Read the book: «Kunst des Historismus»
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Eva-Maria Landwehr
Kunst des Historismus
BÖHLAU VERLAG KÖLN WEIMAR WIEN · 2012
Dr. Eva-Maria Landwehr ist Kunsthistorikerin in Düsseldorf.
Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek:
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar.
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Alle Rechte vorbehalten. Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt.
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Einbandgestaltung: Atelier Reichert, Stuttgart
Satz: synpannier. Gestaltung & Wissenschaftskommunikation, Bielefeld
Druck und Bindung: AALEXX Buchproduktion GmbH, Großburgwedel
Gedruckt auf chlor- und säurefreiem Papier
Printed in Germany
UTB-Band-Nr. 3645 | ISBN 978-3-8252-3645-8
Inhaltsverzeichnis
Cover
Impressum
Inhaltsverzeichnis
1. Einleitung
2. Bürgertum: Stil für alle
Übergang der Institutionen und Architekturtypologien vom Adel auf das Bürgertum
Städtebau: Der Bürger löst die ordnende fürstliche Hand ab
Rathäuser und Bürgerstolz
Technik trifft auf Tradition: die Eisenbahn
Bürgerliche Wohnkultur
Von der Demokratisierung der Historienmalerei zur Aristokratisierung des Künstlers
3. Adel: Nostalgie als Notwendigkeit
Stadtresidenzen im Wandel
Ländliche Residenzen und Schlösser
Parkarchitekturen und Burgen‚romantik‘
Interieur
Memoria
Adel in Konkurrenz zum Adel
Denkmäler
Adel in Frankreich und Italien
4. Nation: Gibt es den Einheits-Stil?
Nation, Nationalbewusstsein und Aspekte des nationalen Historismus
Die Kirche als Nationaldenkmal
Wien und die Suche nach einem Nationalstil
Nationalmuseen
Eroberer und Eroberte
5. Kirche: Vorwärts in die Vergangenheit
Kirche und Kirchenbau im 19. Jahrhundert
Die Gotik: das Perpetuum mobile der Stile
Alternativen gesucht: Der ‚Gänsemarsch‘ der Stile von der Gotik zum Barock
Die sakrale Monumentalmalerei: Propaganda für das Papsttum
Synagogen im Spannungsfeld zwischen Assimilation und Selbstbehauptung
6. Theorie und Praxis
Gotik und Neugotik
Renaissance und Neurenaissance
Rundbogenstil, Romanik und Neuromanik
Barock und Neubarock
Architektur und Technik
Kunsthandwerk und Kunstgewerbe
Historienmalerei
Bibliografie
Abbildungsnachweise
Namens- und Ortsregister
Rückumschlag
1. Einleitung
„Und es stellte sich heraus, daß auch die Stillosigkeit ein Stil ist“ – dieses unbarmherzige Urteil formulierte Egon Friedell in seiner erstmals 1927 – 31 erschienenen „Kulturgeschichte der Neuzeit“ (Friedell 2003, S. 1300). Auch wenn dieser Satz sich zunächst wie das Ende eines Märchens liest, verstand sich Friedell keineswegs als Märchenonkel – nein, er war ein überaus sarkastischer und bissiger Analytiker und ließ kein gutes Haar an der historisch aufgefassten Kunst vor allem der Siebziger- und Achtzigerjahre des 19. Jahrhunderts. Und damit verteidigte er nicht etwa eine singuläre oder gar abwegige Position: „Stillos und charakterlos“ sei das 19. Jahrhundert, eben eine reine „Uebergangsperiode“, so lautete ein weiteres Urteil von Heinrich Schroers bereits aus dem Jahr 1896 über die künstlerischen Leistungen des eigenen Jahrhunderts – und damit auch der Gegenwart (Schroers 1896, Sp. 239f.). Hermann Muthesius stellte dann 1903 fest, dass dem 19. Jahrhundert der Wille zum Stil gänzlich abhanden gekommen sei: „Früher gab es keine Stile, sondern nur eine gerade herrschende Kunstrichtung, der sich mit völliger Selbstverständlichkeit alles unterordnete. Erst im neunzehnten Jahrhundert wurde die Menschheit aus diesem künstlerischen Paradies vertrieben (…)“ (Döhmer 1976, Zitat S. 81).
