Deutsch in Luxemburg

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1.3 Erweiterung des Korpus um weitere Zeichen des „Flusses von Wissen durch die Zeit“

Die Sekundärliteratur, die Eingang in die vorliegende Arbeit fand, ist nicht nur Sekundärliteratur im wortwörtlichen Sinne. Sie liefert also nicht nur Zahlen und Hintergrundinformationen, sondern sie gewährt zudem Einblicke in eine weitere Diskursebene, in das Denken über die Sprachensituation in Luxemburg auf der fachwissenschaftlichen Ebene.1

Statistiken, Schreibproben von Schülern, administrative Schreiben, Buchbestsellerlisten, Kinoprogramme, Werbeanzeigen, Parlamentsdebatten und ‚Posts’, die in Gruppen des sozialen Netzwerks Facebook veröffentlicht wurden, sind nur einige der ‚Texte’, die darüberhinaus in das Korpus aufgenommen wurden und den Aussagen, die auf allen Diskursebenen fielen, gegenübergestellt werden. Das Untersuchungskorpus bestand so am Ende aus diversen Textsorten, aus sprachlichen Manifestationen diverser Kommunikationsbereiche, die sich vor der Untersuchung als „Gewimmel“ oder „von fern als Knäuel“ (Foucault) präsentierten und allesamt in einer Weise mit dem Thema verwoben waren. Dieses Gewimmel, dieses Knäuel, setzt sich bei näherer Betrachtung aus unzähligen Situationen des sprachlichen Austauschs zusammen, die untersucht werden, um Sprachwissen und Sprachhandeln in Luxemburg zu erschließen und Fragen nach Bedeutungen, Bewertungen, nach den Funktionen und Positionen, die die deutsche Sprache einnehmen kann, zu klären. Jäger und Zimmermann (2010: 61) beschreiben im Lexikon zur Kritischen Diskursanalyse in der Sprachwissenschaft das, was man vorfindet, wenn man sich in das diskursive Gewimmel, in die Diskursformationen, hineinbegibt auf folgende Weise:

Blickt man auf die Landschaften der Diskurse, so stellen sich diese als ein vielfältiges und ineinander verwobenes und verstricktes Netz dar, das den Eindruck eines Gewimmels erweckt und das es durch Diskursanalysen zu entwirren gilt.

Ein erster Schritt, der bei dieser Entwirrung half, war die thematische Aufgliederung des Materialkorpus. Auf diese Weise konnten die verschiedenen Teildiskurse, die Bestandteil der Analyse des Diskurses über die deutsche Sprache in Luxemburg sein sollten, provisorisch festgelegt werden. Notgedrungen mussten aus Zeit- und Platzgründen am Ende Schwerpunktsetzungen vorgenommen werden und konnte kein Einblick in sämtliche Gesellschaftsdomänen erfolgen. Die Analyse des Mentalitätenwissens richtet sich daher auf folgende Themenfelder:

 Bildung

 Sprache und Immigration

 Fremdendiskurs im Internet

 Sprach(en)politik(en) und politische Kommunikation in Luxemburg

 Medien und Sprachwissen

 Sprache und Literatur

 Öffentlichkeitsarbeit

 Werbesprachen

2 Methodische Ansätze

Die vorliegende Arbeit behandelt, anders als viele Diskursanalysen, die in den letzten Jahren innerhalb der Sprachwissenschaft durchgeführt wurden und zu mitunter interessanten Ergebnissen bezüglich des Einflusses von Sprache auf die Wahrnehmung der Wirklichkeit geführt haben, kein fachfremdes Ereignis, sondern, mit der Frage nach dem Stellenwert der deutschen Sprache in Luxemburg, einen genuin linguistischen Gegenstand. Zudem untersucht sie diesen mit einem linguistischen Methodeninstrumentarium. Text- und diskurslinguistische Methoden werden mit soziolinguistischen Erklärungsansätzen kombiniert und um Erkenntnisse aus der angewandten Sprachwissenschaft (zu Spracherwerb, DAF/DAZ-Unterricht, zu öffentlicher Kommunikation und Sprachplanung) ergänzt. Bei der Zusammenstellung des Untersuchungskorpus wie auch bei dessen Analyse wurde für eine ‚Triangulation’ optiert, nach der die jeweils spezifischen Schwächen einer Methode durch die Stärken anderer Methoden ausgeglichen werden sollten (vgl. Gläser/Laudel 2010: 105).

