Potpourri des Bösen

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Potpourri des Bösen
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Eva Markert

Potpourri des Bösen

Zwanzig verbrecherische Geschichten

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Inhaltsverzeichnis

Titel

Die Paradiesrallye

Glücksfälle

B – A – C – H

Blutstropfen

Happy Birthday

Weihnachtsengel

Ein Weihnachtspuzzle

In aller Freundschaft

Tim Peters, genannt Money

Spinnefeind

Haselmäuschen

Royal Gin Fizz

Die Mandelrussin

In Würde sterben

Mozart und die alte Frau

Spam – Botschaften von Ralph

Der Doppelgänger

Totensonntag

Heim der Hundertjährigen

Sonnenwende

Weitere Krimis und Kurzgeschichtensammlungen von Eva Markert

Impressum neobooks

Die Paradiesrallye

Der Reklamezettel lag in seinem Briefkasten. „Paradiesrallye“, las Timo. „Ein Ausflug der besonderen Art, für Einzelpersonen oder Gruppen, perfekt organisiert. Lassen Sie sich überraschen und verwöhnen!“

„Überraschen und verwöhnen“, dachte er, „das klingt nicht schlecht. Ich rufe einfach mal an!“

Er wählte die angegebene Nummer.

„Paradiesrallye, guten Tag.“ Die Stimme der Frau am Telefon war dunkel und leicht kratzig, der Tonfall geschäftsmäßig freundlich.

„Guten Morgen“, sagte Timo, „ich interessiere mich für Ihr Angebot.“

„Handelt es sich um eine Gruppe?“

„Nein, ich bin allein.“

Timo hörte ein heiseres, sinnliches Lachen. Er stellte sich die aufregende Frau vor, der diese Stimme gehörte.

„Alleinstehende Herren, das ist unsere Spezialität.“

„Ich wüsste gern Genaueres über diese Rallye.“

„Tut mir leid“, sagte die Stimme, „nähere Auskünfte möchte ich Ihnen nicht geben. Es ist spannender für Sie, wenn Sie nicht wissen, was Sie erwartet. Nächsten Freitag zum Beispiel hätten wir etwas frei. Ginge das?“

„Ja, Freitag passt mir gut.“

„Überweisen Sie umgehend die Teilnahmegebühr und halten Sie sich Freitag ab sechzehn Uhr bereit. Wir rufen Sie an.

„Muss ich sonst noch etwas wissen?“

„Bringen Sie Ihr Handy mit. Und noch etwas: Wir ziehen es vor, wenn unsere Herren gut gekleidet sind.“

Am Freitag stach die Sonne vom Himmel. Timo trug seine Edeljeans und dazu ein leichtes, hellblaues Hemd, das seine blauen Augen besonders zur Geltung brachte. Er hoffte, dass dieser Aufzug den Vorstellungen der Dame mit der erotischen Stimme entsprach.

Als um Punkt vier das Telefon klingelte, beschleunigte sich sein Herzschlag.

„Guten Tag“, sagte die raue Stimme, „sind Sie bereit?“

„Ja.“

„Die erste Station Ihrer Rallye ist der Gartenmarkt Blumenparadies im Zentrum. An der Kasse erhalten Sie weitere Instruktionen. Und nun wünsche ich Ihnen viel Vergnügen!“

Timo kämmte sich noch einmal durch sein festes blondes Haar und machte sich auf den Weg.

Die Luft im Blumenparadies war feucht und stickig und es roch leicht modrig. Menschen zwängten sich durch Gänge vorbei an Topfpflanzen und Blumenkübeln. Die Kasse befand sich gleich neben der Tür.

Timo lächelte die Kassiererin charmant an. „Bekomme ich von Ihnen die nächsten Anweisungen für die Rallye?“

„Was für eine Rallye?“

Das Lächeln schwand aus seinem Gesicht. „Die Paradiesrallye.“

Die Frau blickte ihn von oben bis unten an. „Davon weiß ich nichts.“

Kunden warteten in einer langen Schlange an der Kasse. Timo spürte ihre Ungeduld. Plötzlich kam er sich lächerlich vor. „Man hat mir gesagt, dass ich hier weitere Informationen bekomme.“

Die Frau zuckte die Schultern und griff nach den Geranientöpfen, die auf dem Laufband standen.