Zu den Charakteristika, die der historistischen Kunst von ihren Schöpfern zugeschrieben wurde, zählte gegen Ende des 19. Jahrhunderts jedoch überraschenderweise an erster Stelle eine ausgeprägte Modernität und Eigenständigkeit. Historistisch arbeitende Architekten zum Beispiel betrachteten ihre Entwürfe und Bauwerke als autarke Leistungen, die sie in der Überzeugung bestärkten, der Vergangenheit technisch überlegen zu sein. Dabei waren es vor allem die neuen Baumaterialien wie Eisen und Zement gewesen, die Konstruktionen möglich machten, die, so wörtlich, „für die Alten unausführbar gewesen wären“ (München und seine Bauten 1912, S. 210).
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Könnte man also die historistische Kunst des 19. Jahrhunderts als eine Fleisch gewordene Persönlichkeit betrachten, dann würde ihr die Psychologie des 21. Jahrhunderts mit großer Wahrscheinlichkeit ein ernsthaftes Identitätsproblem und wohl auch ein ausgeprägtes neurotisches Potenzial attestieren. Das Gesamturteil über den Historismus in der Kunst vor allem der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts präsentiert sich als eine kuriose Mischung aus einerseits selbstbewussten und wohlwollenden, andererseits zutiefst verächtlichen Meinungsäußerungen. Der Tenor dieser Aussagen zum Stildilemma ihrer Zeit, die sich in Hülle und Fülle aus den zeitgenössischen Quellen herausfiltern lassen, reicht von euphorischer Selbstüberschätzung über anspruchslose Zufriedenheit bis hin zu selbstquälerischer Geißelung. Besonders gegen Ende des Jahrhunderts, als die Erklärungsnot für die andauernden und immer schneller aufeinander folgenden Stilwechsel übermächtig wurde, bekam das Klagelied über die mäandernde Stilkultur des eigenen Jahrhunderts einen larmoyanten Ton, immer kürzer wurden die zeitlichen Abstände, in denen man sich mit einer historischen ‚Erklärung‘ für den Einsatz eines bestimmten Stils zufriedengab. Große Befürchtungen in ästhetischer Hinsicht weckte die fehlende Verbindlichkeit in Stilfragen, verbunden mit der Sorge, der Stilpluralismus könnte einer haltlosen Beliebigkeit Vorschub leisten, die tradierte symbolische oder ikonologische Aussagewerte ignorierte.
Über mangelnde Abwechslung hatte das 19. Jahrhundert generell nicht zu klagen, kein anderes Jahrhundert war so reich an rasch aufeinander folgenden Umbrüchen und Wandlungen. Beginnend mit der Französischen Revolution noch im 18. Jahrhundert waren sämtliche Gesetzmäßigkeiten, seien sie gesellschaftlicher, politischer, konfessioneller oder wirtschaftlicher Natur, zuerst auf den Prüfstand und dann auf den Kopf gestellt worden. Vor allem die Industrialisierung hatte für den größten Teil der Bevölkerung tiefgreifende Änderungen mit sich gebracht: einerseits wirtschaftliche Liberalisierung und Aufstiegschancen, andererseits Landflucht, explosionsartiges Städtewachstum und millionenfache Hoffnungslosigkeit des Proletariats.
