eine Pause zu gönnen, da es letztes Jahr keinen guten Ertrag geliefert hatte.“

„Welche Sorte pflanzt ihr hier?“, fragte sie.

„Nebbiolo. Das ist eine rote Traube mit dünner Haut, die Wein mit hohem Säuregehalt und einem unglaublichen Bouquet produziert. Es ist knifflig, diesen Wein anzubauen, und man muss den Ort sorgfältig wählen. Er mag Sonne und sandigen Boden, und diese Rebsorte bevorzugt die hochgelegenen Hänge im Südwesten. Aber saurer Boden kann in den weiten Bereichen ein Problem darstellen, also auch hier.“

„Wirklich?“ Olivia spitzte die Ohren. Sie würde den Boden auf ihrer Farm testen müssen, bevor sie mit dem Pflanzen anfing.

„Wir nutzen einen biologischen Dünger und eine Schicht aus Kompost gemischt mit Kalk. Der Kompost hilft auch, die Feuchtigkeit zu halten. Diese hochgelegenen Böden trocknen sehr schnell aus, zu schnell für den gesunden Wachstum der Trauben, vor allem, wenn sie noch jung sind.“

Das waren eine Menge Informationen. Olivia wiederholte sie für sich selbst, sich bewusst, dass Antonio sie neugierig beobachtete.

Sie war versucht, ihm von ihrem verrückten Vorhaben zu erzählen, aber entschied, dass es besser wäre, es nicht zu erwähnen. Allein das Aussprechen der Worte konnte die Unternehmung in diesem frühen Stadium verhexen. Sie wurde nervös bei dem Gedanken an das Pflanzen ihrer ersten Reben, denn das bedeutete die Möglichkeit auf haushohes Versagen.

Sie würde fürs Erste kein Wort darüber verlieren und versuchen, zu lernen, was sie nur konnte.

Olivia dankte Antonio erneut und machte sich auf den Weg zurück zur Kellerei.

Als sie eintrat, sah sie, wie Marcello gerade aus seinem Büro kam, welches auf der Rückseite der Verkostungsstube lag.

„Olivia. Können wir uns jetzt unterhalten, falls du Zeit hast?“

„Natürlich“, sagte Olivia und blickte zum Tresen, wo Paolo eine Gruppe junger, dänischer Frauen mit großem Enthusiasmus bediente. Überall sah Olivia nur lächelnde Gesichter und wusste, dass er die Situation ganz unter Kontrolle hatte, als er seine Ärmel hochschob und seine muskulösen Arme zur Schau stellte, bevor er schwungvoll eine Flasche Vermentino-Weißwein präsentierte.

„Ich habe definitiv Zeit“, bestätigte sie.

„Morgen früh muss ich nach Pisa“, erklärte Marcello. „Es ist ein Geschäftstrip, und ich hätte gern, dass du mit mir kommst, denn ich glaube, das wäre eine gute Lernerfahrung für dich. Wir werden hier um sieben Uhr losfahren müssen und den ganzen Tag unterwegs sein.“

Olivia blieb vor Aufregung der Atem weg. Die Chance, einen ganzen Tag damit zu verbringen, alles über Wein zu lernen, war eine Gelegenheit für sich, aber das alles in Gesellschaft von Marcello? Das war die Kirsche auf der Sahnehaube.

„Das würde ich liebend gerne“, willigte sie ein.

War es nur ihre Einbildung oder war Marcello tatsächlich erfreut über ihre enthusiastische Zustimmung?

„Ich freue mich schon darauf“, sagte er. „Ich glaube, das wird ein produktiver Tag für uns beide.“

Olivia sprudelte vor Aufregung. Diese Lernerfahrung war genau das, worauf sie während ihrer Zeit auf La Leggenda gehofft hatte. Es würde ein Abenteuer werden zu sehen, wie andere Farmen in der Gegend arbeiteten, und wie ihre Weine schmeckten.

„Ich habe gesehen, dass du mit Antonio gesprochen hast“, bemerkte Marcello. „Schuldet er dir etwa Wein?“

„Das tut er“, sagte Olivia. „Er hat mir versprochen, die Flaschen später vorbeizubringen.“

Marcello nickte. „Wir sind mit dem Bepflanzen dieses Feldes spät dran. Wir hoffen auf einen guten Ertrag an Trauben während der nächsten Saison, aber es ist womöglich schon zu spät, und die Trauben reifen vielleicht nicht rechtzeitig. Wir haben entschieden, dass heute die letzte Chance zum Pflanzen ist. Egal, wie lange wir heute arbeiten, die Samen müssen zum Sonnenuntergang im Boden sein.“

In diesem Moment rief jemand nach Marcello, welcher mit einer schnellen Entschuldigung wieder hineinlief, um nach dem Rechten zu sehen.