Unschlüssig stand Timo da. Sollte er umkehren? Er beschloss, noch einen Augenblick zu warten. Da tippte ihn jemand auf die Schulter. Ein Mann mit einer dunklen Sonnenbrille reichte ihm eine Rose, an deren Stängel eine Karte befestigt war.

„Warten Sie!“, rief Timo, aber der Mann war bereits im Gewühl untergetaucht.

Auf der Karte stand: „Bravo! Sie haben Geduld bewiesen und damit die erste Probe bestanden. Wenn es Ihnen gelingt, den Schlüssel zu erkämpfen, werden Sie den Pforten des Paradieses ganz nah sein. Bringen Sie nun diese Rose zum Paradiesapfel.“

Der Paradiesapfel war eine exklusive und sehr diskrete Bar ganz in der Nähe. Timo dachte unwillkürlich an Gina und seufzte. Dort war ihr Treffpunkt gewesen. Er hatte sie gemocht. Am meisten von allen.

Er atmete auf, als er aus der grellen Hitze der Straße in das gedämpfte Licht des vollklimatisierten Lokals trat. Im Hintergrund spielte leise Musik. Außer einem Mann, der an der Bar saß, war er der einzige Gast.

„Guten Tag! Darf ich Ihnen die Rose abnehmen?“

Der Mann wusste offensichtlich, worum es ging. Er nickte dem Barkeeper zu, der ein hohes Glas mit einer giftgrünen Flüssigkeit vor Timo hinstellte. Zwei Limettenscheiben verzierten den gezuckerten Rand.

„Wenn Sie es schaffen, dieses Glas ex zu trinken, nenne ich Ihnen das nächste Ziel.“

„Kein Problem.“ Timo setzte an. Der kühle Drink schmeckte säuerlich und erfrischend. Er trank in durstigen Schlucken.

„Geschafft.“ Ihm war ein wenig schwindlig. Das Zeug hatte es anscheinend in sich!

Der Mann griff in seine Jackentasche. „Hier habe ich was für Sie.“ Er gab ihm eine Karte: „Hervorragend! Sie sind dem Schlüssel zum Paradies ein Stück näher gekommen. Gehen Sie nun zum Garten Eden.“

Garten Eden? Das kenne ich nicht.“

Der Mann zwinkerte ihm zu. „Es ist nicht weit, in der Kastanienallee. Sie werden nicht enttäuscht sein.“

Kurze Zeit später stand Timo vor einem flachen, weißen Gebäude, das etwas abseits der Straße lag. An der Eingangstür hing ein messingfarbenes Schild:

Garten Eden

Massagesalon und Saunaclub

Er läutete. Ein dunkelhaariges, exotisch aussehendes Mädchen öffnete ihm die Tür.

„Guten Tag“, sagte Timo, „ich nehme an der Paradiesrallye teil.“

Sie strahlte ihn an. „Ich bin Maja. Tritt ein. Du bist mein Gast.“

Timo sah sich in dem großzügig gestalteten Eingangsbereich um. Überall standen Grünpflanzen. Eine Treppe mit einem verschnörkelten, goldverzierten Geländer führte nach oben.

„Du darfst nun wählen“, fuhr Maja fort. „Möchtest du in unserer Sauna entspannen oder wünschst du eine Spezialmassage?“

Da brauchte Timo nicht lange zu überlegen. Natürlich wünschte er die Massage!

Maja nahm ihn mit in ein kleines, halb verdunkeltes Zimmer, das eher an den Behandlungsraum eines Masseurs erinnerte. Timo streckte sich auf der bequemen Liege aus.

Maja hatte nicht zu viel versprochen. Ihre Massage war tatsächlich sehr speziell. Mit langsamen, trägen Bewegungen kneteten ihre Hände seinen Körper. Und sie ließen keine Stelle aus. Eine Welle der Lust nach der anderen überrollte ihn. Er keuchte, bäumte sich auf, genoss so intensiv, dass er Regenbogenfarben sah.

Kurz bevor er nicht länger an sich halten konnte, ließ Maja ihre Hände sinken. Frustriert stöhnte er auf. Sie neigte sich zu ihm herunter und raunte in sein Ohr: „Du bist nun gut vorbereitet auf das, was noch kommt.“

Auf der Karte, die sie ihm zusteckte, war zu lesen: „Sie stehen kurz davor, den Schlüssel zu erringen. Suchen Sie nun das Paradies der Lüste auf die vorletzte Hürde auf Ihrem Weg.