Karl-Heinz Klingenburg hatte bereits 1985 konstatiert, dass die Ambivalenz der zeitgenössischen Meinung hinsichtlich des Historismus daraus resultiere, dass dieser angesichts seines vergangenheitsorientierten
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Hintergrunds ein „Gegengewicht“ zur zukunftsgewandten Industriellen Revolution bilde, in der direkten Gegenüberstellung aber logischerweise auch deren veraltetes „Absurdum“ darstelle (Klingenburg Nachdenken über Historismus 1985, S. 26). Diese Zerrissenheit hatte der Engländer Augustus Pugin angesichts der beängstigend weit fortgeschrittenen Industrialisierung mancher englischer Städte bereits im Jahr 1836 in einem Stahlstich zusammengefasst, der eine fiktive europäische Stadt in den Jahren 1440 und – prospektiv – 1840 zeigt. Die wohlgeordnete und friedliche mittelalterliche Siedlung steht einem von Fabrikgebäuden und rauchenden Schornsteinen dominierten Konglomerat aus lieblosen Behausungen gegenüber. Das prominent im Vordergrund platzierte Gefängnis und eine verwahrloste Kirche symbolisieren den allgemeinen Verfall der Werte. Man muss nicht lange spekulieren, welche der beiden Städte Pugins Idealvorstellung entsprach: Der Wunsch, das Rad der Zeit Richtung Mittelalter zurückdrehen zu können, gehörte zu den utopischen Sehnsüchten, die nicht umsonst einige Ähnlichkeit mit dem Eskapismus und der Bereitschaft zur Realitätsflucht aufwiesen, die man später mit der Person des bayerischen ‚Märchenkönigs‘ Ludwig II. verbinden sollte.
John Soane führte im Jahr 2007 konzise aus, wie sehr der Umgang mit dem historischen Erbe auch von der Ahnung beeinflusst war, dass die Vergänglichkeit und der Schwund dieser Hinterlassenschaft in sehr hohem Maße von eben jener Industrialisierung forciert werden würde. Es ging also um eine fundamentale und irreversible Veränderung der umgebenden Welt, die so rasch vonstatten ging, dass der Mensch zu einer ebenso zügigen Aufarbeitung der sich in Auflösung befindlichen Vergangenheit gezwungen war: „War es möglich, dass diese wachsende Verehrung der Vergangenheit nicht nur eine Gegenströmung im neuen Zeitalter der Industrialisierung war, sondern ein wesentliches Element ihrer selbst? War eine gesteigerte Wahrnehmung der kulturellen Errungenschaften der Vergangenheit nur vor dem Hintergrund einer sich schnell ausbreitenden Modernität möglich?“ (Soane 2007, S. 290). Voraussetzung für einen solchen, groß angelegten empirischen Ansatz war die sich durchsetzende Überzeugung, dass alles menschliche Tun und Handeln – auch und vor allem der Gegenwart – nur unter Einbeziehung des ‚Davor‘, also durch die Aufarbeitung historischer Zusammenhänge
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erklärbar sei. Für die Gewinnung einer möglichst komplexen Vorstellung von der Vergangenheit war es daher notwendig, alle verfügbaren geschichtlichen Quellen und Zeugnisse unter wissenschaftlichen und damit wertungsfreien Bedingungen zu sammeln und wie ein Mosaik zusammenzufügen. Die Vergangenheit galt zwar faktisch als abgeschlossen, behielt aber ihre ideelle ‚zeitlose‘ Bedeutung und Eigenständigkeit bei. Auf diese Weise wurde die Gegenwart durch ein ‚Mehr‘ an potenziellen Existenz-Entwürfen bereichert und gleichzeitig vorausschauend das Rüstzeug für die Zukunft bereitgestellt. Besondere Anschaulichkeit und Wirkung hatten naturgemäß architektonische Zeugnisse oder auch Denkmale, die für jedermann durch ihre bloße Existenz unübersehbar waren. Der Schutz dieser Monumente und die Anerkennung ihres historischen Dokumentationswertes führten – nach der Überwindung der eher dogmatisch-puristischen Anfänge – letztendlich auch zur gesetzlichen Verankerung der heutigen Denkmalpflege.