Olivia blickte ihm sorgenvoll nach.

Sie dachte, sie hätte noch Tage – Wochen – um ihren ersten Wein zu pflanzen und genug Zeit, darüber nachzudenken, zu planen und Informationen zu sammeln, bis sie diesen wichtigen Schritt wagen würde. Doch die Bombe, die Marcello gerade zum Platzen gebracht hatte, änderte nun diesen Zeitplan.

Sie hatte nicht den Luxus eines weiteren Abends, wenn sie in der nächsten Saison auch einen Ertrag vorweisen wollte.

Heute, direkt nach der Arbeit, würde sie ihre ersten Samen kaufen und pflanzen müssen.

KAPITEL VIER

Atemlos und ungeduldig eilten Olivia und Charlotte nur fünf Minuten vor Geschäftsschluss in den Eisenwarenladen im nahegelegenen Dorf Collina.

Olivia trug noch immer ihre Arbeitsklamotten. Sie hatte nicht einmal Zeit gehabt, sich umzuziehen. Als sie in die Villa zurückkehrte, hatten sie und Charlotte sich in einem Miniatur-Tornado aus Handlungseifer in den Fiat gezwängt und waren in einer Geschwindigkeit ins Dorf gerast, die selbst einen waschechten Italiener stolz gemacht hätte.

Olivia hatte nicht einmal abgebremst, als sie das beschauliche Schloss am Rande der Stadt passierten. Es war für sie ein Ritual geworden, es zu bewundern, und sie wusste, dass sie in der Vergangenheit schon einige Staus verursacht hatte, während sie ihren Hals gereckt hatte, um es zu bestaunen. Sie wurde es niemals leid, seine bröckelnden Mauern und grauen Steinzinnen anzusehen und sich zu fragen, wie es wohl vor hundert Jahren in seiner gesamten Pracht ausgesehen haben mag.

Diesmal, einzig auf ihre dringende Aufgabe konzentriert, hatte sie nicht einmal einen Seitenblick darauf geworfen.

Olivia rief der mütterlichen Verkäuferin ein freundliches buon giorno zu und bahnte sich dann schnurstracks ihren Weg in die Abteilung mit dem Zubehör für die Weinherstellung.

Der Eisenwarenladen war genau wie das Dorf Collina selbst, dachte Olivia. Überraschend klein und eng, und doch gab es dort alles, was man brauchte.

Was sollte sie kaufen? Sie starrte verwirrt auf die dicht bepackten Regale. Sie hatte gehofft, hier viel systematischer vorgehen zu können. Sie hatte nicht einmal die Zeit gehabt, eine Liste zu machen.

„Wir werden einen Wagen brauchen, stimmts? Ich hole einen Wagen“, sagte Charlotte.

Sie eilte zurück zum Eingang, während Olivia in den Gängen auf und ablief und überlegte, welchen Dünger sie wählen sollte und ob der Boden ihrer Farm auch Kalk brauchen würde. Es war zu spät, über den Kompost auch nur nachzudenken.

Dann war da noch die Frage, welche Trauben sie anbauen sollte. Das war auch eines der Dinge, über die sie noch nicht nachgedacht hatte. Olivia dachte panisch sowohl an ihre Unterhaltung mit Antonio zurück als auch an das Wissen, dass sie während ihrer Arbeit hinter der Weintheke aufgeschnappt hatte.

Ihre Farm lag ohne Zweifel weit oben und hatte hügelige Hänge.

Vermentino sollte demnach dort gut wachsen, und wenn er das tat, würde Chardonnay das auch tun.

Antonio hatte Nebbiolo gepflanzt, aber laut ihm waren das für den Anbau recht empfindliche Trauben, und als Anfänger brauchte sie zähe, widerstandsfähige Trauben. Die einheimischen roten Sangiovese-Trauben würden besser wachsen, entschied sie. Sie waren hier zuhause und würden hoffentlich einfacher wachsen.

Sie legte noch eine Gießkanne in den Einkaufswagen, zusammen mit einem Rechen und einem Spaten.

 

Die kleine Plastikgießkanne schien ihr unzureichend, als Olivia an die riesigen, hügeligen Flächen dachte, die sie zu bepflanzen hatte, aber die Alternative war, eine Bewässerungsanlage zu installieren, und das wäre ein teures und zeitaufwändiges Unterfangen. Eine Gießkanne musste fürs Erste reichen.

„Ich bin eine Macherin“, redete sie sich optimistisch ein.

