Read the book: «Fieber 17»
Felicitas Hoppe
Fieber 17
Eine Erzählung und ein Essay
DÖRLEMANN
Alle deutschsprachigen Rechte vorbehalten
© 2021 Dörlemann Verlag AG, Zürich
Umschlaggestaltung: Mike Bierwolf
Porträt: Felicitas Hoppe, © Thomas Brose
Satz und eBook-Umsetzung: Dörlemann Satz, Lemförde
ISBN: 978-3-03820-985-0
Inhalt
Cover
Titelei und Impressum
Inhalt
Porträt
Fieber 17
Oh, the places you’ll go! Als das Kind ein Kind war Dreck reinigt den Magen Märchen meines Lebens Oh, the places you’ll go! Ein blindes und ein lahmes Kind
Zur Autorin
Zum Buch
Felicitas Hoppe
Fieber 17
Gestern endlich die erlösende Nachricht aus dem Labor: Ich bin nicht bloß müde, ich bin tatsächlich krank. Und plötzlich erklärt sich alles von selbst: der Schwindel am Morgen, das klopfende Herz, die Schweißausbrüche, der rasende Puls und der schwankende Blutdruck, der Durst und meine Appetitlosigkeit; und diese ständige Flucht in den Nachmittagsschlaf, in lauter Träume mit niedrigen Stubendecken, von Pferden, die mit den Hufen scharren, und von Kutschern, die in schweißnasse Pelze gewickelt in meinem Halbschlaf laut mit der Peitsche knallen, um mich endlich wieder auf Trab zu bringen.
Aber jetzt bin ich erlöst, denn mein Fall ist glasklar, die Diagnose lautet: Fieber 17. Ein Fieber, das nachweislich mir ganz allein gehört, weil es nur meine höchst persönlichen Träume bewohnt, allerdings, wie mir heute vertraulich mein Hausarzt verriet, in unserer Familie schon seit Generationen gastiert. Auf den ersten Blick also ein Fieber von gestern und eine eher harmlose Krankheit, weil sie, allen Symptomen zum Trotz, weder den Körper noch den Geist befällt, sondern einzig diesen lächerlich kleinen Rest, den man früher, als es den Volksmund noch gab, so ahnungslos wie überheblich die Seele nannte. Dieses übrig gebliebene kleine Halborgan also, das, so schlaflos wie ratlos, ständig auf Reisen und Wanderschaft ist und, unterwegs zwischen Scheitel und Sohle, die altbekannte Schnittmenge aus Sehnsucht und Heimweh bildet, die mich daran hindert, einen festen Sitz im Leben zu finden oder wenigstens einen eigenen Tod.
Denn genau das, sagt mein Hausarzt, ein eher sesshafter Typ ohne Titel und Reiseerfahrung, genau das ist ja die Tücke dieses flüchtigen Fiebers: dass es zerstreut, statt zu sammeln, dass es dieses leise haltlose Flattern erzeugt, dieses heimliche Flirren zwischen Abschied und Ankunft, das die Sehnsucht nach Aufbruch mit einem Ziel verwechselt, das so gut wie nie zu erreichen ist.
Aber die Ärzte von heute, lieber Herr Doktor, verstehen nichts mehr von Literatur, weil sie keine Fremdsprachen mehr sprechen und bekanntlich nicht mehr auf Reisen gehen, sie gehen nur hin und wieder auf Urlaub. Ich dagegen spreche von richtigen Reisen, von ernsthaften Reisen, von Geschichten der Herrschaft und der Enteignung. Dazu müssen Sie allerdings wissen, dass ich niemals auf Reisen wollte, weil ich schon als Kind lieber drinnen als draußen war; dass ich die Küche der freien Natur jederzeit vorzog und dass ich es hasste, wochenends wandern zu gehen, mit einem Stein unter der Zunge, der mir gegen den ewigen Durst helfen sollte; dass ich noch im Juli in dicken Jacken herumlief, ein Winterkind im Pelz seiner Sommerangst, das beim Luftholen ständig an Grenzen kam: von Atmen konnte gar keine Rede sein, jeder Schritt nur ein Schritt, kein Aufbruch, sondern bloß der Versuch, endlich ein kleines Stück weiterzukommen.