Soziologisch betrachtet war der Historismus also ursprünglich ein „Orientierungsversuch“ und zeugte von der „Suche nach einer kulturellen Identität des industriellen Subjekts“, wie es Gert Selle treffend formuliert hat (Selle 2007, S. 66). Dass man dabei von der Vergangenheit nicht die klaren Antworten bekommen würde, die man sich erhofft hatte, wusste bereits Cornelius Gurlitt, der die Begleiterscheinungen dieser Odyssee – Verwirrung und Orientierungslosigkeit, aber auch Selbstgerechtigkeit und Anmaßung – schon 1899, also am Vorabend der historischen Jahrhundertwende, folgendermaßen einzuordnen versuchte: „Die Geschichte soll unsere Lehrmeisterin sein. Mir will aber scheinen, als sei sie die allerundeutlichste und verworrenste Lehrerin, die man sich denken kann. Jeder hält in ihr für wahr, was ihm paßt; (…)“ (Gaethgens / Fleckner 1996, Zitat S. 372). Tatsächlich konnte der unbedingte Wunsch nach einer ‚stimmigen‘ Vergangenheit dazu führen, dass man sich angesichts einer äußerst lückenhaften, oder schlimmer: nicht existenten Quellenlage zu gewagten, weil attraktiven Geschichtskonstruktionen hinreißen ließ. Eric Hobsbawm bezeichnete dieses kreative Modell, das vor allem bei der Herausbildung der Nationalstaaten zum Einsatz kam, als „invention of traditions“ (Csaky 1996, Zitat S. 27). Unter diesen Vorzeichen erhielt zum Beispiel die Stadt Worms im letzten Viertel des 19. Jahrhunderts
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durch den damaligen Stadtbaurat Karl Hofmann eine neuromanische Prägung, die sich daraus ableitete, dass die zur Zeit der Völkerwanderung im 4./5. Jahrhundert spielende Geschichte der Nibelungen erst im 13. Jahrhundert ihre bis heute gültige Fassung erhalten hatte. Als Kontrastprogramm zu dieser scheinbar bedenkenlos erfundenen Geschichtskulisse kann andererseits die Ernsthaftigkeit gelten, mit der die Diskussion um Motive für neue Glasfenster im Ordensschloss Marienburg in Westpreußen geführt wurde. Karl Friedrich Schinkel, der ab 1817 an den Planungen und Restaurierungsmaßnahmen beteiligt war, protestierte damals vehement gegen die Unterschlagung der für den Deutschorden wenig ruhmreichen, weil verlorenen Schlacht von Tannenberg. Er warnte eindringlich vor einer „selbstsüchtigen und eitelen Zeit“, die sich durch kurzsichtige historische Augenwischerei letztendlich nur selbst beschädigen und deswegen wenig Bestand haben würde (Brix / Steinhauser Geschichte im Dienst 1978, Zitat S. 252f.).
Vor dem Hintergrund all dieser Widersprüchlichkeiten mag die Erkenntnis überraschen, dass sich hinter diesem vermeintlich universellen Chaos im 19. Jahrhundert durchaus ein System verbarg: Denn statt einer Vergangenheit für wenige gab es nun Geschichte für alle – wesentlich war die historische Verankerung, die die Interpretationsmöglichkeiten für die Gegenwart bereitstellte. Das 19. Jahrhundert befand sich mit seiner historisierenden Kunst in bester Gesellschaft, denn bereits in den Jahrhunderten zuvor war die Geschichte immer wieder ein unerschöpflicher Quell der Inspiration gewesen, wenn es darum ging, die Vergangenheit für gegenwärtige Zwecke zu reaktivieren: Rückgriffe auf historische Stilepochen gab es seit der Antike, so zum Beispiel im frühen Mittelalter die sogenannte „Karolingische Renaissance“, oder auch die Gotizismen, die sich in der Sakralarchitektur fast durchgehend bis ins 20. Jahrhundert erhalten haben. Die Kunst dieser ‚renovationes‘ unterschied sich vom Historismus des 19. Jahrhunderts jedoch ganz grundsätzlich: Diente bis dato die Wiederbelebung einer ganz bestimmten Zeitspanne der Geschichte und deren Kunst ausschließlich dazu, Ansprüche einer elitären weltlichen oder geistlichen Führungsschicht zu reklamieren, etablierte sich nun ein pluralistisches Stilverständnis auf der Grundlage eines sowohl historisch als auch gesellschaftlich stark erweiterten Spektrums. Der Historismus
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in der Kunst basierte nicht auf der reinen Wiederholung der Form, sondern auf den assoziativen und evokativen Eigenschaften der einzelnen historischen Stile, deren museale Atmosphäre durchaus gewünscht war.