Was für ein Zufall! Timo unterdrückte ein Grinsen. Wenn die wüssten, dass er dort Stammkunde war! Zwar entsprach der düstere, billige Sexshop nicht seinem Stil, doch er gehörte zu den wenigen Eingeweihten, denen unter dem Ladentisch diese exklusiven Videos zugesteckt wurden. Videos, die jeden Cent ihres beträchtlichen Kaufpreises wert waren. Keine Szene war gestellt, sogar das Ende echt. Er brachte sich gern damit in Stimmung, bevor er sich ins Nachtleben stürzte.

 

„Auf Wiedersehen.“ Maja steckte ihm zum Abschied eine weiße Blüte ins Knopfloch. „Dein Erkennungszeichen“, sagte sie, hauchte ihm einen Kuss auf die Wange und öffnete die Tür.

Die Straße war leer bis auf einen Mann, der auf der anderen Seite lief. Immer noch ganz benommen schlenderte Timo den glühend heißen Gehsteig entlang.

Bis zum Paradies der Lüste war es nicht weit. Timo blickte sich um. Auf keinen Fall wollte er dort gesehen werden. Es wäre zu riskant. Nicht auszudenken, wenn man ihn in Verbindung brächte mit Ginas Tod und ...

„Guten Abend!“

Er fuhr zusammen. Eine Frau mit blutrot geschminkten Lippen und wilder blonder Mähne, offenbar eine neue Verkäuferin, stand vor dem Geschäft. Mit tonloser Stimme wisperte sie: „Dieses Präsent soll ich Ihnen überreichen.“ Sie drückte ihm etwas in die Hand. „Es ist eine Spezialmischung. Wirkt garantiert.“

Auf dem Etikett war ein erigierter Penis abgebildet. Rasch wollte er die kleine Flasche in seiner Hosentasche verschwinden lassen.

„Halt“, flüsterte die Frau, „nicht so schnell! Erst wenn Sie das Fläschchen vor meinen Augen leer getrunken haben, geht die Paradiesrallye für Sie weiter.“

Sie beobachtete ihn, während er den Verschluss abdrehte und die leicht bittere, rote Flüssigkeit trank. Der Geschmack erinnerte an Cranberrysaft. Auf jeden Fall bewirkte die Mixtur etwas. Fast augenblicklich spürte Timo, wie es in seinem Unterleib warm zu pochen begann.

Die Frau gab ihm eine Karte. Hastig las er die Botschaft: „Wenn Sie die nächste Prüfung bestehen, werden Sie in den Besitz des Schlüssels gelangen – im Paradies der Sinnlichkeit.“

Diesen Namen hatte er schon mal gehört. Soweit er sich erinnerte, war das eine Peepshow in der Nähe des Hauptbahnhofs.

So zügig wie möglich eilte er die Straße entlang. Sonnenlicht stach ihm in die Augen. Der klebrige, angeschmolzene Asphalt atmete Hitze aus und die Luft stank nach Abgasen. Abgekämpfte Menschen mit schweißverklebten Haaren kamen ihm entgegen. Jeder war jedem im Weg, Gereiztheit zündelte an allen Ecken und Enden.

Suchend blickte er sich um. Da war das Schild: Paradies der Lüste. Im grellen Sonnenlicht fielen die rot blinkenden Buchstaben kaum auf.

Eine Frau fing ihn vor den Kabinen ab. Vielleicht war es dieselbe wie die vor dem Sexshop. Aber so genau hatte er nicht hingesehen. Zumindest trug sie auch einen Minirock, der ihre schlanken Beine und ihren runden Po auf vorteilhafte Weise betonte. Allerdings hatte diese Frau schwarzglänzende, kurzgeschnittene Haare. Oder war es eine Perücke?