Bemerkungen zur Verwendung diskurslinguistischer Methoden

Wenn diese Arbeit sich als eine diskursanalytische Untersuchung versteht, dann ist damit vor allem der theoretische Hintergrund, vor dem sie operiert, gemeint, aber eben auch ein Teil ihres methodischen Vorgehens. Nachdem das Material des Untersuchungskorpus in thematisch abtrennbare Teildiskurse geordnet worden war, konnte genauer betrachtet werden, welche historischen Ereignisse die verschiedenen Teildiskurse von 1983 bis 2015 prägten.

In der Praxis der Diskursanalyse kann die Ermittlung diskursiver Ereignisse den diskursiven Kontext, auf den sich ein aktueller Diskursstrang bezieht, markieren bzw. konturieren (Jäger/Zimmermann 2010: 41).

Während einige Ereignisse die bestehenden Wissensmuster einer bestimmten Zeit ‚nur’ bestätigen, sind andere so einschlägig, dass sie sich auf die Denkmuster der Gesamtgesellschaft auswirken und dieser in Erinnerung bleiben. Sie sind als diskursive Ereignisse zu bezeichnen:

Besonderes Kennzeichen diskursiver Ereignisse ist die durch sie erzeugte mehr oder minder starke Einflussnahme auf den weiteren Verlauf des betreffenden Diskurses, zu dem es gehört. (ebd.).

In einem nicht unerheblichen Teil der Arbeit werden die Reaktionen von Diskursteilnehmern1 auf Ereignisse dargelegt und analysiert. Für die einzelnen Teildiskurse werden die zentralen Aussagen herausgefiltert. Texte des Korpus werden nur noch mit Blick auf ihre Kontextualisierungsfunktion für die Interpretation von Aussagen betrachtet (vgl. Bluhm et al. 2000: 8, mit Bezug auf Jung 1996). Aufgrund ihrer schlechten Lesbarkeit stellte es sich als unmöglich heraus, die abfotografierten Presseartikel des Medienkorpus in ein Textverarbeitungsprogramm einzuspeisen. Das führte dazu, dass sich die Struktur bzw. der Analyse- und Schreibstil der Arbeit entsprechend veränderten. Das ganze Korpusmaterial wurde manuell, ohne Computerunterstützung, analysiert, was verschiedene sprachstrukturelle Verfahrensweisen der Diskurslinguistik aus Praktikabilitätsgründen ausschloss. Dazu gehörten etwa Analysen auf der Wort- und propositionalen Ebene (Analysen von Schlüsselwörtern, von Mehrwortverbindungen, die in das Wissen der Rezipienten eindringen, die Analyse von Relationshinweisen, Implikaturen, Syntax, Tempus, Modalität …). Dort, wo es um die Freilegung des kollektiven Wissens der Gesellschaft und um die soziale Stratifizierung von Wissen geht, wird die Analyse von Argumentationsmustern angewandt. Diese maßgeblich von Martin Wengeler (2003) in die Diskurslinguistik eingeführte Methode der Toposanalyse hat sich als praktisches Verfahren zur Herausarbeitung kollektiven Wissens erwiesen. Auf diese Weise können die in den Texten wiederkehrenden Aussagen, die dort dominanten Denkmuster, herausgearbeitet werden (vgl. Wengeler 2013: 152). Das Ziel einer Toposanalyse ist die Analyse des kollektiven Wissens durch Sprachanalyse (vgl. Wengeler 2010: 77). Jung und Wengeler (1999: 154) fassen das Verständnis des Topos-Begriffs für die linguistische Untersuchung von Argumentationsmustern in Diskursen wie folgt zusammen:

Zu ihrer Analyse eignet sich der rhetorische Topos-Begriff, nicht in dem auf Curtius beruhenden bildungssprachlichen Verständnis als zu einem sprachlichen Klischee geronnener Gemeinplatz oder als eine Art literarisches Motiv, sondern als vielseitig verwendbarer, für den Argumentierenden bereitliegender Sachverhaltszusammenhang, der zur argumentativen Begründung konkreter zur Diskussion stehender Positionen herangezogen wird.

Bei diesen dominanten Denkmustern, die den Stellenwert der deutschen Sprache in Luxemburg bestimmen, handelt es sich letztlich um Überzeugungen der dominierenden Sprachgruppe, derjenigen mit Familiensprache Luxemburgisch bzw. luxemburgischer Bildungssozialisation. Ihr Wissen wird hauptsächlich anhand der sich im Medienkorpus artikulierenden öffentlichen Meinung offengelegt.2 Wie noch ersichtlich werden wird, werden die Printmedien vor allem von dieser Sprachgruppe rezipiert.3 Die Benennungen solcher kontextspezifischer Argumentationsmuster, die immer wieder im Diskurs verwendet und zu einer bestimmten Zeit als konsensträchtig akzeptiert werden, entwickelten sich im Verlauf der Analyse des Korpusmaterials. Sie wurden in Anlehnung an Kienpointner (1992: 246) benannt, der eine Typologie von Argumentationsmustern erstellt hat, die in der alltäglichen Kommunikation immer wieder vorkommen.

In nahezu allen Kapiteln geht es nicht allein um das gängige Sprachwissen, sondern auch um das konkrete Sprachhandeln, die alltägliche Praxis im Umgang mit Mehrsprachigkeit in Luxemburg. Im medialen Diskurs wird – wie bereits ausgeführt – nicht die Praxis jeden sozialen Feldes verhandelt. Außerdem stimmt die real sich abspielende Praxis nicht immer mit den im Mediendiskurs herrschenden Diskurspositionen überein. Die Praktiker, die für die vorliegende Arbeit interviewt wurden, waren ein wichtiges Medium um Informationen zu diesem alltäglichen Handeln in Bereichen wie Journalismus, Öffentlichkeitsarbeit, Werbung oder auch über den Alltag in Luxemburgs Klassenzimmern zu erhalten. Sie waren zugleich Diskursteilnehmer, aber sind selbst nicht das ‚Objekt’ der Untersuchung. Sie sind bzw. waren Zeugen der mich auf ihren Berufsfeldern interessierenden Prozesse (vgl. Gläser/Laudel 2010: 12). Warnke und Spitzmüller (2008: 22) betonen:

Kurzum: Wir halten die Analyse sozialer Strukturen für eine wichtige Aufgabe der Diskursanalyse, und eine Diskurslinguistik kann hier insbesondere auf soziolinguistisches Know-how zurückgreifen. Und wir halten eine Diskurslinguistik, die diese Komponente nicht berücksichtigt für unterspezifiziert, da sie den Diskurs als soziale Praktik in und mit der Sprache nicht hinreichend berücksichtigt (Warnke/Spitzmüller 2008: 22).

 

Die zentralen ‚Aussagen’ der Experten wurden aus den Interviews herausgefiltert und dem Wissen auf anderen Diskursebenen bzw. dem konkreten Material, das auf den entsprechenden sozialen Feldern ‚erzeugt’ wurde, gegenübergestellt. Soziolinguistische Konzepte, die das Handeln in mehrsprachigen Gesellschaften erklären, wurden für die Interpretation des Mentalitätenwissens und zur Erklärung von dessen Veränderung genauso herangezogen (Domänenkonzeption, Mündlichkeit und Schriftlichkeit [Koch/Oesterreicher] …) wie Erkenntnisse der angewandten Sprachwissenschaft.