Entscheidend ist also das pluralistische Stildenken und -handeln des 19. Jahrhunderts, das schließlich mit der begründeten Wahl eines Stils für eine bestimmte architektonische oder gestalterische Aufgabe die Vorwürfe entkräftete, es handelte sich um einen rein ästhetischen Eklektizismus. In einem nie dagewesenen Ausmaß fand eine Schärfung des Geschichtsbewusstseins statt, das alle Bevölkerungsschichten und Institutionen erfasste. So unterschiedlich die Auftraggeber oder Käufer der geschichtsbezogenen Bauten und Kunstwerke waren, so unterschiedlich waren auch die Motive, die sie ihre jeweilige Wahl treffen ließen. Romantische Sehnsucht nach der Vergangenheit bildete ebenso den Ausgangspunkt wie Nationalstolz oder Restaurationsgedanken. Aufsteiger eroberten Terrain, Etablierte sahen sich gezwungen, Rechte und Privilegien verteidigen zu müssen.
So weckte der Zugriff auf die Vergangenheit im Bürgertum des 19. Jahrhunderts keine wirklich neuen Wünsche, sondern erfüllte bereits lange Zeit latent vorhandene Sehnsüchte nach einer gehobenen Form von Zugehörigkeit. Zwar herrschte im 19. Jahrhundert ein nach wie vor ausgeprägtes Klassenbewusstsein, doch die gesellschaftlichen Membranen waren partiell durchlässig geworden und machten dadurch individuelle Lebensentwürfe grundsätzlich umsetzbarer. Dieser neugewonnene gesellschaftliche Radius erweiterte auch den kulturellen Spielraum des Individuums.
Die Konkurrenz und die Bedrohung, die von der neuen bürgerlichen Wahlfreiheit ausgingen, waren deutliche Warnsignale für den Adel: Historisch ‚saturiert‘ war er wohl in seinem klassenspezifischen, nicht aber in seinem traditionellen Selbstverständnis erschüttert. Sich neu zu erfinden lag der Aristokratie fern, sie vertraute vielmehr auf die Konservierung des verbliebenen Ansehens, welches die Existenzberechtigung und Attraktivität des Adelsstandes erhalten und für die Zukunft bewahren helfen sollte. Die Pfunde, mit denen der Adel bei seinem Bemühen um Statussicherung wuchern konnte, waren unbestreitbar seine spezifische Familientradition, seine beeindruckende genealogische und historische Verwurzelung, sein kulturelles Mäzenatentum und – für jedermann
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sichtbar – seine architektonischen Hinterlassenschaften in Form von Burgen und Schlössern.
Die Nation wiederum zählte zu den größten Errungenschaften des 19. Jahrhunderts. Getragen vom Gedanken an eine verbindende, miteinander geteilte Identität auf der Basis einer gemeinsamen Vergangenheit, präsentierte sich dieses Jahrhundert als eine Epoche der sich konstituierenden Nationalstaaten. Die Geschichte erwies sich als das stärkste Bindemittel für die Einigung meist heterogener ethnischer Gruppen unter dem Dach der Nation: Um wirkmächtig zu werden, musste der Einheitsgedanke von einer breiten Öffentlichkeit getragen werden, an deren nationale Gefühlswelt bevorzugt durch monumentale Denkmäler mit historischem Bezug und historisierender Gestaltung appelliert wurde.