„Ich werde dir beim Gießen helfen“, sagte Charlotte. Auch sie beäugte zweifelnd die limettengrüne Kanne. „Ich kann dir bei allem helfen, was du tun musst. Immerhin ist die Farm ein echt spaßiges Projekt.“

„Wirklich?“, fragte Olivia. Für sie fühlte es sich gerade eher entmutigend als spaßig an.

„Absolut. Mir hat die Landwirtschaftsidee schon immer gefallen. Als eine Tochter der Erde habe ich schon immer das Potenzial dazu in mir gespürt.“

Olivia blickte Charlotte dankbar an, aber erwischte sich dabei auch, wie sie dem Mann hinter ihrer Freundin in die funkelnden, braunen Augen starrte. Olivia fragte sich, wie lange er schon geduldig dort wartete, während sie sich durch die Regale wühlte, von ihrem Panikeinkauf völlig vereinnahmt.

„Sorry, wir halten Sie auf.“ Olivia versuchte, den Einkaufswagen so gut wie möglich zur Seite zu schieben, um ihn vorbeigehen zu lassen.

„Nein, kein bisschen. Ich hab’s nicht eilig.“ Er hielt inne und musterte sie genauer.

Olivia starrte zurück. Egal, wie beschäftigt sie auch mit ihren Einkäufen war, sie kam nicht umhin zu bemerken, dass er in etwa in ihrem Alter war, fit und stark wirkte und ein schelmisches Lächeln und außergewöhnlich gut gestyltes Haar hatte. Seine dunklen Haare waren perfekt getrimmt, mit einem leichten Zickzackscheitel und die Spitzen zu einwandfreien Stacheln gegelt. Sogar sein Dreitagebart war präzise getrimmt.

„Verzeihen Sie meine Neugier, signora“, sagte er. „Ich kenne nur eine Farm hier, die zum Verkauf steht. Sprechen Sie von dem Grundstück auf dem Berg, oberhalb der strada regionale?“

Er meinte die schmale Teerstraße, die von Collina zum nächsten, drei Meilen entfernt gelegenen Dorf führte, vermutete Olivia.

„Ja, genau die.“

„Ernsthaft? Sie haben sie gekauft?“ Sein Lächeln breitete sich zu einem ungläubigen Grinsen aus. „Dieses alte Ding?“

„Ja“, antwortete Olivia defensiv.

Lachte er sie etwa aus? Er war eindeutig ein Einheimischer, der die Gegend kannte. Wusste er etwas, von dem sie nichts wusste?

War ihre Investition etwa ein drastischer Fehler gewesen?, fragte sich Olivia mit einem Schaudern.

„Es ist eine wunderschöne Farm“, insistierte sie. „Die Aussicht ist wunderbar.“

Er hob fragend eine Augenbraue.

„Stimmt, ja, ein perfekter Ort für ein Ferienhaus.“

Doch nun starrte er in ihren Einkaufswagen.

„Aber Sie machen dort keinen Urlaub. Bauen Sie dort Wein an? Wein? Jetzt? An diesen Hängen?“

„Ja, ich werde heute Abend mit dem Pflanzen beginnen. Ich hoffe auf eine Ernte nächsten Sommer“, sagte Olivia.

Der Mann schüttelte fröhlich lachend den Kopf.

Americanos! Was für ein Volk! Ich liebe es, wie verrückt Sie sind, so optimistisch. Keine Herausforderung zu groß! Hübsche Lady, ich wünsche Ihnen alles Gute – aber Sie werden mehr brauchen als meine Wünsche.“ Noch immer vor sich hin kichernd schlängelte er sich an dem Einkaufswagen vorbei zur Kasse.

Charlotte starrte ihm fragend nach.

„Hat er dich wegen etwas gewarnt?“, fragte sie.

Olivia zuckte die Schultern. „Ich glaube, er wollte uns nur ärgern“, sagte sie. Zumindest hoffte sie das.

Als sie sich den Inhalt ihres Wagens ansah, fiel ihr auf, dass diese Last-Minute-Shopping-Tour ein teures Vergnügen werden würde. Sie hoffte, dass sie mit all dem keine desaströse Entscheidung getroffen hatte.

Nachdem sie ihre Einkäufe in den winzigen Kofferraum ihres Fiats gezwängt hatten, fuhren sie zum Farmhaus zurück. Es war Hochsommer und sie hatten daher noch etwa dreieinhalb Stunden Tageslicht übrig, aber Olivia wusste, dass sie sich ins Zeug legen mussten. Sobald sie mit der Saat fertig waren, würden sie sich in dem Restaurant unten an der Straße mit Pizza und Wein belohnen.