Also fangen wir einfach von vorne an, sagt mein sesshafter Hausarzt. Ohne Träume und Kutscher, ohne Peitsche und Pferd. Ziehen wir einfach die Vorhänge zu, damit der Lärm von draußen langsam verebbt und die Stubendecken sich wieder heben; und nehmen Sie endlich diesen Stein aus dem Mund, um unter der Zunge Platz für eine Geschichte zu schaffen, die unsere Hörer erfreuen wird, weil alle unglücklichen Kindheiten einander ähneln wie der Kopf seinem Abdruck im Kissen.
Und so lege ich jetzt meinen Kopf auf das Kissen, ziehe den nassen Stein aus dem Mund, stecke ihn zurück in die Tasche und erzähle, während der Lärm da draußen tatsächlich verebbt, von meiner allerersten Reise: von der ersten großen und sehr langen Reise eines asthmatischen Vorschulkindes, das weder lesen, schreiben noch schwimmen kann. Dazu müssen Sie allerdings wissen, dass ich nicht freiwillig ging. Ich ging nicht auf Reisen, wie man so landläufig sagt, sondern ich wurde verschickt; ich bin, wie es damals im Volksmund hieß, ein einfacher Fall von Kinderlandverschickung.
Stellen Sie sich also ein etwas rundliches Postpaket vor, das mit dem deutlichen Absender krank beschriftet und mit der Anschrift Frischluft versehen an einem Sonntagmorgen an der festen und warmen Hand seines Vaters das Haus und seine vier Geschwister verlässt, mit einem Rucksack auf dem Rücken, in dem, in handliche Viertel geteilt, die Schnitten aus der Küche meiner Mutter lagen.
Erst an der Hand meines Vaters, der meinen kleinen karierten Kurkoffer trug, begriff ich den Irrtum: Ich begriff, dass er mich weder zur Kirche noch auf die Post bringen würde, sondern zum Bahnhof. Ein festlicher Tag, ein ganz besonderer Tag, ein richtiges Abenteuer, sagte mein Vater. Denn ich hatte, weder von außen noch von innen, jemals zuvor einen Bahnhof gesehen. Nie zuvor hatte ich einen Zug bestiegen, nie zuvor hatte ich Abschied genommen. Von Nordseeinseln wusste ich nichts. Ich war, wie gesagt, fünf, und ich hatte bloß Asthma.
Doch an ein Zurück war jetzt nicht mehr zu denken. Um mich darüber hinwegzutäuschen, war plötzlich die Rede von Sonne und Wind, von Muscheln und Meer, von Burgen aus Sand an sehr langen Stränden, von denen andere Kinder angeblich bloß träumen. Gut möglich, dass mein Vater mich trösten wollte, kann aber auch sein, er sprach nur sich selber Mut zu, von seinen eigenen Träumen und seiner eigenen Angst, denn auch er hatte noch nie einen Strand gesehen.
Aber jetzt sah ich zum ersten Mal einen Bahnhof und stand zum ersten Mal auf einem Bahnsteig und sah zum ersten Mal einen einfahrenden Zug. Und das Zifferblatt einer riesigen Uhr, die ich nicht lesen konnte. Ich begriff ihre Botschaft trotzdem sofort: Ihre unaufhaltsam wandernden Zeiger trieben mich sichtbar zur Eile an. Der Abschied war tränenreich und entsetzlich und viel zu kurz, um ein ehrlicher Abschied zu sein.
Denn ich war längst umzingelt: von uniformierten Schaffnern und Krankenschwestern, die, weil ich die Hand meines Vaters nicht loslassen wollte, plötzlich darauf bestanden, ab sofort meine Onkel und Tanten zu werden; als seien wir eine große Familie, obwohl doch jedes Kind und jeder Reisende weiß, dass ihr Amt weder Mitleid noch Aufschub duldet. Und so stieg ich ein, so fuhr ich davon, unter Tränen nach Norden, in einem Zug voller lautstarker fremder Kinder, eskortiert von fremden Onkeln und Tanten und mit einem Rucksack voller gevierteilter Reiseschnitten, die ich niemals gegessen habe.