V. Der Bildungsdiskurs

An kaum einem anderen Ort in Luxemburg äußert sich die spezifische Mehrsprachigkeit des Landes in einer sichtbareren Form als in den öffentlichen Schulen. Bereits in der Grundschule nehmen das Erlernen der zwei Bildungssprachen Deutsch und Französisch sowie der Nationalsprache Luxemburgisch über 40 % der vorhandenen Unterrichtszeit ein (vgl. Engel de Abreu et al. 2015: 15). Die offizielle Dreisprachigkeit des Landes und die Hierarchie der drei Sprachen werden hier stabil gehalten und reproduziert. Reformen des Sprachencurriculums haben somit direkte Auswirkungen auf die Bewertung und Bedeutung der einzelnen Sprachen im Land (vgl. Hu et. al 2015: 63). Neben den drei Sprachsystemen, die in der Grundschule aufgebaut werden, kursiert zwischen den Schulstunden und in den Köpfen der meisten Schülerinnen und Schüler eine Vielzahl weiterer Sprachen.

Die deutsche Sprache übernimmt in der luxemburgischen Grundschule bedeutende Funktionen: Sie ist aufgrund ihrer Nähe zum luxemburgischen Sprachsystem die Alphabetisierungssprache und die Hauptausbildungssprache. Mit dem Übergang in die Sekundarschule verändert sich, zumindest für die Schüler, die ein klassisches Gymnasium besuchen, die Sprachenhierarchie schrittweise zugunsten der französischen Sprache. Das Französische übernimmt nach Abschluss der neunten Klasse des Gymnasiums die Funktion der Sprache, in welcher der Lernstoff in nahezu sämtlichen Fächern vermittelt wird. Die Bildungselite soll auf diese Weise einen Sprachstand im Französischen erreichen, der den Sprechern eines Landes gerecht wird, das seit 1970 ständiges Mitglied der Organisation internationale de la Francophonie (OIF), dem Zusammenschluss der französischsprachigen Länder, ist.1 Englisch steht ab der achten Klasse auf dem Lehrplan. Weitere Sprachen, etwa Italienisch, Spanisch, Portugiesisch, Latein oder Altgriechisch können zusätzlich erworben werden. Die Spracherwerbsmöglichkeiten, die das luxemburgische Schulsystem grundsätzlich bietet und die Sprachkompetenzen, die auf diese Weise erreicht werden können, erscheinen beneidenswert. Nicht selten sind sie aber auch der Grund für Schulversagen und versperren Schülern mögliche Ausbildungswege. Die Eindrücke, die in und außerhalb der Schule im Austausch mit Experten gewonnen wurden und die Diskussionen, die im wissenschaftlichen Fachdiskurs sowie im medialen Laiendiskurs seit 1983 geführt wurden, zeigen wie sich die Sicht auf Sprache, auf eine Muttersprache und auf Mehrsprachigkeit in der luxemburgischen Gesellschaft seitdem verändert hat. Über den gesamten Erfassungszeitraum des Diskurses, seit über 30 Jahren, muss sich das Bildungssystem mit dem Vorwurf auseinandersetzen, Kindern mit Migrationshintergrund kein gerechtes Lernumfeld zu bieten. Seit der Veröffentlichung der ersten Pisa-Ergebnisse gilt dieser Vorwurf auch im Bezug auf die Bildungschancen von Kindern aus sozial benachteiligten Familien. Die schulischen Sprachanforderungen und besonders der Stellenwert der deutschen Sprache werden als die Kernprobleme angesehen.2 Die Schule ist „the institution where more High German is spoken than anywhere else“, findet Schmid (2001: 149). Außerhalb der Schule ist sie dagegen vielfach eine stille Sprache, die zwar viel gelesen und geschrieben wird, aber eigentlich nur in Interaktion mit deutschen Sprechern als gesprochene Sprache verwendet wird. Die Deutschlehrerin Nadine Vandivinit bestätigte im Experteninterview den Eindruck, dass es eine Diskrepanz zwischen der Position des Deutschen in der Schule und der außerschulischen Relevanz der Sprache gibt:

F.S.: „Wat ass dann d’Roll vun der däitscher Sprooch? Ass et eng geliefte Sprooch?“

Nadine Vandivinit (Deutschlehrerin): „Zu Lëtzebuerg?“

F.S.: „Jo.“

Nadine Vandivinit: „Ech géing do d’Däitscht net als geliefte Sprooch ugesinn. Also ech géing d’Däitscht eben als Fach ugesinn, an deem d’Lëtzebuerger alphabetiséiert ginn, well herno, wann een eben d’Strukture [politesch, wirtschaftlech, gesellschaftlech] zu Lëtzebuerg hutt, fënnt déi däitsch Sprooch jo net wierklech eng Plaz oder hutt och keng wierklech Plaz an deem Sënn […]. Ech weess et net. Ech hat ëmmer méi eng Affinitéit zum Däitschen wéi zum Franséischen, mee dass et lo wierklech eng Sprooch ass, déi ech zu Lëtzebuerg permanent gebrauche muss …, gesinn ech et net. Do ass d’Franséischt éischter …“

F.S.: „A wann ee lo vum Wäert vun enger Sprooch schwätzt, dann hutt se villäicht kee richtege Wäert fir virunzekommen lo am wirtschaftleche, beruffleche Liewen [zu Lëtzebuerg]? Si hutt éischter ee Wäert als kulturell Sprooch – villäicht als Zousaatzkultursprooch?“

Nadine Vandivinit: „Jo als Verständigungsméiglechkeet an […]. T’gi jo awer vill Länner, wou d’däitsch Sprooch awer nach geschwat gëtt a vun dohier … Mee ech mengen net, dass se sech, dass se zu Lëtzebuerg sou eng herausragende Rolle eigentlech hutt. An jo – t’ass schwéier, well am Alldag begéint ee se jo sou selten.“3

Dem luxemburgischen Schulsystem war lange Zeit vorgehalten worden zu sehr auf Frontalunterricht zu setzen und den Sprachenunterricht über die Entwicklung des Allgemeinwissens, von Transferkompetenzen und Anwendungswissen zu stellen. Auch gegenwärtig bemerken Lehrkräfte, dass Schüler in Luxemburg in der Ausbildung ihres Allgemeinwissens hinterherhinken:

Damjana Suljana Zorko (Deutschlehrerin am technischen Lyzeum): „Hier wird ganz viel auf Sprachen gegeben, aber Sprachen sind nur ein Teil des Weltwissens. Ich hab in der 9. Klasse 15-, 16-jährige, die sagen, was ist denn das der Mount Everest und wer ist Mutter Theresa, was ist das für ne Frau, was weiß ich … um nicht zu sagen, dass sie überhaupt auch geschichtliche Sachen gar nicht wissen. Es geht auf Kosten des Weltwissens, das aber in der heutigen Welt genau das ausmacht, den Unterschied zwischen den Leuten, die was wissen und dann jemand werden und den Leuten, die Nobodys werden […].“

F.S.: „Würden Sie auch sagen, dass es daran liegt, dass dieses Schulsystem extrem auf Sprachen aufgebaut ist?“

Damjana Suljana Zorko: „Genau daran. Man verliert enorm viele Stunden für Sprachen, die aber nur ein Teil des Weltwissens sind und man muss andere Sachen einfach auch wissen und können, um in dieser Welt zu bestehen und vor allem, was Zukunft ist, ist Naturwissenschaften. Und die kommen absolut zu kurz. Die Kinder haben Biologie, Chemie vermischt, Physik dann ein bisschen dazwischen – das geht doch nicht, das sind drei verschiedene Wissenschaften!“

Fehlen (2006: 5) spricht von einer „école plombée par les langues“. Wie Bildungs- und Spracherwerb in Luxemburg genau funktionieren und mit welchen Problemen die Lehrkräfte konfrontiert werden, wenn sie die deutsche Sprache vermitteln, wird in diesem Teil der Arbeit dargelegt. Diskussionen um Reformen des Unterrichtssystems werden in Luxemburg emotional geführt. Die Analyse des Bildungsdiskurses zeigt inwieweit das in der Schule vermittelte Sprachwissen und Sprachhandeln im Begriff ist sich zu verändern.