Sie war froh, dass sie in dem staubigen, oberen Schlafzimmer eine alte Jogginghose verstaut hatte, da sie wusste, dass sie ein paar lottrige Klamotten brauchen würde, die sie anziehen konnte, wenn sie hier arbeitete.

Sie lief die Treppe hinauf, schälte sich aus ihrem Arbeitsrock und zog die ausgewaschene Stoffhose an. Sie trug sie für all ihre Arbeiten auf dem Grundstück und im Garten. Die Hose war nicht nur fleckig und schmutzig, sondern sie hatte auch ein großes Loch am Hinterteil, das sie sich an einem Rosenbusch eingehandelt hatte.

Olivia faltete ihren schicken Rock und das Jackett und legte sie auf den Fensterrahmen, welchen sie gestern saubergewischt hatte und welcher somit die einzige staubfreie Oberfläche im ganzen Haus war.

Sie hielt einen Moment inne und starrte aus dem Fenster.

Eines Tages würde dieser leere, hallende Raum ihr Schlafzimmer sein. Hier würde sie schlafen, das Zimmer erwärmt von den abendlichen Sonnenstrahlen, und nach dem Aufwachen über die morgendlichen Hügel blicken. Die hohe Decke und die geräumige Fläche wären perfekt für ein Doppelbett und einen gemütlichen Ohrensessel, zusammen mit einem rustikalen Schreibtisch und vielleicht einem riesigen, altmodischen Kleiderschrank.

Oder wären eingebaute Schrankwände einfacher?

Die Entscheidung quälte Olivia noch immer, und sie wusste, dass sie sie bald treffen werden müsste. Aber das war eine einfache Entscheidung, denn sie wusste, dass dabei nichts schiefgehen konnte und beide Optionen letztendlich funktionieren würden. Dasselbe galt für die Zimmerwände. Sollte sie den cremegoldfarbenen Ton einfach nur auffrischen oder sich für einen helleren Weißton entscheiden? Auch hier gab es keine falsche Antwort.

Wo sie die Samen pflanzen sollte, die sie gerade gekauft hatte, war allerdings eine schwere Entscheidung, denn es bestand die Möglichkeit, dass sie es vermasselte.

Von unten hörte sie Charlotte aufgeregt quieken.

Olivia lief die Treppe hinunter, um zu sehen, was passiert war.

„Schau, sie ist wieder da! Erinnerst du dich noch an die Katze von vor ein paar Tagen? Sie ist wieder hier. Vielleicht hatten die Leute, die die Decke ausgebessert hatten, sie eine Zeitlang verschreckt.“

„Oh, wie schön, dich zu sehen.“

Olivia beugte sich vor, wackelte mit den Fingern und redete der kleinen, nervösen, schwarzweißen Katze zu, die sich dieses verlassene Farmhaus anscheinend als Heim ausgesucht hatte. Sie war zwar scheu, aber nicht mehr so sehr wie zu Anfang. Sie hoffte wahrscheinlich auf etwas zu essen. Charlotte kramte in ihrer Handtasche nach einem Beutel mit Futter.

„Ich habe nur noch eins übrig.“

Triumphierend leerte sie den Inhalt in die Plastikschale, die sie gekauft und auf der Veranda stehengelassen hatte.

Während sie neben Charlotte stand, fiel Olivia auf, dass sie beide ein identisches, liebevolles Lächeln auf den Lippen hatten, während sie zusahen, wie die Katze hungrig ihr Abendessen verschlang. Egal, wie dringend das Pflanzen war, Olivia konnte sich einfach nicht von dem belohnenden Anblick losreißen, bis die Katze endlich den letzten Brocken aus der Schüssel geleckt hatte und mit einer zufriedenen Katzenwäsche begann.

„An die Arbeit“, verkündete sie.

Sie stöberte im Kofferraum, hob einen Sack Dünger heraus und griff wahllos eine Packung Samen.

„Vermentino also“, sagte sie. „Du wirst die Spitzenreitersaat auf der Glass-Farm werden.“

Sie begutachtete das Gelände.

„Logisch gedacht würde ich vorschlagen, sie etwas abseits zu pflanzen. Am Haus wird viel gearbeitet werden, und wir wollen sie nicht dort aussähen, wo womöglich Fahrzeuge fahren müssen oder Material geliefert wird.“

„Wie wäre es, wenn wir diese Charge ganz hinten auf der Rückseite der Farm anbauen, in der Nähe dieses Lagerhauses, dass verschlossen ist?“, schlug Charlotte vor.

„Auf dieser Seite gibt es kein Wasser“, erinnerte sich Olivia, und Charlotte nickte.

„Bevorzugen die Trauben nicht trockenen Boden? Wir können sie jetzt gießen. Ein paar Touren hin und wieder zum Wässern könnten ausreichen.“