Auf der Insel lernte ich im Handumdrehen alles, was fühlen muss, wer nicht hören kann: die Ohrfeige und den Morgenappell, wie man zum Frühstück eine Tasse Salzwasser leert, wie sich ein Vorschulkind nachts durch die Betten prügelt und am Morgen danach in der Strafecke steht; dass, wer schwimmen kann, nur langsamer umkommt; dass man weder ungestraft Geschichten erfindet, noch ungestraft bei der Wahrheit bleibt: den Betrug beim Diktat von Ansichtskarten, die zuhause den Eindruck vermitteln sollten, ich sei hier auf Urlaub und auf dem glücklichen Weg der Genesung. In Wahrheit war ich längst auf dem Weg, erwachsen zu werden, wenn ich jeden Montag von Neuem einer der Wärterinnen diktieren sollte, was sie auch ohne mein Zutun geschrieben hätte: Mir geht es gut. Und wie geht euch?
Sie waren die Postkutscher und Reiseführer unserer Kindheit. Und wie alle Reiseführer gut organisiert. Die altbekannte Mischung aus Schaffner und Zöllner: entschieden und tüchtig, robust und belastbar, kompromisslos und wachsam, wetterfest und durch und durch lieblos; und immer auf Trinkgelder aus, die wir natürlich nicht hatten, weshalb wir sie mit Unterwerfung und Gehorsam bezahlten. Aber sie ließen sie niemals ernsthaft bestechen, schließlich taten sie beim Waschen und Wandern bloß ihre Pflicht. Sie herrschten über Gesundheit und Krankheit, über Körper und Geist und waren von morgens bis abends damit beschäftigt, unser kleines übrig gebliebenes Halborgan endlich zum Verschwinden zu bringen. Für den Fall, dass trotzdem eine Ahnung von Heimweh aufkam, legten sie uns Steine unter die Zungen, die uns lehrten, dass ein Ausflug kein Ausflug ist und eine Kur kein Urlaub.
Und sie sorgten für Ordnung: montags die Post und dienstags die Waage, der wöchentliche Beweis meiner ständigen Appetitlosigkeit; mittwochs der Strand, in verlässlicher Begleitung der Mittwochsangst einer analphabetischen Nichtschwimmerin. An den Donnerstagen dagegen kam manchmal eine fast tröstliche Langeweile auf; offenbar hatten sie sich ein bisschen erschöpft. Doch an den Freitagen waren sie bereits wieder in Hochform und verspotteten die, die nicht schwimmen konnten, bei organisierter Gymnastik und Lagerfeuern am Strand mit Liedern von Männern, die auf Kaperfahrt gehen, und von anderen, die mit der Pest an Bord in einem Hafen liegen, dessen Namen ich bis heute nicht buchstabieren kann.
Nichts als Erinnerungen natürlich, also vermutlich der klassische Rückschaufehler einer Winterseele mit Sommerangst, oder, wie meine Mutter es ausdrücken würde: nachösterliche Interpretation. Schließlich war ich damals erst fünf und hatte bloß Asthma. Aber ich war fest im Glauben. Selbst am Strand glaubte ich jenseits des Meeres die Sonntagsglocken läuten zu hören, denn ich glaubte nach wie vor an die Verwandlung des gesprochenen in das geschriebene Wort, an die diktierten Montagspostkarten von einer als Reise getarnten Kinderkur, an all diese fröhlichen Ansichtskarten, auf denen immer dasselbe steht: Mir geht es gut! Und wie geht es euch?
Bis plötzlich, in einer stürmischen Nacht, mein erstes und einziges Schutztier verschwand, Kollo, der Kater: eine frühe Strickarbeit meiner älteren Schwester, eine Herzensangelegenheit ohne besonderen Sachwert; mein dunkelgrüner weicher Begleiter, der stumme Beichtkater meiner ständigen Angst vor dem nächsten Morgen, der Einzige, der meine flüsternde Rede verstand und dessen rote Augen (zwei schlecht befestigte Knöpfe) im Halbdunkel leuchteten, wenn sich Schlag acht die Vorhänge bereits wieder schlossen, im Schlafsaal für immer das Licht ausging und die Decken sich wieder zu senken begannen.
Wer ihn entführt hat, ist bis heute im Dunkeln geblieben, ich weiß nur, dass er nie wiederkam: Man muss wissen, wer weggeht und wer nicht zurückkommt, alles andere ist sinnlos. Aber bis heute bin ich davon überzeugt, dass mich in der Nacht seines geheimnisvollen Verschwindens zum ersten Mal im Traum jenes Fieber heimsuchte, von dem man in meiner Familie bis heute nicht spricht.
The free excerpt has ended.