Stumm drückte sie ihm einen tickenden Küchenwecker in die Hand und einen Zettel: „Kommen Sie unverzüglich heraus, sobald Ihre Zeit abgelaufen ist!“

In der schummrigen Kabine vor dem erleuchteten Fenster geriet Timo wieder ins Schwitzen. Auf dieser Rallye wurde zweifellos einiges geboten. Das Mädchen auf dem mit rotem Samt gepolsterten Podest präsentierte ihren Körper in den aufreizendsten Posen. „Wenn ich bloß an sie herankäme“, dachte er, „mit ihr würde es klappen, auch ohne Tricks und harte Bedingungen.“

Jetzt hatte er den besten Blick. Das Mädchen öffnete die Schenkel langsam und unglaublich weit. Dabei lächelte sie. Er sah mitten in sie hinein. Timo konnte sich nicht länger zurückhalten. Seine Hose fiel, mit heißer Hand umschloss er seinen Penis.

Genau in diesem Augenblick schrillte der Wecker. Nein, er konnte nicht gehen. Noch nicht. Das Mädchen begann, mit dem Becken zu wippen. Er rieb schneller, schneller, fester, fester, mit aller Kraft. Sein Penis zuckte. Timo stöhnte. In hohem Bogen schoss es aus ihm heraus. Für einen Moment wurde ihm schwarz vor Augen.

Wieder draußen versuchte er tief durchzuatmen und blickte sich um. Die Frau im Minirock war fort. Seine Enttäuschung ernüchterte ihn schlagartig. Hatte er das Spiel verloren, weil er sich nicht beherrschen konnte? Musste er aufgeben, so kurz vor dem Ziel?

Auf dem Boden entdeckte er etwas silbrig Glänzendes. Ein Schlüssel! Timo hob ihn auf. Eine Karte war nicht dabei.

Er betrachtete den Schlüssel von allen Seiten. In das Metall waren die Ziffern 382 eingeprägt. Zu welchem Schloss mochte er gehören? Wie ein Haustürschlüssel sah er nicht aus. Auch nicht wie ein Briefkastenschlüssel. Aber natürlich! Das war die Lösung! Wahrscheinlich konnte man ein Schließfach damit öffnen. Der Hauptbahnhof lag ja direkt um die Ecke.

Die Großstadtmenge schob ihn zum Bahnhofsgebäude. Stockend wanden sich Reisende in Schlangen aneinander vorbei durch die Halle. Nahe den Schließfächern verliefen sich die Menschen, und in dem Gang, der zu Nummer 382 führte, war er allein bis auf einen Mann, der nicht weit von ihm vor einem Schließfach stand.

Er fragte sich, warum seine Hände so sehr zitterten, als er den Schlüssel ins Schloss des Faches 382 steckte. Leicht glitt er hinein und die Tür öffnete sich geräuschlos. Doch das geräumige Schließfach schien leer.

Nein, ganz hinten lag eine Karte: „Herzlichen Glückwunsch! Sie haben es geschafft! Gleich erhalten Sie einen Anruf und dann werden Sie die Pforten des Paradieses aufstoßen.“

„Die Pforten des Paradieses aufstoßen“, das klang vielversprechend. Er konnte sich schon denken, was das bedeutete. Und er war auch schon wieder bereit. Anders ausgedrückt: Er war haargenau in der richtigen Stimmung dafür. Eins musste man der Organisatorin mit der erotischen Stimme lassen: Die Rallye eignete sich hervorragend, um einen Mann wie ihn auf Abenteuer vorzubereiten.

Timo dachte wieder an Gina. Er liebte Frauen, die hart im Nehmen waren, und hart im Nehmen war sie. Nicht nur Gina übrigens. Aber sie war ihm die Liebste gewesen. Hätte er sich doch besser unter Kontrolle gehabt! Zum Glück wurden die Umstände ihres Todes nie vollständig geklärt. Und nicht nur ihres Todes. Die Mordserie in der Stadt erregte viel Aufsehen, doch bisher tappte die Polizei völlig im Dunkeln.

Erinnerungen schoben sich zwischen ihn und den schwarzen Schlund des Schließfaches. Sein Atem beschleunigte sich. Ab und zu musste er sie einfach spüren, diese fiebrige Erregung, wenn er mit den Fingerspitzen über einen weichen Hals strich, die Kehle fühlte und zudrückte, erst leicht, dann stärker. Er liebte es, wenn die Frau unter ihm vibrierte, sich wand in ihrer Lust, und er presste stärker, bis sie die Augen aufriss, ihm auf den Rücken schlug als Zeichen, dass es genug war, doch er ließ nicht von ihr ab, nicht sofort, sie bäumte sich auf, hatte sie einen Orgasmus?, er dehnte es länger aus, nur noch ein wenig, es war gefährlich, das wusste er, nur noch einen Augenblick, einen winzigen Augenblick, gleich würde er aufschreien, schwelgen, Erlösung würde ihn durchfluten ...