Die Kirche beziehungsweise die führenden Religionsgemeinschaften fanden sich nach der Säkularisation und später nach dem Kulturkampf bedrohlichen Modernisierungsprozessen ausgesetzt. Während sich die Katholiken durch einen autoritären, antiliberalen Konservativismus zu schützen suchten, profitierten die Protestanten vordergründig von der Etablierung des protestantischen Kaisertums unter preußischer Führung – Probleme mit der fortschreitenden Entkirchlichung des Lebens hatten jedoch beide Konfessionen, während das Judentum sich nicht eindeutig durchringen konnte, zwischen Assimilationsbereitschaft und Autonomiestreben zu wählen. Offensive Strategien wurden notwendig, um das verlorene Vertrauen in die Religion wiederzugewinnen – aufgrund der großen Assoziationsmöglichkeiten bot der Einsatz historischer Stile im Kirchenbau architektonische Lösungen an, die der alten Liturgie ein Gehäuse neu belebter Frömmigkeit verschaffen sollten.
Sowohl in der Theorie der Künste als auch in der Praxis eröffnete das 19. Jahrhundert den bauenden und gestaltenden Berufen gänzlich neue Erkenntniswelten und stellte damit deutlich erhöhte Forderungen an deren Flexibilität und Innovationsbereitschaft. So schuf die empirische, in der Tiefe als auch in der Breite des Gegenstandes ganz neu dimensionierte, geisteswissenschaftliche Aufarbeitung der Stilepochen eine unverzichtbare Grundlage für ein fundiertes und rational erfasstes historistisches Entwerfen. Zusätzlich revolutionierten technische und materialbezogene Neuerungen ebenso wie ausbildungsbezogene Umstrukturierungen die
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akademische und praktische Welt der Kunstschaffenden und Kunstrezipienten gleichermaßen.
Die Frage nach der Motivation, einen ganz bestimmten Stil zu rezipieren und für die Gegenwart zu adaptieren, ist mit Sicherheit problematisch. Steht der heutige Betrachter vor einer semantischen Kunst, die von den konfessionellen, gesellschaftlichen und auch politischen Gegebenheiten ihrer Entstehungszeit erzählt? Oder ist das 19. Jahrhundert eine Epoche der beliebig reanimierten, rein dekorativ eingesetzten Neostile? Hinter jeder neugotischen Kirche eine ikonologische Botschaft zu vermuten, wäre ebenso vermessen, wie diese – wahrhaft zahlreichen Sakralbauten – in ihrer Gesamtheit als seelenlose Massenware zu deklarieren.
Zweifellos aber sind die Zusammenhänge von Historismen in der Kunst mit zeitgenössischen Problematiken und Ideologien unbestreitbar. Es gilt also, Einzelfälle mit einem geschärften Blick zu betrachten und darzustellen, auf welche Weise und in welchem Umfang historische Stile für die Kunst des 19. Jahrhunderts und damit im Interesse ihrer Rezipienten instrumentalisiert wurden. Eine systematische Aufgliederung in Auftraggeber-Gruppen beziehungsweise Trägerschichten versucht der gesellschaftlichen Bedeutung des Themas gerecht zu werden und vor allem die Wahl des für die jeweilige ‚Botschaft‘ geeigneten Stils transparenter und verständlicher zu machen. Eine Gewichtung der vorgestellten Beispiele zugunsten der Gattungen Architektur und Denkmal ergab sich aus der öffentlichen Präsenz und Sichtbarkeit dieser Monumente, deren narratives Potenzial naturgemäß größer ist als dies bei Kunstwerken möglich wäre, die ausschließlich für einen eng begrenzten Rezipientenkreis geschaffen wurden. Zu den Zwängen, denen eine knappe Übersichtsdarstellung wie die vorliegende unterworfen ist, gehört auch die Notwendigkeit, aus Platzgründen auf eine enzyklopädische Behandlung des Themas zu verzichten. Für die Architektur bedeutet das zum Beispiel, dass Bauten wie Parlamente oder auch Gerichtsgebäude zugunsten anderer funktionaler Gebäudetypen nicht berücksichtigt werden konnten.
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