1 Aufbau des luxemburgischen Schulsystems
1.1 Grundschule (école fondamentale)

Lange Zeit beruhte der Aufbau der luxemburgischen Grundschule auf einem verhältnismäßig alten Gesetz. Erst die Bildungsreform, die im Jahr 2009 in Kraft trat, ersetzte ein Schulgesetz aus dem Jahr 1912. Mit dem neuen Schulgesetz vom 6. Februar 2009 wurde der Aufbau der Vor- und Primärschule grundlegend reformiert. Was vor 2009 im Volksmund Spillschoul und Primärschoul genannt wurde, wird nun als ein Ganzes bezeichnet: die école fondamentale. Ab der Einschulung sind nicht mehr acht bzw. neun Schuljahre bis zum Übergang in die Sekundarschule zu zählen, sondern 4 Grundschulzyklen.1

Staatliche und private Krippen nehmen Säuglinge ab drei Monaten auf, die bis zum vierten Lebensjahr, dem Beginn der Schulpflicht, dort betreut werden können. In Kindertagesstätten, die dem luxemburgischen Bildungsministerium unterstehen, muss Luxemburgisch geredet und der Erwerb der Sprache beim Kind gefördert werden. Private Kindertagesstätten müssen sich nicht an diese Vorgaben halten. Ein Großteil der privaten Krippen wird von französischsprachigem Personal betrieben, andere werben wiederum gezielt mit mehrsprachiger Erziehung (vgl. Die Grenzgänger 2010).2 Jede luxemburgische Gemeinde ist dazu verpflichtet, eine fakultative Früherziehung (éducation précoce) für Kinder ab drei Jahren anzubieten. Die école fondamentale beginnt mit zwei Jahren obligatorischer Vorschule im Grundschulzyklus 1. Sie endet mit dem Abschluss des Zyklus 4.2 (vormals sechste Klasse).

In Früherziehung und Vorschule ist Luxemburgisch die alleinige Unterrichts- und Klassensprache. Im Grundschulzyklus 2.1, der ersten Klasse, setzt die Alphabetisierung auf Deutsch ein. Die deutsche Sprache ist sodann im Klassenzimmer die mündliche und schriftliche Verkehrssprache. Sie wird in den regulären Klassen nicht als Fremdsprache unterrichtet. Ab dem dritten Trimester des Grundschulzyklus 2.2 (vormals zweites Schuljahr) beginnt der Erwerb der französischen Sprache, die konsequent als Fremdsprache erlernt wird. Französisch wird bis zum Abschluss der école fondamentale in der Regel nur im Französischunterricht als Verkehrssprache benutzt.

Diese schematische Zusammenfassung stellt lediglich eine Orientierungshilfe dar. Es wird sich zeigen, dass die Verteilung der drei Grundschulsprachen (Luxemburgisch, Deutsch und Französisch) in der Praxis weitaus komplexer ist – dass das Schulgesetz und eingebürgerte Gewohnheiten mitunter mehrere Sprachen zulassen.

1.2 Sekundarschule

Im Anschluss an die Grundschule stehen Schülern verschiedene Sekundarschultypen zur Auswahl.1 In Luxemburg wird unterschieden zwischen dem Enseignement secondaire (allgemeiner, klassischer Bildungsweg, ES) und dem Enseignement secondaire technique (technischer Sekundarunterricht, EST). Am Ende des vierten Grundschulzyklus gehen Schüler durch Orientierungsbeschluss des sogenannten conseil d’orientation entweder in eine siebte Klasse des technischen oder des allgemeinen Sekundarunterrichts.