Das Klingeln seines Mobiltelefons riss ihn aus seinen Träumen. Er erkannte die Stimme sofort.

„Sind Sie so weit?“ Das heisere Lachen. „Gleich werden Sie die Pforten des Paradieses aufstoßen. Bahnhofstraße 14, dritter Stock.“

Die Leitung war tot.

Nummer 14 stellte sich als ziemlich schäbiges Mietshaus heraus. Im Treppenhaus roch es nach Zwiebeln. War er hier wirklich richtig? Eilig stieg Timo die Stufen nach oben.

Er war richtig. Maja öffnete ihm die Wohnungstür. Sie trug einen kurzen seidenen Morgenmantel und er hätte wetten können, dass sie darunter nackt war.

„Komm herein.“ Ihre Stimme klang verheißungsvoll.

Sie trat zurück. Der Seiten des Mantels klafften ein kleines Stück auseinander. Er starrte auf die dunkle Stelle, die er zwischen ihren Oberschenkeln erahnen konnte.

Sie drehte sich um und ging mit wiegenden Schritten vor ihm her. „Möchtest du vorher etwas trinken? Wasser vielleicht? Oder Wein?“

„Wasser, bitte.“

Timo sah sich um. Der Raum war sehr hell und spärlich eingerichtet. Sollte er hier wirklich die Pforten des Paradieses aufstoßen? Etwas ernüchtert ließ er sich in einen Sessel fallen.

Das Wasser, das Maja ihm brachte, war kalt und bitter, fast ungenießbar. Oder lag es an dem üblen Geschmack in seinem Mund? Nur weil er Durst hatte, stürzte er es hinunter. Maja schenkte ihm nach.

Er gähnte. Müdigkeit überfiel ihn mit einer Plötzlichkeit, die ihn überraschte. Er schaffte es nicht, dagegen anzukämpfen. Es tat so gut, den Kopf nach hinten zu lehnen und die brennenden Augen zu schließen. Nur einen Moment ...

Timo fuhr hoch. War er tatsächlich eingenickt?

Er wollte nach dem Wasserglas auf dem Tisch greifen, aber es ging nicht wegen seiner gefesselten Hände. Er sprang auf und fiel sofort in den Sessel zurück, denn seine Knöchel waren ebenfalls mit einer Schnur zusammengebunden.

Als er das kratzige Lachen hörte, sah er, dass die Frau mit der wilden, blonden Mähne und dem Minirock neben Maja stand. Die beiden kamen auf ihn zu. Ihnen folgte ein Mann. Timo kam es so vor, als ob er ihm heute schon ein paar Mal begegnet wäre. Erst jetzt bemerkte er, dass sein Sessel von Scheinwerfern ausgeleuchtet wurde.

Der Mann baute eine Kamera auf und probierte verschiedene Einstellungen aus.

„Binden Sie mich auf der Stelle los!“

Die drei Personen taten, als wäre er gar nicht da.

„Harry, hast du das Material schon überprüft?“, fragte Maja den Mann.

„Hat alles geklappt. Die Kamera, mit der ich ihn während der Rallye gefilmt habe, ist zwar winzig, aber sehr leistungsfähig.“

„Und die Aufnahmen von der Peepshow?“

Der Mann grinste. „Die sind die besten. Bisher zumindest.“

Sie lachten.

„Was soll das?“, schrie Timo.

Auf jeden Fall haben wir genug Material für einen Film.“

„Ich bring gleich alles ins Paradies der Lüste“, sagte Maja. „Die können die Szenen zusammenschneiden.“

Timo geriet immer mehr in Panik. „Hören Sie auf damit!“

„Ich wär’ dann so weit.“ Ungerührt stellte Harry die Kamera an. „Und los!“

Maja schritt mit wiegenden Hüften auf Timo zu, bis ihre Beine seine Knie berührten. Sie entblößte ihn. Dann ließ sie langsam ihren Morgenmantel zu Boden gleiten. „Nun wirst du die Pforten des Paradieses aufstoßen.“ Sie lächelte, spreizte ihre Schenkel und setzte sich rittlings auf seinen Schoß. Mit geschickten Fingern machte sie sich an ihm zu schaffen, wippte in rhythmischen Bewegungen auf und ab und rieb sich an ihm, während der Mann um den Sessel herumlief und filmte.

„Gefällt es dir, gefesselt zu sein?“ Ehe er antworten konnte, beugte sie sich über ihn und stieß ihm ihre Zunge in den Mund.

Die Kamera surrte.

„Lassen Sie mich!“, würgte Timo und versuchte, Maja abzuwehren.

„Scheiße!“, fluchte Harry.

„Das macht nichts. Wir schneiden es später raus“, meinte die Frau mit der kratzigen Stimme.

Timo versuchte zu schreien und den Kopf wegzudrehen.

„Scht!“ Majas kleine feste Hand legte sich auf seinen Mund. „Sei still! Das Paradies wartet.“

Mit einem Mal krallten sich ihre Finger um seinen Hals und drückten mit erstaunlicher Kraft zu. Er zappelte, trat um sich, seine Augen quollen hervor, er bäumte sich auf. Doch es war sinnlos. Er musste sich ihr überlassen. Noch einmal dachte er an Gina. Und an all die anderen. Dann verschluckte ihn Dunkelheit.

Glücksfälle

Die Umstände waren für Gerrit ausgesprochen günstig.

Da war zum Beispiel der glückliche Zufall, dass sein Bruder Frank ein Bein in Gips hatte. Dass er sich das Bein ausgerechnet im Sommer gebrochen hatte, war ein weiterer Glücksfall. Und dies waren nicht die einzigen glücklichen Fügungen ...

Die Vorbereitungen waren denkbar einfach. Zunächst brauchte er ein starkes Schlafmittel. Kein Problem. Er hatte ein ganzes Arsenal davon in seinem Medizinschrank. Sein Arzt war beim Verschreiben von Medikamenten noch nie zimperlich gewesen.

Der Rest war ebenfalls ein Kinderspiel. Alles, was er noch benötigte, waren Gläser, Limonade, Bierdeckel, ein wenig Zucker und eine Zeitung.

Als er morgens aufwachte und sah, dass es ein warmer, sonniger Spätsommertag werden würde, beschloss er spontan, dass Franks letzter Lebenstag angebrochen war. Allzu lange durfte er sowieso nicht mehr warten, denn der Gips sollte bald abgenommen werden.

Es würde ein glücklicher Tag werden, das spürte er, obwohl er sich nicht besonders fit fühlte. Seit gestern Abend kribbelte seine Nase und er hatte leichte Kopfschmerzen.

Egal. Der Tag der Freiheit war gekommen. Er würde endlich den ungeliebten Job in der Papierfabrik aufgeben und Pferde züchten können. Pferde waren seine Leidenschaft. Nur in der Welt der Rennställe und Rennbahnen fühlte er sich wirklich zu Hause. Und der Pferdewetten, natürlich.

 

Frank hatte nie Verständnis für diese Vorliebe gehabt, genauso wenig wie Vater. Die beiden waren sowieso immer ein Herz und eine Seele gewesen. Frank begriff auch nicht, wie jemand sein ganzes Erbe bei Pferdewetten verlieren konnte. Er selbst hatte im Laufe der Jahre seinen Anteil an dem beträchtlichen Vermögen, das Vater ihnen hinterlassen hatte, vervielfacht.

Was für ein Glück, dass Frank keine Erben hatte - außer ihm.

Als er in der Villa im Grünen ankam, ruhte sein Bruder im Wohnzimmer auf dem Sofa. Sein Handy hatte er neben sich auf den Tisch gelegt.

Gerrit setzte sich zu ihm. Auf dem Tisch stand eine halbvolle Karaffe mit Eistee, und in einem geeigneten Augenblick ließ Gerrit mehrere starke Schlaftabletten hineinfallen. Sie zerfielen sofort. Glücklicherweise war sein Bruder durstig. Zufrieden sah Gerrit zu, wie er sein Glas füllte und in einem Zug leerte. Kurz darauf schlief er ein, ohne etwas gemerkt zu haben. Nun, er würde lange schlafen, sehr lange ...

Schnell lief Gerrit in den Garten, aber nicht, ohne vorher die Krücken ins Nebenzimmer zu bringen und das Handy neben Franks Bett zu legen.

Im hinteren Teil des Gartens packte er die Gläser aus, goss ein wenig Limonade hinein und wartete. Schon bald war eine große Wespe in das erste Glas hineingeflogen. Sie schwebte über der klebrigen Flüssigkeit und summte laut und böse. Ein wahres Prachtexemplar! Ruhig deckte Gerrit das Glas mit einem Bierdeckel ab und wartete weiter.

Alles wäre perfekt, hätte er nur nicht diesen lästigen Schnupfen. Seine Nase war inzwischen völlig verstopft, und in seinem Schädel hämmerte der Schmerz.

Als er fünf Wespen gefangen hatte, nahm er die Gläser und trug sie vorsichtig auf einem kleinen Tablett zurück ins Haus. Er grinste, als er an den letzten, den alles entscheidenden Glücksfall dachte. Frank war nämlich allergisch gegen Wespengift. Sein letzter Wespenstich war ihm gar nicht gut bekommen. Der Arzt hatte ihn damals gewarnt. Bei einem weiteren Stich würde er in Lebensgefahr geraten. Einen anaphylaktischen Schock nannte man das. Ohne ärztliche Hilfe oder seine Notfallausrüstung war Frank verloren.

Als Gerrit ins Wohnzimmer zurückkam, schlief sein Bruder einen todesähnlichen Schlaf. Sein Unterkiefer hing herunter und Speichel rann aus einem Mundwinkel auf das Kissen. Sein Schnarchen klang wie ein Röcheln.

Die dem Sofa am nächsten gelegene Tür schloss Gerrit vorsichtshalber von außen ab. Es wäre doch zu schade, wenn Frank im letzten Augenblick entwischen würde! Dann stellte er die Gläser auf den Tisch neben dem Sofa und nahm die Bierdeckel ab. Den Zucker, den er mitgebracht hatte, verteilte er auf dem Kissen.

Bald summten alle fünf Wespen um Franks Kopf herum. Mit einer Zeitung versuchte er, sie wütend zu machen und am Wegfliegen zu hindern. Frank schlief weiter. Nur einmal stöhnte er auf und bewegte sich unruhig.

Verdammt! Gerrit räusperte sich ausgiebig. Seine Erkältung wurde immer schlimmer. Wenn doch wenigstens die Nase frei wäre! Sein Hals fühlte sich schon ganz wund und trocken an, weil er immer durch den geöffneten Mund atmen musste.

Aber – was war das? Um Franks Kopf herum flogen plötzlich nur noch vier Wespen. Gerrit schluckte und wusste im gleichen Augenblick, dass es ein Fehler war. Er würgte gegen einen Widerstand an und fühlte den stechenden Schmerz im Hals. Heiser schrie er auf.

Seine Gedanken rasten. Er brauchte Hilfe. Sofort! Aber vorher musste er die Wespen einfangen, nein, lieber nur die Gläser und Bierdeckel verschwinden lassen. Und den Zucker vom Kissen bürsten. Er keuchte, rang nach Luft. Wie lange würde es dauern, bis sein Hals ganz zugeschwollen war?

„Frank! Hilf mir!“, krächzte er.

Frank fuhr hoch und erfasste sofort die tödliche Gefahr, in der er und sein Bruder sich befanden. Seine Schlaftrunkenheit war mit einem Schlag wie weggewischt. Er wollte nach dem Handy greifen, doch auf dem Tisch standen nur die Gläser. Er sah sich nach seinen Krücken um und fand sie nicht. Schließlich kroch er auf allen vieren zur Tür. Aber die war abgeschlossen.

Eine Wespe summte laut an seinem Ohr vorbei. Mit einem Griff riss er die Wolldecke vom Sofa, kauerte sich zusammen und hängte die Decke über seinen Kopf, sodass er ganz darunter verschwand.

Gerrit taumelte zur zweiten Tür Seine Beine trugen ihn kaum, als er ins Schlafzimmer wankte, um mit Franks Handy Hilfe zu holen. Ihm war alles gleichgültig. Er wollte nur noch eins: leben.

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